Année politique Suisse 1997 : Eléments du système politique / Problèmes politiques fondamentaux et conscience nationale
 
Totalrevision der Bundesverfassung
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Verfahren
Das Parlament wird sich erst 1998 mit der Totalrevision der Bundesverfassung auseinandersetzen. Bereits im Berichtsjahr regelte es aber eine Verfahrensfrage für die Durchführung der Volksabstimmungen zu dieser Reform. Die Verfassungskommission des Nationalrats hatte dazu mit einer parlamentarischen Initiative zwei nur für diese Totalrevision gültige Neuerungen beantragt. Die erste sieht vor, dass dem Volk nicht nur ein einziger Entwurf, sondern gleichzeitig auch Varianten zu einzelnen Bestimmungen vorgelegt werden können. Damit soll einerseits der Gestaltungsspielraum der Bürger ausgedehnt werden, vor allem aber soll vermieden werden, dass die ganze Revision der Opposition zu einer einzelnen Bestimmung zum Opfer fällt. Innerhalb eines Revisionspaketes sollen aber höchstens zu drei Bestimmungen Varianten vorgelegt werden dürfen. Die zweite Neuerung soll dem Parlament erlauben, zu wichtigen Grundsatzfragen bereits vor dem definitiven parlamentarischen Entscheid eine Volksabstimmung (auch mit eventuellen Varianten) durchzuführen, deren Ergebnis dann für das Parlament verbindlich ist [41].
Die SVP, die FDP und die FP bekämpften im Nationalrat diese Vorschläge mit dem Argument, dass sich damit das Parlament aus der Verantwortung schleiche. Zudem werde damit für den Bürger der Entscheid nicht erleichtert. Da er bei gleichzeitiger Abstimmung über die Varianten und die Gesamtvorlage nicht wisse, wie letztere dann definitiv aussieht, könne er diese gar nicht beurteilen. Auch Bundesrat Koller äusserte sich eher skeptisch zu Variantenabstimmungen. Seiner Meinung nach sollen sich solche auf jeden Fall auf politisch wenig umstrittene Fragen im Bereich der Verfassungsnachführung beschränken. Bei wichtigen inhaltlichen Entscheiden im Bereich der materiellen Verfassungsreform (z.B. der Erhöhung der Unterschriftenzahlen) bestünde laut Koller die Gefahr, dass eine Mehrheit das ganze Paket ablehnen würde, um auf jeden Fall nicht zu riskieren, dass eine missliebige Neuerung in Kraft tritt. Der Nationalrat beschloss mit 95 zu 45 Stimmen, auf die Vorlage einzutreten. Bei der Detailberatung dieser neuen Regelung im Geschäftsverkehrsgesetz konnte sich der von der Ratslinken bekämpfte Kommissionsantrag durchsetzen, dass bei Variantenfragen zu Themen, die in der bestehenden Verfassung bereits geregelt sind, immer dieser alte Verfassungstext einer neuen Regelung gegenüberzustellen sei. Nicht zulässig soll es in diesen Fällen sein, zwei unterschiedlich weit gehende Neuerungen einander gegenüber zu stellen. Die Befürworter dieser Lösung begründeten ihren Entscheid damit, dass sonst die Befürworter des Status quo ihre Meinung nur durch eine Ablehnung der ganzen Vorlage ausdrücken könnten.
Der Ständerat trat auf diese Vorschläge ebenfalls ein. Er lehnte aber den Beschluss des Nationalrats ab, dass bei Varianten immer die alte Verfassungsbestimmung einer Neuerung gegenübergestellt werden muss. Kommissionssprecher Rhinow (fdp, BL) argumentierte damit, dass es sonst unmöglich wäre, dort wo Konsens über eine Innovation besteht, das Volk mit einer Variantenabstimmung über das gewünschte Ausmass dieser Innovation entscheiden zu lassen. Der Nationalrat übernahm diesen Beschluss diskussionslos [42].
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Parlamentarische Verfassungskommissionen
Die Verfassungskommissionen der beiden Parlamentskammern, welche sich im Dezember des Vorjahres konstituiert hatten, nahmen Ende Januar die parallel geführte Beratung der drei Vorlagen zur Verfassungsrevision ("Nachführung", "Volksrechte" und "Justizreform") in Angriff. Beide hiessen grundsätzlich das bundesrätliche Konzept gut. Während das Eintreten auf die Nachführung unbestritten war, zeigten sich beim Paket "Reform der Volksrechte" bereits zu Beginn grundlegende Differenzen, welche ihren Grund vor allem im Vorschlag der Erhöhung der Unterschriftenzahlen für Initiative und Referendum hatten. Die nationalrätliche Kommission fällte zwar auch diesen Eintretensbeschluss einstimmig, sieben der 39 Mitglieder enthielten sich aber der Stimme. Angesichts der Umstrittenheit dieses Pakets konzentrierten sich beide Kommissionen während des Berichtsjahres auf die beiden anderen Vorlagen (A "Nachführung" und C "Justizreform"), welche sie am 21. (nationalrätliche Kommission) resp. 27. November (ständerätliche Kommission) verabschieden konnten. Sie hielten damit bei diesen beiden Teilen die terminlichen Vorgaben des Bundesrates ein [43].
Beim Paket "Nachführung" schlossen sich beide Kommissionen dem Bundesratsvorschlag für einen umfassenden Grundrechtskatalog an. Sie waren sich einig, dass in dieser Nachführung auch Platz für bestimmte konsensfähige Neuerungen sein soll. So nahmen sie ein explizites Diskriminierungsverbot auf, in dem die wichtigsten Tatbestände möglicher Diskriminierung (Rasse, Geschlecht, Religion etc.) beispielhaft aufgeführt sind. In einigen Bereichen der Grundrechte schwächte die ständerätliche Kommission die Version des Bundesrates leicht ab; so etwa bei der Garantie des Redaktionsgeheimnisses und des Streikrechts. An der von Wirtschaftsseite bekämpften Aufnahme von Sozialzielen in die Verfassung hielten beide Kommissionen fest, allerdings auch am Zusatz, dass daraus keine direkt anwendbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden können [44]. In der Gesamtabstimmung passierte die Nachführung deutlich, wenn sich auch in der nationalrätlichen Kommission fünf der neun SP-Kommissionsmitglieder der Stimme enthielten. Diese Unzufriedenheit der Linken und die über hundert Minderheitsanträge kündigten an, dass die Debatte längst nicht abgeschlossen ist [45].
Beim Paket "Justizreform" konnte in den Kommissionen ebenfalls kein Konsens gefunden werden. Unumstritten war lediglich die Vereinheitlichung des Straf- und Zivilprozessrechts. Die bürgerlichen Kommissionsmehrheiten stimmten zwar dem Grundkonzept des Bundesrates zu, das auf eine Entlastung des Bundesgerichts durch Zugangsbeschränkungen sowie durch die Stärkung der kantonalen und eidgenössischen Vorinstanzen setzt. Dieses wurde aber von der SP bis zuletzt bekämpft. Da die Linke mit ihrem Vorschlag eines personellen Ausbaus des Bundesgerichtes nicht durchdrang und zudem sich auch der von ihr bekämpfte Vorschlag des Bundesrates für die Einführung einer beschränkten Verfassungsgerichtsbarkeit durchsetzte, lehnten ihre Vertreter in der nationalrätlichen Kommission das Paket in der Schlussabstimmung geschlossen ab [46].
Beim Paket "Volksrechte" waren zu Jahresende wichtige Entscheide, wie z.B. zur Erhöhung der Unterschriftenzahl, noch offen. Die beiden zuständigen Subkommissionen hatten beantragt, auf eine Erhöhung zu verzichten [47].
Die staatspolitischen Kommissionen (SPK) beider Räte hatten in einem Zusatzbericht zur Verfassungsreform gefordert, dass in den Bereichen Parlamentsorganisation und Beziehung des Parlaments zum Bundesrat eine über die von der Regierung vorgeschlagene reine Nachführung hinausgehende Reform anzustreben sei. Sie machten dabei zu beiden Bereichen auch konkrete Vorschläge (siehe dazu unten, Teil I, 1c, Regierung, Parlament). Der Bundesrat anerkannte die Berechtigung dieses nicht neuen Anliegens und beschloss im April, ein Reformpaket "Staatsleitung" auszuarbeiten, das im Rahmen der Verfassungsreform behandelt werden soll. Dieses soll neben den beiden erwähnten Bereichen auch die Regierungsorganisation umfassen. Aufgrund früherer Entscheide sollen dabei namentlich die Zahl der Regierungsmitglieder und die Stärkung der Funktion des Bundespräsidenten im Vordergrund stehen. Bezüglich Vorgehen schlug der Bundesrat vor, sich bis zum Vorliegen dieses Pakets, welches er auf ungefähr Mitte 1999 terminierte, auf eine Nachführung der Verfassung zu beschränken und die darüber hinausgehenden Vorschläge der staatspolitischen Kommissionen zurückzustellen [48]. Die ständerätliche Kommission hielt sich an diesen Ratschlag. Die nationalrätliche Verfassungskommission erachtete hingegen dieses Tempo als ungenügend und nahm einige Vorschläge der SPK bereits in die Verfassungsnachführung auf. So hiess sie eine Kompetenzverschiebung in der Aussenpolitik gut, welche darin besteht, dass das Parlament die grundlegenden Ziele der Aussenpolitik festlegt (Art. 156). Sie stimmte ebenfalls dem neuen Instrument des Auftrags zu, welches dem Bundesrat als Richtlinie dient für die Erfüllung von Aufgaben, die in seinem Kompetenzbereich liegen (Art. 161.1 gquater) [49].
 
[41] BBl, 1997, III, S. 1321 ff. und IV, 1601 ff. (BR). Die Kantone BL, BE und SO hatten den Stimmbürgern bei der Revision ihrer Verfassungen ebenfalls Varianten vorgelegt.41
[42] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1806 ff., 2626 f. und 2911 f.; Amtl. Bull. StR, 1997, S. 1170 ff. und 1374; BBl, 1997, IV, S. 1610 f.42
[43] BBl, 1998, S. 364 ff.; NZZ, 29.1. und 3.2.97 (Arbeitsbeginn). Vgl. SPJ 1996, S. 17 ff.43
[44] Für die vollständige Zusammenstellung sämtlicher Kommissions- und -minderheitsanträge zu den Vorlagen A und C siehe BBl, 1998, S. 364 ff. Vgl. auch NZZ und TA, 23.4.97 (Diskriminierungsverbot und Redaktionsgeheimnis); NZZ, 3.9.97 (Streikrecht); TA, 6.9.97 (Sozialziele).44
[45] TA, 25.11.97; Presse vom 29.11.97.45
[46] NZZ 28.5. und 3.7.97; TA, 28.5.97; Presse vom 29.11.97. Siehe auch unten, Teil I, 1c (Gerichte).46
[47] TA, 17.5. (NR) und 14.10.97 (StR).47
[48] BBl, 1997, III, S. 1484 ff.48
[49] BBl, 1998, S. 417 und 419; NZZ, 11.7.97. Siehe im Detail unten, Teil I, 1c (Regierung, Parlament).49