Année politique Suisse 1997 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Grundsatzfragen
Der Nationalrat überwies ein von mehreren Parlamentarierinnen und Parlamentariern aller Bundesratsparteien unterzeichnetes Postulat Ratti (cvp, TI), welches anregte, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die Arbeitskosten dadurch zu senken, dass die Sozialabgaben der Arbeitgeber durch eine andere Finanzierung (beispielsweise über die Mehrwertsteuer oder eine Ressourcensteuer) ersetzt würden [1].
Der Nationalrat hiess in der Wintersession die von seiner vorberatenden Kommission beantragte Fristverlängerung für das Gesetzesprojekt Allgemeiner Teil Sozialversicherungsrecht (ATSG) gut. Dieses geht auf eine parlamentarische Initiative von alt Ständerätin Meier (cvp, LU) aus dem Jahre 1985 zurück. Nach jahrelangen Vorarbeiten, mehreren Vernehmlassungsverfahren und Stellungnahmen des Bundesrates sowie inzwischen geänderter Ausgangslage durch den Wandel in der Gesetzgebung wurde im Sommer des Berichtsjahres von einer Subkommission eine schlankere Version "ATSG light" erarbeitet, welche insbesondere das BVG nicht mehr beinhalten will, weil in den meisten Ländern der EU die betriebliche Altersvorsorge nicht der staatlichen Sozialgesetzgebung unterstellt ist. Diese letzte Version wurde von der zuständigen Kommission mit 18 zu 2 Stimmen verabschiedet. Innerhalb der nochmals um zwei Jahre verlängerten Frist wird das BSV den Entwurf und insbesondere den sehr komplexen Anhang bereinigen [2].
In der Märzsession befasste sich der Ständerat mit einem Postulat Saudan (fdp, GE), welches die Prüfung einer generellen Erwerbsausfallversicherung für die Bereiche Mutterschaft, Militärdienstleistungen und Invalidität anregte. Die kleine Kammer lehnte die zwei ersten Punkte des Postulates (Zusammenfassung der drei Versicherungsbereiche sowie Finanzierung über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 4%) ab, überwies hingegen die beiden weiteren (Prüfung der volkswirtschaftlichen Auswirkungen und einer allfälligen Einführung des Konzepts zusammen mit dem neuen Finanzausgleich). Der Nationalrat schloss sich diesem Vorgehen bei der Behandlung eines gleichlautenden Postulates Tschopp (fdp, GE) an [3].
Der vom neuen Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV), Otto Piller, präsidierte Konsultativausschuss verwaltungsexterner Kreise, der die Arbeiten von IDA-FiSo-2 (siehe unten) mit Empfehlungen begleitete, hielt seine Überlegungen in einem eigenen Bericht fest. Dieser analysierte neue, durch den gesellschaftlichen Wandel hervorgerufene soziale Risiken sowie mögliche Gegenmassnahmen. Die neu auf die Gesellschaft zukommenden Bedürfnisse sind nach Ansicht einer Mehrheit des Ausschusses nicht einfach das Resultat zufälliger individueller Umstände, sondern das Produkt eines tiefen Wandels der Lebensformen, insbesondere im Bereich der Familie und im Berufsleben. Diese stellten neue soziale Risiken dar, denen mit den Sozialversicherungs- und Sozialhilfesystemen nicht mehr angemessen begegnet werden könne. Die Veränderungen der Lebens- und Arbeitsformen führten bei immer mehr Leuten zu gesellschaftlicher Marginalisierung und Armut sowie zu Deckungslücken im Sozialschutz. Weil die verfügbaren finanziellen Mittel sogar bei Werktätigen und erst recht bei Nichterwerbstätigen nicht mehr für den Lebensunterhalt ausreichten, sollte beispielsweise das Prinzip der Ergänzungsleistungen auf Bereiche ausserhalb von AHV und IV ausgedehnt werden. Die EL würden damit zum Bindeglied zwischen dem individuellen Sozialversicherungsanspruch und der bedarfsabhängigen Sozialhilfe. Als mögliche Verbesserungen nannte der Bericht die Verankerung des Rechts auf Sozialhilfe in der Verfassung, die Verabschiedung eines diesbezüglichen Rahmengesetzes auf Bundesebene, die Harmonisierung der materiellen Bestimmungen sowie die Einführung eines Ausgleichssystems in bezug auf die zu tragenden Lasten. Als weitere mögliche Massnahmen schlug der Ausschuss unter anderem gezielte, einkommensergänzende Leistungen oder eine Abgabenbefreiung für Betriebe vor, die Arbeitnehmer mit geringer Qualifikation beschäftigen, sowie ein Impulsprogramm zur Schaffung sogenannt ergänzender Arbeitsplätze für Minderqualifizierte.
Gerade mit derartigen Vorschlägen konnte eine wirtschaftsfreundliche Minderheit des Konsultativausschusses wenig anfangen. Der Weiterausbau des Sozialstaats über eine gewisse Limite hinaus könnte ihrer Ansicht nach für die Mittelschicht zu einer kaum mehr verkraftbaren finanziellen Belastung werden. Zudem dürften die wirtschaftlichen Folgen von eigenverantwortlichem Handeln, beispielsweise bei einer Scheidung, nicht einfach auf das Gemeinwesen überwälzt werden. Ein soziales Sicherungssystem, das nicht mehr hauptsächlich auf der Arbeit beruhe, würde zwar die Schliessung gewisser Lücken im sozialen Netz ermöglichen, doch wäre der Anreiz zur Arbeit nicht mehr gegeben. Ein solches Modell wäre auch schlicht nicht finanzierbar [4].
Gleich wie andere Städte mit Zentrumsfunktion ist auch Zürich überproportional vom Anstieg der Sozialausgaben betroffen. In der Stadt Zürich sind 80 von 1000 Einwohnern auf Sozialleistungen angewiesen, im restlichen Kanton lediglich 18 Promille aller ansässigen Personen. Die grüne Städträtin Stocker verlangte deshalb die Schaffung einer nationalen Projektorganisation für die soziale Sicherung, ähnlich wie sie auch zur Koordination in der Drogenpolitik gebildet wurde. Darin sollten Vertreter von Bund, Kantonen und Gemeinden gemeinsame Strategien entwickeln, um die Spätfolgen der Rezession und die Not der öffentlichen Haushalte zu lindern. Die sozialen Risiken dürften nicht allein den Kommunen als letztem Auffangnetz überlassen werden [5].
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Finanzierungsfragen
Die finanzielle Situation der AHV und der Invalidenversicherung (IV) verschlechterte sich im Berichtsjahr weiter. Insbesondere die 10. AHV-Revision und die Anpassung der Renten an die Teuerung führten zu hohen Mehraufwendungen. Demgegenüber stiegen die Beitragszahlungen der Versicherten rezessionsbedingt nur ganz schwach an. Die drei Sozialwerke AHV, IV und Erwerbsersatzordnung (EO) erzielten einen Fehlbetrag von 812 Mio Fr. Ohne den Überschuss der EO von 386 Mio Fr. hätte das Defizit sogar 1198 Mio Fr. betragen. Das Gesamtvermögen der drei Sozialwerke belief sich Ende Jahr auf 26 033 Mio Fr [6].
Kurz vor Weihnachten stellte das EDI den zweiten Bericht der interdepartementalen Arbeitsgruppe Finanzierung der Sozialversicherung (IDA-FiSo-2) der Öffentlichkeit vor. Nachdem der erste Bericht die finanziellen Folgen der Weiterführung des geltenden Leistungssystems in den Jahren 2010 und 2025 dargestellt hatte, wurden mit dem zweiten Bericht die möglichen Aus-, Um- oder Abbauszenarien im Leistungsbereich dargestellt. IDA-FiSo-1 war im Vorjahr zum Schluss gelangt, dass im Jahre 2010 15,3 Mia Fr. mehr nötig sind, um die heutigen Sozialleistungen inklusive Mutterschaftsversicherung zu finanzieren. Der Bundesrat hatte IDA-FiSo-2 daraufhin den Auftrag erteilt, anhand von drei Szenarien darzustellen, was getan werden müsste, um den Mehrbedarf auf 9 Mia Fr. zu beschränken, welche Massnahmen die Fortführung des Status quo fordert und welche die Erhöhung der Ausgaben auf 18 Mia Fr. Der IDA-FiSo-2-Bericht zeigte den Gestaltungsraum innerhalb der einzelnen Sozialversicherungszweige auf sowie die Auswirkungen für das ganze System, die Versicherten und die Wirtschaft. Bei allen Varianten wurde mit einem finanziellen Mehrbedarf gerechnet.
Sowohl die bürgerlichen Parteien und die Arbeitgeber auf der einen, als auch die SP und die Gewerkschaften auf der anderen Seite sahen sich von den Schlussfolgerungen des Berichtes in ihren Ansichten bestätigt. Die FDP fand, dass jetzt weder ein Ausbau noch die Schliessung von Lücken im sozialen Netz möglich sei. Sie forderte den Bundesrat auf, für die ' mittel- und langfristigen Aspekte der Finanzierung der Sozialwerke zu einem Gespräch am runden Tisch einzuladen. Die SVP verlangte ein Sanierungspaket, das auf der Leistungsseite zwingende Korrekturen vornehme. Die Arbeitgeber vertraten die Auffassung, dass nur das Szenario "gezielter Abbau" wirtschaftsverträglich sei, und dass im jetzigen Zeitpunkt die Einführung einer Mutterschaftsversicherung nicht zur Diskussion stehen könne. Gegen jeglichen Ausbau war auch der Schweizerische Gewerbeverband; er verlangte unter anderem ein einheitliches Rentenalter von mindestens 65 Jahren, eine Kürzung der Bezugsdauer bei der Arbeitslosenversicherung sowie Kostendämpfungen im Gesundheitswesen.
Ganz andere Schlüsse zogen SP und Gewerkschaften aus dem Bericht. Für die Sozialdemokraten zeigte dieser, dass kein Bedarf für Leistungsabbauszenarien im Sozialversicherungsbereich bestehe und auch ein Moratorium wirtschaftspolitisch nicht zu rechtfertigen sei. Aus dem Bericht sei zudem ersichtlich, dass die Politik in der Ausgestaltung der sozialen Schweiz der nächsten Jahrzehnte einen sehr grossen Spielraum habe. Für den Christlichnationalen Gewerkschaftsbund (CNG) stellte der Bericht eine gute Ausgangslage dar, um die Auseinandersetzungen über die künftige Ausgestaltung der Sozialwerke zu versachlichen. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hingegen bezeichnete den Bericht als mangelhaft. Er liste unzählige Abbauvorschläge auf und beschränke sich dabei auf die Bezifferung der möglichen Einsparungen. Dabei hätten die Experten vergessen, die Folgen für die Betroffenen darzulegen. SP und SGB verlangten die rasche Realisierung der Mutterschaftsversicherung und der Ruhestandsrente.
Einmal mehr zwischen den Fronten versuchte sich die CVP zu positionieren. Die Partei sprach sich sowohl gegen den Abbau als auch gegen den Ausbau, sondern für den Umbau der Sozialversicherungen auf dem Niveau der heutigen Sozialleistungsquote sowie für eine Mutterschaftsversicherung aus. Sie kritisierte aber, die Arbeitsgruppe sei von zu optimistischen Arbeitslosenquoten (maximal 3,5%) ausgegangen. Sparpotential ortete sie in mehr Eigenverantwortung und in der Missbrauchsbekämpfung [7].
 
[1] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1483 ff.1
[2] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2627 f. Siehe SPJ 1994, S. 217.2
[3] Amtl. Bull. StR, 1997, S. 261 ff.; Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1481 ff.3
[4] NZZ, 23.12.97. Für ein Modell der "Pro Mente sana", welches ebenfalls Betriebe belohnen möchte, die arbeitsmarktlich benachteiligte Personen beschäftigt, siehe unten (Invalidenversicherung).4
[5] TA, 18.7.97.5
[6] Presse vom 7.3.98.6
[7] NZZ, 5.7.97; Presse vom 23.12.97; CHSS, 1998, S. 35 ff. Zu IDA-FiSo-1 siehe SPJ 1996, S. 254. Für die generellen Vorstellungen der FDP und CVP zur Zukunft der Sozialversicherungen siehe unten, Teil IIIa (FDP und CVP).7