Année politique Suisse 1997 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Krankenversicherung
Unter dem Druck der trotz neuem Krankenversicherungsgesetz (KVG) ständig ansteigenden Prämien berief Bundesrätin Dreifuss im Februar einen "Krankenversicherungs-Gipfel" ein. Haupttenor der Veranstaltung, an der alle massgeblichen Akteure des schweizerischen Gesundheitswesens teilnahmen, war die Feststellung, dass die Mängel der Krankenversicherung weniger dem neuen KVG als vielmehr dessen rascher Einführung und der zu wenig koordinierten Umsetzung zuzuschreiben sind. Mit dem Ziel, Einfluss auf die Kostenentwicklung im Krankenversicherungsbereich zu nehmen, wurden die Gespräche auf drei Themenkreise konzentriert: das Spitalwesen mit Fragen der Spitalplanung und der ausserkantonalen Hospitalisation, die öffentlichen Gesundheitsdienste mit dem Beispiel der spitalexternen Krankenpflege (Spitex) sowie die Kalkulation und Kontrolle der Krankenversicherungsprämien [39].
Da die nationalrätliche SGK auf Antrag von Bundesrätin Dreifuss, welche auf die Folgearbeiten des "Krankenversicherungs-Gipfels" verwies, einen Vorschlag ihrer Subkommission für einen Bundesbeschluss über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung knapp ablehnte, reichte Nationalrat Rychen (svp, BE) eine analoge parlamentarische Initiative ein. Sie verlangt den Erlass eines Bundesbeschlusses zur Einsparung von Kosten im Gesundheitswesen auf den Ebenen Spitex, Pflegeheime und (Nicht-)Zulassung neuer Leistungserbringer. Der Nationalrat gab dieser Initiative in seiner Sommersession mit 96 zu 80 Stimmen Folge [40]. Zu der teilweise erfolgten Umsetzung des Anliegens von Rychen siehe oben, Teil I, 7b (Gesundheitspolitik).
Die grosse Kammer unterstützte ebenfalls eine parlamentarische Initiative Gysin (fdp, BL), welche verlangt, die SUVA sei als Krankenversichererin zuzulassen. Heute erlaubt das KVG den Zugang zur obligatorischen Grundversicherung nur den nicht-gewinnorientierten Krankenkassen und den dem Versicherungsaufsichtsgesetz unterstellten Privatversicherern. Vom Marktzutritt der SUVA erhoffte sich eine Mehrheit des Nationalrates einen heilsamen Druck auf die Prämien, da die SUVA ihre "Case-management"-Erfahrung bei der Unfallversicherung möglicherweise auf die Krankenversicherung übertragen könnte. Die Ratsminderheit befürchtete dagegen, die SUVA würde mit 1,8 Millionen UVG-Versicherten ihre starke Marktposition als Wettbewerbsvorteil ausnützen, umso mehr, als zu ihren Versicherten vor allem berufstätige Personen und damit "gute Risiken" gehören. Eine CVP-Minderheit der vorberatenden Kommission reichte vergebens eine Motion mit dem Ziel ein, die als Gegenstück zur KVG-Zulassung die Aufhebung des Teilmonopols der SUVA im UVG-Bereich verlangte [41].
Ein Postulat Loeb (fdp, BE), welches den Bundesrat bat, die Schweizer Haushaltungen umfassend über das neue KVG zu orientieren, ein Postulat Grendelmeier (ldu, ZH), das den Bundesrat ersuchte zu prüfen, ob bei der direkten Bundessteuer die Maxima für den Abzug von Krankenkassenprämien nicht entsprechend dem Anstieg der Prämien angehoben werden sollten, sowie ein Postulat Schmid (svp, BE) für eine Prämienbefreiung während längerer Militärdienstzeiten wurden ohne Opposition überwiesen [42].
Die PdA lancierte eine Volksinitiative für einkommens- und vermögensabhängige Krankenkassenprämien. Um die Prämien für die einkommensschwachen Bevölkerungsteile massiv zu senken, müsste der Bund mindestens 50% der jährlichen Ausgaben der sozialen Krankenversicherung übernehmen. Der Bundesbeitrag soll unter anderem durch eine Gewinnabgabe der Banken finanziert werden. In der Herbstsession behandelte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative Spielmann (pda, GE) mit der gleichen Stossrichtung, welche vom rot-grünen Lager unterstützt wurde. Nach kurzer Diskussion lehnte der Rat die Initiative mit 74 zu 53 Stimmen ab [43].
An ihrem Parteitag im Juni beschloss die SP, eine Volksinitiative "für eine soziale Krankenversicherung" zu lancieren. Eine Arbeitsgruppe unter dem Tessiner Arzt und Nationalrat Cavalli hatte dafür zwei Varianten vorbereitet. Gegen den abtretenden Parteipräsidenten Bodenmann setzte sich das moderatere, als mehrheitsfähiger erachtete Modell durch. Danach werden die individuellen Krankenkassenprämien je zur Hälfte über vier zusätzliche Mehrwertsteuerprozente sowie über einkommensabhängige Kopfprämien bezahlt und die Kinderprämien ganz abgeschafft. Zur Kostendämpfung sollten die Kompetenzen des Bundes im Gesundheitsbereich ausgebaut werden. Der Bundesrat soll verpflichtet werden, jährliche Globalbudgets zu erlassen, die pro Region und Sparte die Ausgaben für die obligatorische Krankenversicherung limitieren. Zudem soll er die Prämien festsetzen und die Spitzenmedizin sowie die Zulassung der Ärzte beschränken können [44].
Dieser Vorschlag stiess beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund vorerst nicht auf grosse Begeisterung. Der SGB fürchtete vor allem, dass durch Globalbudgetierungen gerade jene Hausärzte getroffen würden, die eine relativ preiswerte Medizin anbieten. Im definitiven Text, den SP und SGB Ende Oktober mit dem Titel "Gesundheit muss bezahlbar bleiben" verabschiedeten, wurde die zentrale Steuerung durch den Bund etwas relativiert. Die Kantone sollen nach wie vor auch ihre eigenen Gesundheitsplanungen vornehmen können. Die einkommensabhängigen Prämien wurden ebenfalls noch einmal überarbeitet, um auch den Mittelstand zu entlasten. Rund 90% der Bevölkerung würden mehr oder weniger deutlich vom neuen Modell profitieren, während die restlichen 10% mit Prämien zu rechnen hätten, die einer verdeckten Reichtumssteuer gleichkommen würden. Mit der Verlagerung auf die Reichen konnte auch die zur Schliessung der Finanzierungslücke notwendige Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes auf 3,5% reduziert werden, was namentlich den Bedenken des SGB und der Romands Rechnung trug [45].
Entgegen dem Willen der SP, welche diese Massnahme als äusserst unsozial taxierte, überwies der Nationalrat ein Postulat Rychen (svp, BE), das anregte, die Jahresfranchise für die Versicherten auf 600 Fr. anzusetzen, um so einen gewissen Spareffekt beim Bezug medizinischer Leistungen zu erreichen. Bei dieser Gelegenheit fragte sich sein Kollege Leuba (lp, VD), ob es nicht sinnvoller wäre, eine einkommensabhängige Franchise einzuführen. Bundesrätin Dreifuss sagte zu, dass die Landesregierung auch diesen Vorschlag prüfen werde. In seiner letzten Sitzung vor den Sommerferien beschloss der Bundesrat für 1998 eine Erhöhung der Jahresfranchise auf 230 Fr [46].
In der Frühjahrssession behandelte der Nationalrat zwei Motionen seiner SGK. Die beiden Vorstösse wollten den Bundesrat verpflichten, den Kantonen strengere Vorschriften über die Ausrichtung von Prämienverbilligungen an Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen zu machen. Insbesondere sollten die Kantone dazu angehalten werden, entweder 100% der Bundessubventionen abzuholen oder mit anderen Massnahmen sicherzustellen, dass die Prämienverbilligungen dem Willen des eidgenössischen Gesetzgebers entsprechen. Da der Bundesrat die Parlamentarierinnen und Parlamentarier daran erinnerte, dass sie sich entgegen seinen ursprünglichen Intentionen unter dem Druck der Kantone für ein föderalistisches System der Prämienverbilligung ausgesprochen hatten, weshalb der Bund in diesem Bereich nur sehr bescheidene Weisungskompetenzen hat, wurden die beiden Motionen nur in Postulatsform verabschiedet [47].
Auf einen weiteren Vorschlag seiner SGK, welche mit einem dringlichen Bundesbeschluss erreichen wollte, dass die von den Kantonen nicht beanspruchten Mittel zur Prämienverbilligung in den Jahren 1997 bis 1999 an die Versicherten ausgeschüttet werden, trat der Nationalrat hingegen nicht ein. In der engagiert geführten Debatte argumentierten die Gegner der Vorlage, damit würde man wieder zum verpönten Giesskannenprinzip zurückkehren. Von Befürworterseite (SP und GP) wurde vergeblich geltend gemacht, der Einsatz dieser Gelder sei in der Volksabstimmung versprochen worden, weshalb sie nun nicht in der Bundeskasse zurückbehalten werden dürften [48].
Mit einer parlamentarischen Initiative schlug Nationalrat Cavalli (sp, TI) vor, die für die Prämienverbilligung nicht beanspruchten Gelder in den Fonds für den Risikoausgleich zwischen den Kassen fliessen zu lassen. Die Mehrheit der Kommission schätzte die Verteilung der Gelder über den Risikoausgleich aber als ungünstig ein, da dieser nur die beiden Elemente Alter und Geschlecht berücksichtigt. Im Plenum wurde die Initiative mit 69 zu 49 Stimmen abgelehnt [49]. Eine Motion Rychen (svp, BE) zur Verstärkung des Risikoausgleichs unter den Krankenkassen wurde auf Antrag des Bundesrates, der auf eine anstehende Evaluationsstudie zu diesem Fragenkomplex verwies, als Postulat angenommen [50].
Ab 2002 wird das kantonale Prämienniveau bei den Bundesbeiträgen zur Verbilligung der Krankenkassenprämien nicht mehr berücksichtigt. Der Ständerat hiess sowohl eine entsprechende parlamentarische Initiative Schiesser (fdp, GL) als auch eine ganze Reihe von analogen Standesinitiativen aus der Ost- und Zentralschweiz gut. Auf Antrag seiner Kommission beschloss er aber, den 1997 in Kraft getretenen abgestuften Beitragsschlüssel nicht umgehend wieder abzuschaffen, sondern ihn bis sechs Jahre nach Inkrafttreten des KVG beizubehalten. Die grosszügige Übergangsfrist gibt den Kantonen mit teurem Gesundheitswesen Zeit, durch kostendämpfende Massnahmen die Ungleichheiten in der Prämienbelastung zu mildern [51]. Im Nationalrat wurden die Standesinitiativen sowie eine analoge parlamentarische Initiative Raggenbass (cvp, TG) ebenfalls angenommen [52].
Überwiesen wurden vom Ständerat ebenfalls zwei Standesinitiativen der Kantone Genf und Tessin, welche für die Kantone mehr Mitspracherecht bei der Prämiengestaltung sowie bei der Umsetzung des KVG bis hin zur Kompetenzdelegation im Bereich der Aufsicht verlangen. Bei der Beratung im Plenum kündigte der Kommissionssprecher an, dass die SGK gedenke, eine entsprechende parlamentarische Initiative auszuarbeiten. Der Nationalrat nahm seinerseits ein analoges Postulat Berberat (sp, NE) an [53].
 
[39] CHSS, 1997, S. 64 ff.; Presse vom 21.2.97. Unter Verweis auf diesen Gipfel beantragte der BR dem NR erfolgreich, eine Motion Hochreutener (cvp, BE) auf Einsetzung einer "Task Force" im Bereich KVG in ein Postulat umzuwandeln (Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1459 f.). Zur Umsetzung des KVG siehe ein überwiesenes Postulat der SGK-NR sowie mehrere Interpellationen und deren Beantwortung durch den BR (Amtl. Bull. NR, 1997, S. 705 ff.) sowie die Stellungnahme des BR zu Fragen der GPK (BBl, 1998, S. 1782 ff.). Der Prämienanstieg für 1998 wurde vom BSV auf 4,85% in der teuersten Regionalstufe angesetzt, also bedeutend geringer als für 1997, was zu beweisen scheint, dass die Kostendämpfungsmassnahmen des neuen KVG zu greifen beginnen (CHSS, 1997, S. 275 ff.).39
[40] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1430 ff.40
[41] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1743 ff.41
[42] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1485 f., 1489 und 2229.42
[43] BBl, 1997, II, S. 880 ff.; Presse vom 23.4.97; Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1751 ff.43
[44] Presse vom 30.6.97. Siehe auch oben, Teil I, 7b (Gesundheitspolitik) sowie unten, Teil IIIa (SP). Die konsequentere, vom Parteivorstand unterstützte Variante, die auch die Zustimmung von BSV-Direktor Piller fand, sah eine völlige Aufhebung der Kopfprämien und eine Finanzierung über acht zusätzliche MWSt-Prozente vor.44
[45] BBl, 1997, IV, S. 1224 ff.; Presse vom 25.10.97.45
[46] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 712; Presse vom 26.6.97. Eine Univox-Umfrage zeigte, dass die Erhöhung der Franchise auf 230 Fr. eine Mehrheit in der Bevölkerung findet, dass aber nur 10% einer Erhöhung auf 600 Fr. zustimmen würden (M. Bürgi, "Solidarität und Massnahmen zur Senkung der Prämien in der Krankenversicherung", Univox Sozialversicherung, Oktober 1997).46
[47] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 515 f. Für die je nach Kanton unterschiedlich ausgerichteten Prämienverbilligungen vgl. SPJ 1996, S. 259. Siehe auch: P. Coullery / R. Kocher, "Der Rechtsbegriff der 'bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnisse' nach Artikel 65 KVG", in CHSS, 1997, S. 24 ff. Für einen ersten Überblick über die 1996 ausgeschütteten Prämienverbilligungen siehe CHSS, 1997, S. 302 f. Eine pa.Iv. Keller (sd, BL) auf Zentralisierung der Prämienverbilligungen wurde auf Antrag der Kommission diskussionslos abgelehnt (Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1767 f.).47
[48] BBl, 1997, III, S. 230 ff. und 241 ff. (BR); Amtl. Bull. NR, 1997, S. 695 ff.48
[49] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1757 ff.49
[50] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2829 und 2830. Siehe dazu auch: "Die Ergebnisse des Risikoausgleichs bis zum Jahr 1996", in CHSS, 1998, S. 12 f.50
[51] BBl, 1997, III, S. 1339 ff. und BBl, 1997, IV, S. 841 (BR); Amtl. Bull. StR, 1997, S. 392 ff., 775 f. und 1280 f. Siehe SPJ 1996, S. 261.51
[52] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1736 ff. Siehe SPJ 1996, S. 261.52
[53] Amtl. Bull. StR, 1997, S. 776 ff.; Amtl. Bull. NR, 1997, S. 539. Für den Vorschlag der SGK-SR und die (zustimmende) Stellungnahme des BR siehe BBl, 1998, S. 1335 ff. Vgl. auch SPJ 1996, S. 260.53