Année politique Suisse 1998 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires / Regierung
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Wahlen
Am 14. Januar gab Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz seinen Rücktritt auf Ende März bekannt. Der amtsälteste Bundesrat, der sich in den letzten Jahren mehrerer Operationen hatte unterziehen müssen, machte für seinen Entschluss gesundheitliche Gründe geltend. Der für seine Vitalität und seinen Charme vor allem in der französischsprachigen Schweiz hoch geschätzte Politiker hatte seit 1987 dem Volkswirtschaftsdepartement vorgestanden. In Würdigungen wurden seine Verdienste um die Einleitung der Landwirtschaftsreform, die Revision des Wettbewerbsrechts und den Beitritt zum WTO hervorgehoben. Sein Einsatz für einen sozialen Ausgleich hatte ihm gerade in der von der Wirtschaftskrise der neunziger Jahre gebeutelten Westschweiz zusätzliche Beliebtheit verschafft, war hingegen vom wirtschaftsliberalen Flügel der FDP nicht immer geschätzt worden. Nach weiteren notwendig gewordenen Operationen verstarb Jean-Pascal Delamuraz am 4. Oktober im Alter von 62 Jahren [6].
Dass für Delamuraz’ Nachfolge nur jemand aus dem französischen Sprachraum in Frage kommen konnte war ebenso unbestritten wie der Sitzanspruch der FDP. Als Kronfavorit stand von Anfang an der 56jährige Walliser Pascal Couchepin fest, der seit 1979 dem Nationalrat angehört und von 1989 bis 1996 die FDP-Fraktion präsidiert hatte. Neben dem von seiner Kantonalpartei nominierten Couchepin meldete auch der Kanton Neuenburg seine Ansprüche an. Die FDP präsentierte den eher am rechten Rand des Freisinns einzuordnenden Nationalrat Claude Frey als Kandidaten. Aus Kreisen des linken Flügels der welschen Freisinnigen und der Christlichdemokraten wurde zudem der Name des ehemaligen Genfer Ständerates Gilles Petitpierre ins Spiel gebracht. Dieser hätte allerdings, um wählbar zu sein, sein Wohndomizil vor dem Wahltag in seinen Geburtskanton Neuenburg verlegen müssen, da der Kanton Genf mit Ruth Dreifuss bereits über einen Sitz verfügt. Petitpierre lehnte dies zunächst ab, meldete seine Kandidatur aber trotzdem bei der FDP und der Bundeskanzlei an. Erst unmittelbar vor der Kandidatennominierung durch die FDP-Fraktion erklärte er sich zu einem Domizilwechsel bereit, welchen er dann auch eine Woche vor dem Wahltag vollzog. Nachdem Nationalrat Pidoux (fdp, VD), dem als erfahrenem Parlamentarier auf nationaler Ebene und ehemaligem Regierungsrat einige Wahlchancen zugesprochen worden waren, auf eine Kandidatur verzichtet hatte, zeichnet sich ab, dass es für die Waadtländer Freisinnigen schwierig sein würde, ihren traditionellen Bundesratssitz zu halten [7].
Der bei den Bundesratswahlen der neueren Zeit regelmässig auftauchende Ruf nach einer besseren Vertretung der Frauen war an sich schwer einlösbar, waren doch die welschen Freisinnigen nur gerade mit zwei Frauen in der Bundesversammlung vertreten: die als Genferin nicht wählbare Françoise Saudan und die erst seit Herbst 1995 dem Nationalrat angehörende Waadtländerin Christiane Langenberger. Langenberger erklärte, dass sie nicht kandidieren wolle, da sie weder von der Kantonalpartei noch von der FDP-Fraktion im Bundeshaus voll unterstützt werde. Im Laufe der Wahlvorbereitungen ertönte die Forderung von Frauen in Parteien (zuerst aus der SP und der GP, dann auch aus bürgerlichen) und anderen Organisationen immer lauter, dass unbedingt eine Frau kandidieren müsse. Gut einen Monat nach ihrer Verzichterklärung kam Christiane Langenberger auf ihren Entscheid zurück und liess sich von der Waadtländer FDP und von den FDP-Frauen als Kandidatin anmelden [8].
Der Delegiertenrat der FDP gab zuhanden der Fraktion keine besondere Empfehlung für eine der drei von den Kantonalsektionen eingereichten Kandidaturen ab, wünschte aber einen Doppelvorschlag, womöglich mit einer Frau; auf die Bewerbung des nicht von einer Kantonalsektion vorgeschlagenen und vor einem Wohnsitzwechsel auch nicht wählbaren Petitpierre ging sie nicht ein. Die Fraktion hielt sich an diese Empfehlung und nominierte am 3. März Pascal Couchepin und Christiane Langenberger  [9].
Die Bundesversammlung nahm die Ersatzwahl am 11. März vor. Die Fraktionen der SP und der CVP legten sich nicht fest und gaben ihre Unterstützung für beide von der FDP-Fraktion vorgeschlagenen Personen bekannt. Die Fraktion der Grünen teilte mit, dass eine Mehrheit für Christiane Langenberger stimmen werde, eine Minderheit schlug den dank seines Wohnsitzwechsels in letzter Minute wählbar gewordenen Gilles Petitpierre vor. Im ersten Wahlgang lagen Langenberger und Couchepin mit je 66 Stimmen gemeinsam an der Spitze, gefolgt von Claude Frey (61) und Gilles Petitpierre (40). Im zweiten Wahlgang übernahm Couchepin mit 80 Stimmen die Spitze vor Langenberger (67), Frey und Petitpierre. An dieser Reihenfolge änderte sich auch in den Wahlgängen drei und vier nichts, wobei reglementsgemäss jeweils der Letztklassierte ausschied. Deren Stimmen teilten sich in den anschliessenden Wahlgängen etwa im Verhältnis zwei zu eins auf Couchepin und Langenberger auf. Im entscheidenden fünften Wahlgang wurde der Walliser Pascal Couchepin mit 146 Stimmen bei einem absoluten Mehr von 120 Stimmen gewählt; auf Christiane Langenberger entfielen 92 Stimmen [10]. Bei der Departementsverteilung ergaben sich keine Rochaden: kein Bisheriger meldete Veränderungswünsche an und Couchepin übernahm von seinem Vorgänger das Volkswirtschaftsdepartement [11].
Die Vereinigte Bundesversammlung wählte am 9. Dezember Ruth Dreifuss mit 158 Stimmen (bei einem Mehr von 106) zur Bundespräsidentin für 1999; sie ist die erste Frau, die dieses Amt ausübt. Zum Vizepräsidenten wurde Adolf Ogi bestimmt [12].
Das Parlament beschloss im Berichtsjahr die Beseitigung der sogenannten Kantonsklausel für die Zusammensetzung der Landesregierung. Der Nationalrat strich zuerst im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung die Kantonsklausel. Der Ständerat lehnte dies jedoch ab, da diese Neuerung über die angestrebte Verfassungsnachführung hinausgehen würde [13]. Der Nationalrat beschloss daraufhin, seine parlamentarische Initiative aus dem Jahr 1993 (ersatzlose Streichung der Kantonsklausel), für welche der Ständerat 1995 Nichteintreten beschlossen hatte, wieder zu reaktivieren. Der Ständerat konnte sich allerdings mit einer ersatzlosen Streichung der Kantonsklausel nicht einverstanden erklären. Er lehnte zwar den Nichteintretensantrag seiner Kommissionsmehrheit, welche die Frage erst im Rahmen der Staatsleitungsreform behandelt sehen wollte, deutlich ab. Er beschloss aber, dass die Bundesversammlung bei der Wahl auf die „angemessene“ Vertretung der Landesgegenden und Sprachregionen Rücksicht zu nehmen habe. Die von der Kommissionsmehrheit zusätzlich vorgeschlagene und namentlich von welschen Sprechern verteidigte Norm, dass die Bundesräte aus mindestens fünf verschiedenen Kantonen stammen müssen, fand hingegen vor dem Plenum keine Gnade. Der Nationalrat akzeptierte die neue Formel und lehnte einen Antrag Fankhauser (sp, BL), der darin auch noch die Geschlechter erwähnt haben wollte, mit 91:75 Stimmen ab; in der kleinen Kammer war zuvor ein identischer Antrag Brunner (sp, GE) mit 31:8 Stimmen ebenfalls abgelehnt worden. In der Schlussabstimmung fand der neue Verfassungsartikel im Nationalrat mit 144 gegen 37 (bürgerliche) Stimmen Zustimmung, im Ständerat mit 35:1 Stimmen [14].
Für den Fall, dass diese Verfassungsänderung von Volk und Ständen abgelehnt würde, forderte der Nationalrat den Bundesrat mit einem von Lauper (cvp, FR) eingereichten Postulat auf, die Definition des Begriffs Kantonszugehörigkeit auch für Personen, die keine eidgenössischen oder kantonalen Mandate ausüben, gesetzlich präzis zu definieren. Damit soll vermieden werden, dass Personen dank kurzfristigen Wohnsitzänderungen wählbar werden [15].
Nationalrat Weyeneth (svp, BE) unternahm einen neuen Versuch, das Wahlsystem für die wiederkandidierenden Bundesräte zu verändern und die bestehende Abfolge von einzelnen Wahlgängen durch eine gleichzeitig für alle vorzunehmende Einzelwahl zu ersetzen. Nur so wäre es nach Ansicht des Initianten möglich, die Leistung der Bundesräte ohne taktische Rücksichtnahmen (sprich Angst vor Retourkutschen) ehrlich zu beurteilen. Eine erste entsprechende Motion war 1996 von der grossen Kammer überwiesen, vom Ständerat aber abgelehnt worden. Das Büro des Nationalrats lehnte die Stossrichtung der neuen Motion Weyeneths ab, da das vorgeschlagene Verfahren zu überraschenden Abwahlen führen könnte und keine Gewähr für die Einhaltung der diversen Quoten (parteipolitisch, sprachlich, regional) bieten würde. Da aber ohnehin die Staatsleitungsreform anstehe, anlässlich derer man sich grundsätzlich mit der Funktion und Konstituierung der Regierung auseinandersetzen werde, empfahl das Büro trotz seiner ablehnenden Stellungnahme die Überweisung der Motion in Postulatsform, was denn auch geschah [16].
Der Zürcher Nationalrat Blocher (svp) lancierte im Januar die Idee, die Bundesräte nicht mehr vom Parlament, sondern direkt vom Volk wählen zu lassen. Als Begründung für diese Forderung gab er an, dass die Regierung dann verpflichtet wäre, den „Volkswillen“ nicht mehr zu missachten. Diese Forderung war bisher mehrmals von jeweiligen Nichtregierungsparteien (SP, später Grüne und LdU) vorgebracht worden und vom Parlament (letztmals eine parlamentarische Initiative Robert, gp, BE, 1994) oder vom Volk (Volksinitiative der SP 1942) deutlich abgelehnt worden. Die Zürcher SVP übernahm Blochers Vorschlag, eine Volksinitiative für die Volkswahl des Bundesrates zu lancieren. Die Delegiertenversammlung der nationalen SVP befasste sich am 4. Juli mit dem Anliegen. Dieses wurde namentlich von Abgeordneten der Berner und der welschen Kantonalsektionen, aber auch von prominenten SVP-Politikern aus anderen Kantonen als populistisch und zudem als gefährlich für den Zusammenhalt der Schweiz bekämpft, da ohne komplizierte Quotenregelungen keine angemessene Vertretung der verschiedenen Sprachgruppen erreicht werden könnte. Der Antrag der Kritiker, auf eine Initiative zu verzichten, wurde zwar knapp abgelehnt. Die Delegierten traten aber auch auf die sofortige Lancierung einer Volksinitiative nicht ein, sondern beschlossen auf Antrag der Parteileitung, zuerst einmal abzuklären, ob das Anliegen auch im Rahmen der Staatsleitungsreform durchsetzbar sei [17].
 
[6] Presse vom 15.1. und 16.1.98 (Rücktritt); Presse vom 5.10.98. Siehe auch Lit. Margot.6
[7] Presse vom 15.1.-11.3.98. Couchepin: NZZ, 13.2.98. Petitpierre: Bund, 18.2.98; Lib., 19.2.98; JdG, 28.2.98 (Kandidatur); NZZ und BZ, 4.3.98; Express, 5.3.98 (Wohnsitzwechsel). Frey: LT, 19.2.98. FDP-VD: 24 Heures, 20.1.98; NZZ, 21.1.98.7
[8] Presse vom 15.1. und 16.1.98; AZ, 19.1.98 (Frauen); JdG, 23.1.98 (Verzicht Langenbergers); 24 Heures, 10.2.98 und BZ, 19.2.98 (Forderung nach Frauenkandidatur); Presse vom 27.2.98 (Kandidatur).8
[9] Presse vom 28.2. (Delegiertenrat) und 4.3.98 (Fraktion).9
[10] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 842 ff.; Presse vom 12.3.98.10
[11] Presse vom 17.3.98.11
[12] Amtl. Bull NR, 1998, S. 3011 f.; Presse vom 7.-11.12.98.12
[13] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 138 ff. und 1438 ff.; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 510 ff. Vgl. SPJ 1997, S. 38.13
[14] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1193 f., 2021 ff. und 2294; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 869 ff., 946 ff. und 1143; BBl, 1998, S. 4800. Vgl. SPJ 1995, S. 33.14
[15] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1512 f.15
[16] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2843 f. Siehe SPJ 1996, S. 33.16
[17] NLZ, 17.1.98; TA, 19.1.98; SPJ 1994, S. 36 (Robert); TA, 3.7.98; Blick, 4.7.98; Presse vom 6.7.98 (DV). Für die Geschichte der Volkswahlforderung siehe BaZ, 6.2.98 und U. Altermatt, „Volkswahl des Bundesrates – ein Protestinstrument“, in NZZ, 25.2.98.17