Année politique Suisse 1998 : Politique sociale / Population et travail
Arbeitsmarkt
Das Bundesamt für Statistik (BFS) veröffentlichte erstmals eine
Arbeitsmarktgesamtrechnung (ARG), welche für die Periode 1991-1996 eine umfassende Darstellung der Dynamik ermöglicht, die sich hinter den traditionellen Arbeitsmarktindikatoren verbirgt
[6].
Die Zahlen der neuesten Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) zeigten nicht nur, dass die Beschäftigung zwischen Mitte 1997 und Mitte 1998 so stark anstieg wie nie zuvor in den neunziger Jahren, sondern auch, dass in den wirtschaftlich schwierigen Jahren zwischen 1991 und 1997 ungewöhnlich viele Personen den Weg in die
Selbständigkeit fanden. In diesem Zeitraum erhöhte sich die Zahl der Selbständigerwerbenden von 572 000 (15,2% aller Erwerbstätigen) auf 692 000 (18,4%). Mit dem Erwachen der Konjunktur schlummerte der Mut zur Selbständigkeit wieder etwas ein: Im Mai 1998 wurden nur mehr 683 000 (17,8%) Selbständigerwerbende erfasst. Besonders hoch scheinen die Erfolgschancen für Neueinsteiger im Baugewerbe und im Bereich Beratung und persönliche Dienstleistungen zu sein
[7].
Die gleiche Untersuchung wies auch auf eine Entwicklung hin, die gemäss BWA durchaus bleibenden Charakter haben könnte, nämlich die
Zunahme der befristeten Arbeitsverhältnisse von 11% 1991 auf 18% 1997. Ohne ein Wirtschaftswachstum von 2-3% über mehrere Jahre bestehe durchaus die Möglichkeit eines Zwei-Klassen-Arbeitsmarktes: auf der einen Seite die besserqualifizierten Arbeitskräfte mit unbefristeten Arbeitsverträgen, auf der anderen eine wachsende Reservearmee von minder Qualifizierten, die nur zeitweise eine Stelle finden. Die Zahl der vorübergehend Beschäftigten stieg im beobachteten Zeitraum von 68 000 auf 119 000 (+75%). Zudem bestehen Anzeichen für eine sich ausbreitende
Unterbeschäftigung. Während 1991 186 000 der Erwerbstätigen mit einem Anstellungverhältnis von weniger als 35 Stunden pro Woche erklärten, sie würden gerne mehr arbeiten, waren es 1997 bereits 264 000, was einer Zunahme um 42% entspricht
[8].
Das Bundesgericht befasste sich erstmals mit dem zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern hart umkämpften Begriff der
Arbeit auf Abruf. Diese Form der Anstellung, welche vor allem im Detailhandel zunehmend an Bedeutung gewinnt, zwingt die Arbeitnehmenden, ständig für ihren Arbeitgeber verfügbar zu sein, ohne dass ihnen eine minimale Arbeitszeit und der entsprechende Lohn garantiert sind. Die Richter erachteten derartige Arbeitsverhältnisse nicht generell als unzulässig, vertraten aber die Ansicht, dass es sich dabei um eine Art “Pikettdienst” handelt, der auch bei Nichtabruf lohnwirksam ist. Über die Höhe der Entschädigung sprach sich das Bundesgericht allerdings nicht aus
[9].
Nationalrat Gysin (sp, BS) reichte eine Motion ein, mit welcher er den Bundesrat beauftragen wollte, Massnahmen gegen die
Diskriminierung älterer Stellensuchender auf dem Arbeitsmarkt zu ergreifen. Die Landesregierung teilte zwar die Besorgnis des Motionärs und anerkannte, dass deutliche Anzeichen für diese Form der Diskriminierung – besonders gegenüber Frauen – bestehen. Da er die Problematik aber noch vertieft prüfen möchte, beantragte er mit Erfolg Umwandlung in ein Postulat
[10].
Gleich wie vor ihr der Nationalrat gab die kleine Kammer einer Standesinitiative des Kantons Genf, welche verlangte, eine Bundesgesetzgebung zur Bekämpfung von Betriebsschliessungen und
Massenentlassungen auszuarbeiten, keine Folge. Die Kommission argumentierte, dieses Problem lasse sich nicht auf dem Gesetzesweg angehen. Es sei vielmehr wichtig, Massnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft zu ergreifen und günstige Rahmenbedingungen für die Betriebe zu schaffen
[11].
Zu Massnahmen zur Verbesserung der Situation auf dem Lehrstellenmarkt siehe unten, Teil I, 8a (Berufsbildung).
Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ging innert Jahresfrist um knapp 50 000 auf 124 309 Ende Dezember zurück. Bei einer jährlichen Durchschnittsquote von 3,9% sank die Erwerbslosigkeit damit auf den tiefsten Stand seit sechs Jahren. Im Jahresverlauf verringerte sich die Arbeitslosenquote kontinuierlich von 5,0% im Januar auf 3,2% im Oktober, stieg dann aber im November und Dezember saisonbedingt wieder etwas an. Nach Regionen aufgeschlüsselt zeigte sich das bekannte Bild mit besonders hoher Erwerbslosigkeit im Westen und Süden des Landes (Westschweiz und Tessin 5,1%, Deutschschweiz 2,8%). Erfreulicherweise fiel aber die Quote vor allem in Kantonen mit hoher Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich stark: in Genf von 7,8 auf 6,1%, im Wallis von 6,9 auf 4,7%, im Jura von 6,6 auf 3,9% und in Solothurn von 6,0 auf 3,7%.
Neben den eingeschriebenen Arbeitslosen befanden sich Ende 1998 rund 58 000 erwerbslose Personen in einer arbeitsmarktlichen Massnahme, sei dies in Beschäftigungsprogrammen (16 166), in einem Zwischenverdienst (38 209) oder in Umschulung oder Weiterbildung (3157). Hinzu kommen die ausgesteuerten Arbeitslosen, die keine Stelle finden und auf eine weitere Registrierung beim Arbeitsamt verzichten. Einen Hinweis auf eine existierende Dunkelziffer von Arbeitslosen gab die Zahl der registrierten Stellensuchenden (in welcher allerdings auch die Nichtarbeitslosen inbegriffen sind): Ende Dezember waren 203 228 Personen gemeldet, was gegenüber dem Vorjahr einem Rückgang um rund 46 000 entspricht. Die Verbesserung der Situation am Arbeitsmarkt liess sich auch mit der
Zunahme der Gesamtzahl der Beschäftigten belegen. Nach der Erwerbstätigenstatistik des BFS waren im 2. Quartal 3,83 Mio Personen in einem Arbeitsverhältnis, 68 000 Personen resp. 1,8% mehr als im gleichen Quartal des Vorjahres (Männer +1,4%, Frauen +2,3%, Schweizer/innen +1,5%, Ausländer/innen +3,1%, Vollzeitstellen +1,4%, Teilzeitstellen +2,8%)
[12].
Eine vom BWA in Auftrag gegebenen Studie zeichnete erstmals ein gesamtschweizerisches Bild von der Situation der
Ausgesteuerten. Danach verloren 1995 und 1996 insgesamt 66 600 Personen das Anrecht auf den Bezug von Arbeitslosenentschädigung. Überdurchschnittlich betroffen waren Frauen, Ausländer, über 49jährige, Verheiratete, Ungelernte und nicht mobile Personen. Wie schwierig es für Ausgesteuerte ist, wieder eine Arbeitsstelle zu finden, zeigten die Resultate einer 1997 durchgeführten repräsentativen Umfrage: 57% der betroffenen Personen hatten zum Zeitpunkt der Erhebung noch keine Arbeit gefunden. 1995 hatte eine ähnliche Umfrage in mehreren Kantonen ergeben, dass zumindest die Hälfte wieder erwerbstätig war. Bis die Hälfte der betroffenen Personen wieder eine Arbeit hat, vergehen im Durchschnitt 19 Monate. Die neuen Stellen sind zudem im Mittel eindeutig tiefer entlöhnt
[13].
Spätestens seit der Einführung von
Beschäftigungsprogrammen für Arbeitslose wurde man auf das Phänomen eines “zweiten Arbeitsmarktes” aufmerksam. Vor allem das Gewerbe wehrte sich immer wieder gegen die Etablierung von Arbeit, welche ihrer Einschätzung nach den “regulären” Arbeitsmarkt zu konkurrenzieren droht. Eine im Auftrag des BWA durchgeführte Studie zerstreute diese Befürchtungen. Der “
zweite Arbeitsmarkt” habe noch lange nicht die Dimension erreicht, die zu ernsthaften negativen Auswirkungen auf den freien Arbeitsmarkt führen könnte. Kritisch könnte auf Dauer einzig der recht massive Einsatz von vorübergehend Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung und bei den Infrastrukturaufgaben der Gemeinden werden
[14]. Eine Untersuchung der Beschäftigungsprogramme im Kanton Bern zeigte aber auch, dass diese meistens nur einen vorübergehenden Zweck (Schaffung von festen Tagesstrukturen) erfüllen, aber nur in seltenen Fällen zur Reintegration in den Arbeitsmarkt führen. Die Autoren der Studie bemängelten, dass die Programme zu wenig Rücksicht auf die Qualifikationen und die spezifischen Eigenheiten der so Beschäftigten nehmen
[15].
Seit Anfang 1997 werden die
Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) einer umfassenden Evaluation durch den Bund unterzogen. Die RAV wurden mit der Revision des AVIG 1995 geschaffen und lösten die kommunalen Arbeitsämter ab. Ziel war eine professionellere Reintegration der Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt. Erste Ergebnisse der Evaluation ergaben nun, dass die RAV-Berater eher besser arbeiten als oft angenommen. Zumindest für ihre menschlichen Qualitäten erhielten sie von den Kunden gute Noten; bei der Sachkompetenz scheint es allerdings nach wie vor zu hapern, weshalb das BWA eine
gezielte Weiterbildung in Aussicht stellte. Quantitativ gesehen vermittelten die RAV im betrachteten Zeitraum pro Monat rund 4500 Stellensuchenden einen Arbeitsplatz; zwischen Januar und April des Berichtsjahres wurden rund 1500 Langzeitarbeitslose dank den Bemühungen der RAV wieder in den Arbeitsmarkt integriert
[16].
Die
PTT führten in den Kantonen Zürich, Freiburg, Jura und Tessin ein
Pilotprojekt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nach dem sogenannten
Solidaritätsmodell ein. Sie nutzten dafür die im AVIG gegebene Möglichkeit, dass Pilotprojekte zur Arbeitsbeschaffung finanziell unterstützt werden können. Nach Absolvierung eines Einführungskurses wird ein Arbeitsloser während 12-18 Monaten in eine Gruppe von drei freiwilligen Postbeamten mit gleichem Arbeitsort und -pensum integriert. Nach dem Rotationsprinzip arbeiten alle vier Personen drei Wochen und beziehen dann eine Woche Freizeit. Für Angestellte mit Betreuungspflichten reduziert sich der Lohn um 7%, für die anderen um 10%. Die Differenz bezahlt die Arbeitslosenkasse
[17].
Ebenfalls im Sinn eines Pilotprojektes einigten sich die Sozialpartner des
Bauhauptgewerbes zusammen mit dem BWA auf ein
Alters-Teilzeitmodell. Über 60jährige Arbeitnehmer sollen bis zum ordentlichen Pensionierungsalter nur noch durchschnittlich 50 Prozent arbeiten müssen. Sie erhalten dafür 90 Prozent des letzten AHV-pflichtigen Grundlohnes. Zwei Drittel des Lohnes übernimmt der Arbeitgeber, ein Drittel die ALV. Als Gegenleistung müssen die Arbeitgeber für je zwei Altersteilzeitarbeitende zwei Lehrstellen schaffen oder für je vier einen Stellenlosen einstellen. Während der zweijährigen Pilotphase kann rund ein Viertel aller über 60jährigen Beschäftigten im Bauhauptgewerbe von diesem Modell profitieren
[18].
Die
Kurzarbeit ging im Berichtsjahr erneut stark zurück. Im Durchschnitt waren 405 Betriebe (Vorjahr 761) mit 3087 Arbeitnehmern (6611) davon betroffen, wobei die Frauen mit 2508 Beschäftigten den Löwenanteil ausmachten. Insgesamt fielen 218 230 Arbeitsstunden (414 006) aus, 141 951 (250 217) in der Deutschschweiz und 76 280 (163 788) in der Westschweiz und dem Tessin
[19].
In einem Bericht machte die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates auf die Problematik der
Kurzarbeitsentschädigung aufmerksam. In den Jahren 1993 bis 1997 wurden 1,9 Mia Fr. in diese Form der Arbeitslosenversicherung gesteckt, ohne dass je zuverlässig hätte nachgewiesen werden können, dass damit tatsächlich Entlassungen vermieden worden sind. Die GPK verlangte deshalb vom Bundesrat, dafür zu sorgen, dass die Bestimmungen einheitlicher vollzogen und Missbräuche konsequenter geahndet werden
[20].
[7] Presse vom 13.11.98;
TA, 7.12.98.7
[9]
SHZ, 17.6.98; Presse vom 18.7.98;
LT, 15.10.98. Siehe
SPJ 1997, S. 236.9
[10]
Amtl. Bull. NR, 1998, S.
1521 f.10
[11]
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 190 f. Siehe
SPJ
1997, S. 233.11
[12]
CHSS, 1999, S. 2 f.; Presse vom 8.1.99.
Die Volkswirtschaft, 1999, Nr. 5, S. 23* ff. Siehe auch “Jugendliche auf dem Schweizer Markt der neunziger Jahre: Eine verlorene Generation?”, in
Die Volkswirtschaft, 1998, Nr. 4, S. 52 ff.12
[13]
Lit. Aeppli. Siehe auch die Antwort des BR auf eine Interpellation Roth (sp, GE) zur Unterstützung von ausgesteuerten Arbeitslosen in
Amtl. Bull. NR, 1998, S.
2278 f. Vgl. auch “Öffentliche Hilfe für ausgesteuerte Arbeitslose. Profile und Wege im Kanton Freiburg”, in
Die Volkswirtschaft, 1998, Nr. 7, S. 58-61.13
[16]
SZ, 12.5.98; Presse vom 5.6.98;
TA, 26.10.98. Zur Kritik der Gewerkschaften und der Arbeitgeber siehe
SoZ, 20.9.98;
LT, 30.10.98. Vgl. auch die Ausführungen des BR zu zwei Interpellationen (Widmer, sp, LU und FDP-Fraktion) in
Amtl. Bull. NR, 1998, S.
794 ff. und 2281 ff.16
[17]
CdT, 9.1.98;
TA, 19.1.98;
NQ, 28.1.98.17
[18]
TA, 19.1.98; Presse vom 31.10.98.18
[19]
Die Volkswirtschaft, 1999, Nr. 3, S. 26*. Vgl.
SPJ 1997, S. 233.19
[20]
24 Heures, 27.10.98. Zu einer vom BWA in Auftrag gegebene Studie über Missbräuche in der ALV siehe unten, Teil I, 7c (Arbeitslosenversicherung).20
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