Année politique Suisse 1998 : Politique sociale / Population et travail
Gesamtarbeitsverträge
Diskussionslos nahm der Nationalrat eine parlamentarische Initiative Eymann (lp, BS) an, welche verlangt, dass im Obligationenrecht (Art. 357b OR) festgehalten wird, dass beim Vollzug von gesamtarbeitsvertraglichen Bestimmungen die Sozialpartner
Vertragsverletzungen in Zusammenhang mit dem Abschluss, dem Inhalt und der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht, wie nach geltendem Recht, nur feststellen, sondern neu in eigener Kompetenz korrigieren können. Der Initiant begründete sein Anliegen damit, dass eine
Kompetenzerweiterung der Sozialpartner komplizierte Instanzenwege und die Anrufung ordentlicher Gerichte erübrigen würde
[41].
Der Bundesrat beantragte dem Parlament, das Übereinkommen Nr. 98 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu ratifizieren. Dabei handelt es sich um die von der ILO bereits 1949 ausgearbeitete
Konvention über das Vereinigungsrecht und das Recht zu Kollektivverhandlungen, die zu den sieben sogenannt fundamentalen Übereinkommen der Organisation zählt. Die Schweiz konnte bisher dem Abkommen nicht beitreten, da die Gesetzgebung keine spezifischen Vorschriften gegen diskriminierende Akte vor Stellenantritt wegen gewerkschaftlicher Tätigkeit kannte. Diese Divergenz zur Konvention verschwand erst mit dem neuen Datenschutzgesetz, welches Arbeitnehmer gegen die Verbreitung von Informationen über ihre gewerkschaftlichen Tätigkeiten schützt. Der Ständerat stimmte der Ratifizierung einstimmig zu
[42]. Für weitere ILO-Abkommen siehe unten, sowie Teil I, 7d (Kinder und Jugendliche).
Nach über zwei Jahren vertragslosen Zustandes verabschiedeten die Sozialpartner im
Gastgewerbe einen neuen, auf sechs Monate kündbaren Gesamtarbeitsvertrag (GAV). Die ausgehandelten Arbeitsbedingungen gingen tendenziell eher hinter den zuletzt geltenden GAV zurück. Wesentlich ist die Flexibilisierung der Arbeitszeiten. In kleinen Unternehmen (bis vier Angestellte) beträgt die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit 41 Stunden, in grösseren 45 Stunden; saisonale Abweichungen nach oben sollen durch vermehrte Ferien abgegolten werden
[43].
Hart umkämpft war auch die Aushandlung eines neuen GAV in der
Maschinenindustrie, der rund 130 000 Arbeitnehmer betrifft. Die Gewerkschaft SMUV hatte ursprünglich eine Reduktion der Arbeitszeit auf 36 Stunden pro Woche verlangt, dann aber ihre Forderung auf schrittweise Arbeitszeitverkürzung von 40 auf 38 Stunden bis ins Jahr 2001 reduziert. Der Abschluss wurde dadurch erschwert, dass die involvierten Gewerkschaften (SMUV für die Arbeiter, CMV/LFSA sowie VSAM/SKV für die Angestellten) nicht am gleichen Strick zogen. Angesichts der gespaltenen Haltung der Arbeitnehmervertreter setzten sich schliesslich die Arbeitgeber in der umstrittenen Frage der
Arbeitszeit durch. Als Gegenleistung zu einer Aufwertung der Berufs- und Weiterbildung, zu verbesserten Mitwirkungsmöglichkeiten und zu geringfügigen Verbesserungen bei der Ferienregelung wurde die 40-Stunden-Woche generell beibehalten, jedoch
flexibel ausgestaltet und mit einem Langzeitkonto für Arbeitszeit ausgestattet, das es den Arbeitnehmern gestatten soll, Überzeit für Ferien, Ausbildung oder Frühpensionierung in Anspruch zu nehmen. Die SMUV-Delegierten wiesen den neuen GAV vorerst einstimmig als zu wenig weit gehend zurück. Nachdem die Delegiertenversammlung des VSAM den GAV aber sehr deutlich angenommen hatte, schwenkte der SMUV – wenn auch zähneknirschend – ein, um im Gewerkschaftslager nicht isoliert zu werden. Dank dem Einlenken des SMUV konnte der neue GAV auf den 1. Juli in Kraft gesetzt werden
[44].
Einen gewissen Erfolg erreichten die Gewerkschaften in ihren Verhandlungen mit der für die Basler
Chemieindustrie repräsentativen Firma Ciba. Anstatt der bisher immer mehr angewendeten Einzelarbeitsverträge sollen vermehrt Einheitsverträge für technisches und administratives Personal zur Anwendung kommen
[45].
Typisch für die Entwicklung der letzten Jahre, wo starre GAV zunehmend durch flexible Rahmenübereinkommen ersetzt werden, gestalteten sich die Bemühungen in der
graphischen Branche. Den Ende April 1999 auslaufenden GAV zu erneuern, erwies sich als ziemlich schwierig. Während die Gewerkschaften einen neuen GAV mit verbindlichen Vorgaben verlangten, waren die Arbeitgeber nur zum Abschluss einer flexiblen Rahmenvereinbarung bereit. Ihnen schwebte als Vorbild eines neuen Vertrages das Abkommen in der Maschinenindustrie vor. Erste Gespräche verliefen denn auch ziemlich ergebnislos
[46].
Als Erstrat behandelte der
Ständerat eine mögliche
Verankerung des Streikrechts im Grundrechtskatalog der nachgeführten
Bundesverfassung (Art. 28 Abs. 3). Der Bundesrat hatte vorgeschlagen, das Recht auf Streik und Aussperrung als Derivate der Koalitionsfreiheit zu gewährleisten, aber nur wenn sie die Arbeitsbeziehungen betreffen und keinen Verpflichtungen zur Wahrung des Arbeitsfriedens und zum Führen von Schlichtungsverhandlungen entgegenstehen, womit politisch motivierte Streiks weiterhin keinen Verfassungsschutz geniessen sollten. Er sah auch gesetzliche Ausnahmen des Streikrechts, etwa für Beamte, vor (Abs. 4). Die Mehrheit in der kleinen Kammer hielt dem entgegen, dass dieses Recht zwar durch Leitentscheide des Bundesgerichtes gewährleistet sei, dass ihm aber kein Grundrechtscharakter zukomme; ein Verfassungsrecht auf Streik bedeute einen Bruch mit der traditionellen Werthaltung in der Schweiz und mache Kampfmassnahmen gleichsam salonfähig, was die nach wie vor bestehende Sozialpartnerschaft gefährde. Die Minderheit replizierte erfolglos, das Streikrecht sei bereits heute Bestandteil der geltenden Rechtsordnung, weshalb es durchaus dem Nachführungsauftrag entspreche, dies nun verfassungsrechtlich zu verankern. Der Rat
lehnte die Aufnahme des Streikrechts mit 24 zu 16 Stimmen
ab [47].
Dem
Nationalrat lag ebenfalls ein rechtsbürgerlicher Streichungsantrag vor, der mit 91 zu 67 Stimmen verworfen wurde. Ein weiterer Antrag, der weitgehend die gleichen Abgeordneten wie der Streichungsantrag auf sich vereinigte, wollte das Recht auf Streik nicht gewährleisten, sondern nur erklären, Streiks seien unter den im Bundesratsentwurf genannten Bedingungen zulässig. Diese Verwässerung des Grundsatzes passte der Linken nicht, weshalb sie einen Antrag Rechsteiner (sp, SG) und einen Eventualantrag Rennwald (sp, JU) einreichte, welche – zumindest auf Verfassungsebene – das Streikrecht ohne Einschränkungen festschreiben wollten; gemäss Rennwald sollte allenfalls der Gesetzgeber jene öffentlichen Dienste bezeichnen, in denen das Streikrecht eingeschränkt ist. Zu Beginn der Eintretensdebatte erklärte Jutzet (sp, FR) im Namen seiner Fraktion, für die Sozialdemokraten sei die Verankerung des Streikrechts “eine Bedingung sine qua non”; ohne Streikrecht könne die SP die neue Verfassung nicht akzeptieren. Nach mehreren Eventualabstimmungen, in denen sowohl die Anträge der Linken wie der Rechten abgelehnt wurden, setzte sich schliesslich die
Zustimmung zum Bundesrat durch
[48].
Im
Ständerat veränderten sich in der Folge die Mehrheiten zugunsten einer Aufnahme des Streikrechts, allerdings
in abgeschwächter Form. Eine Minderheit, zusammengesetzt aus einzelnen Abgeordneten der SVP, FDP und CVP verlangte nach wie vor Streichung, unterlag aber mit 23 zu 15 Stimmen. Eine Zustimmung zum Bundesrat, wie sie die beiden SP-Parlamentarier Aeby (FR) und Gentil (JU) beantragten, wurde allerdings mit 32 zu 4 Stimmen noch klarer zurückgewiesen. Schliesslich obsiegte ein Antrag Inderkum (cvp, UR), wonach Streik und Aussperrung zulässig sind (also nicht mehr “gewährleistet” wie in der bundesrätlichen Fassung), wenn sie Arbeitsbeziehungen betreffen, verhältnismässig sind und keinen Verpflichtungen entgegenstehen, den Arbeitsfrieden zu wahren oder Schlichtungsverhandlungen zu führen. Keine Aufnahme fand der von der Kommission eingebrachte Zusatz, Streiks und Aussperrungen müssten von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen getragen werden
[49].
In der zweiten Lesung des
Nationalrates verlangte eine rechtsbürgerliche Minderheit unter Fischer (svp, AG) erneut Streichen, unterlag aber 107 zu 50 Stimmen noch deutlicher als in der ersten Abstimmung. Gegenüber der Mehrheit der Kommission, welche dem Ständerat zustimmen wollte, setzte sich ein Antrag Loretan (cvp, VS) durch, der zwar der kleinen Kammer folgen (
Zulässigkeit anstatt Gewährleistung), den Begriff der Verhältnismässigkeit aber nicht übernehmen wollte, da dies ohnehin eine Maxime öffentlichen Handelns und in Abs. 2 von Art. 28 bereits enthalten sei, welcher stipuliert, dass Arbeitsstreitigkeiten nach Möglichkeit durch Verhandlung beizulegen sind. Ohne den Begriff
“Schicksalsartikel” überstrapazieren zu wollen, wies er doch darauf hin, dass eine allzu starre Haltung gegenüber der linken Minderheit im Parlament zu einem Scheitern der gesamten Revision führen könnte. Die Ratslinke, welche erneut beantragt hatte, dem Bundesrat zuzustimmen resp. das Recht auf Streik noch pointierter zu fassen (Einzelantrag Rennwald, sp, JU) verstand den Wink und zog ihre Anträge zurück, um nicht das Streikrecht generell zu gefährden, worauf der Antrag Loretan mit 96 zu 62 Stimmen angenommen wurde
[50]. Nach diesen deutlichen Mehrheitsverhältnissen in der grossen Kammer
stimmte der Ständerat der letzten Version des Nationalrates
zu, unterstrich aber noch einmal deutlich, dass sich damit nichts an der bestehenden Rechtslage, wie sie das Bundesgericht in mehreren Leitentscheiden definiert hat, ändert. Politische und sogenannte “wilde” Streiks seien auch in Zukunft verboten
[51].
Aufgrund der Durchsicht der Medienmeldungen konnte für 1998
keine Arbeitsniederlegung ausgemacht werden, welche den Kriterien des BWA und der ILO (Streik = Arbeitsniederlegung während mindestens einem Arbeitstag) entspricht
[52].
[41]
Amtl. Bull. NR, 1998, S.
457 ff.41
[42]
BBl, 1999, S. 513 ff.;
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 1258 ff.42
[43]
TA, 28.1. und 9.6.98;
NZZ, 11.6.98;
LT, 11.12.98. Vgl.
SPJ 1996, S. 231 und
1997, S. 239.43
[44]
Bund, 2.6. 98; Presse vom 9.6., 19.6., 20.6., 22.6., 26.6. und 30.6.98;
LT, 11.6.98;
TA, 18.6.98;
BaZ, 27.6.98.44
[45]
BaZ, 20.6.98;
NZZ, 24.6. und 19.12.98. Vgl.
SPJ 1996, S. 231.45
[46]
TA, 27.8. und 17.11.98.46
[47]
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 44 ff. und 48 f. Ein (in Rechtskreisen umstrittenes) Urteil des Zürcher Obergerichts bezeichnete aufgrund der fehlenden Verfassungsgrundlage einen Warnstreik als unrechtmässig und lieferte damit Wasser auf die Mühlen der Befürworter: Presse vom 19.2. und 20.2.98;
WoZ, 26.2.98;
TA, 6.3.98.47
[48]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 873 ff.48
[49]
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 694 ff.49
[50]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1774 ff.50
[51]
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 1105 f. “Wilde” Streiks sind solche, die gegen Gesamtarbeitsverträge verstossen; ein “politischer” Streik war der “Frauenstreik” von 1991. Zu den Auswirkungen der Aufnahme des Streikrechts auf eine allfällige Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta siehe unten, Teil I, 7c (Grundsatzfragen).51
[52] Für die Zahlen des BWA zu den Arbeitskonflikten 1997 siehe
Die Volkswirtschaft, 1998, Nr. 11, S. 56-57.52
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