Année politique Suisse 1998 : Politique sociale / Population et travail
 
Schutz der Arbeitnehmer
Ganz knapp, mit 79 zu 78 Stimmen, nahm der Nationalrat eine parlamentarischen Initiative Thanei (sp, ZH) an, welche eine höhere Streitwertgrenze für kostenlose Verfahren bei Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis verlangt. Nach geltender Ordnung aus dem Jahr 1984 sind Verfahren bis zu einem Streitwert von 20 000 Fr. kostenlos. Die Grenze soll nun – gewissermassen teuerungsberichtigt – auf 30 000 Fr. angehoben werden. Der Rat war mit Thanei der Ansicht, dass das Recht zu prozessieren nicht von den finanziellen Möglichkeiten abhängig gemacht werden dürfe [53].
Gleichentags behandelte der Nationalrat auch mehrere Vorstösse zur Verbesserung des Schutzes der Beschäftigten bei Massenentlassungen bzw. bei Firmenübernahmen. Mit einer parlamentarischen Initiative forderte Gross (sp, TG), dass nicht nur bei Betriebsübergaben, sondern auch bei Fusionen die Arbeitsverhältnisse weiterbestehen sollen. Dazu ist eine Präzisierung im Obligationenrecht (Art. 333 OR) nötig. Der Rat folgte Gross und der vorberatenden Kommission und nahm die Initiative mit 88 zu 78 Stimmen an. Abgelehnt (mit 100 zu 69 Stimmen) wurde hingegen eine parlamentarischen Initiative Jans (sp, ZG), der mit einer weiteren Änderung im OR (Art. 335f) erreichen wollte, dass bei Massenentlassungen die Belegschaft 40 Tage Zeit erhält, um Vorschläge zur Vermeidung von Kündigungen resp. zur Milderung ihrer Folgen zu unterbreiten; beim Vorliegen derartiger Vorschläge sollte der Arbeitgeber zu Konsultationen verpflichtet werden. Ebenfalls verworfen (mit 95 zu 67 Stimmen) wurde eine weitere Initiative Thanei (sp, ZH), welche verlangte, dass bei Massenentlassungen die Kündigungsfrist für den Arbeitgeber in jedem Fall mindestens sechs Monate beträgt, währenddem die Arbeitnehmer ein bereits gekündigtes Arbeitsverhältnis in diesem Fall mit einer Frist von 14 Tagen auf das Ende eines Monats sollten auflösen können. Bürgerliche Ratsmitglieder hielten dem entgegen, eine Kündigungsfrist von sechs Monaten würde sich vor allem in Sanierungsfällen kontraproduktiv auswirken [54].
Das Bundesgericht fällte einen Leitentscheid bezüglich der Kündigungsfrist bei einer Betriebsschliessung. Gemäss den Lausanner Richtern gilt der Kündigungsschutz für schwangere Frauen, für kranke oder verunfallte Mitarbeiter oder Personen, die im Miltär- oder Zivildienst weilen vollumfänglich. Bei Betriebsschliessungen habe der Arbeitgeber die ihm obliegenden Verpflichtungen gegenüber seinen Angestellten aus Gesetz und Vertrag einzuhalten. Erst recht gelte dies Personen gegenüber, die sich in einer schutzwürdigen Situation befinden [55].
Das Parlament behandelte den Bericht des Bundesrates über die 84. (seerechtliche) Tagung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1996. Gemäss geltender Praxis möchte die Landesregierung die dabei beschlossenen Übereinkommen nicht ratifizieren, da sie nicht in allen Punkten der bestehenden schweizerischen Gesetzgebung entsprechen. Sie meinte, die Gesetzesänderungen, die notwendig wären, würden nicht im Verhältnis zur Bedeutung stehen, welcher der Meerschiffahrtssektor in der Schweiz hat (21 Schiffe mit rund 400 Seeleuten). Gegen einen Minderheitsantrag aus dem links-grünen Lager, welches die in den ILO-Abkommen enthaltenen Mindeststandards grundsätzlich ratifizieren möchte, um so auch gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft ein Zeichen zu setzen, beschloss der Nationalrat mit 79 zu 58 Stimmen, vom Bericht lediglich Kenntnis zu nehmen. Den gleichen Entscheid traf auch der Ständerat [56].
Der Bundesrat unterbreitete dem Parlament ebenfalls seinen Bericht über drei Übereinkommen der ILO, nämlich die Konventionen Nr. 176 über den Arbeitsschutz in Bergwerken, das Protokoll von 1995 zum Übereinkommen Nr. 81 über die Arbeitsaufsicht sowie das Übereinkommen Nr. 177 und die dazugehörige Empfehlung über die Heimarbeit (Nr. 184). Keines dieser Abkommen enthält Bestimmungen, die mit dem Schweizer Arbeitsrecht inkompatibel wären. In Details entspricht die schweizerische Gesetzgebung aber nicht in allen Punkten den Vereinbarungen. Auch hier war der Bundesrat der Ansicht, es bestehe kein Anlass, von der gängigen Praxis abzuweichen, weshalb er vorderhand auf eine Ratifizierung verzichten möchte. Der Ständerat entsprach bei allen drei Übereinkommen dem Antrag des Bundesrates [57].
 
[53] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 588 ff.53
[54] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 577 ff.54
[55] Presse vom 24.9.98.55
[56] BBl, 1998, S. 4565 ff.; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1722 ff.; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 1257 f.56
[57] BBl, 1999, S. 513 ff.; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 1258 ff. Für zwei gleichzeitig vorgelegte Übereinkommen (Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen resp. Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung) siehe oben sowie unten, Teil I, 7d (Kinder und Jugendliche).57