Année politique Suisse 1998 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Grundsatzfragen
Bereits in der Vernehmlassung zur neuen Bundesverfassung war von bürgerlicher Seite immer wieder verlangt worden, neben der Auflistung der Sozialziele in einem eigenen Kapitel (siehe unten) und der Übernahme ungeschriebenen Verfassungsrechts im Bereich der minimalen Existenzsicherung (siehe oben, Teil I, 7b, Sozialhilfe) müsse auch ein Artikel über die Pflichten des Individuums gegenüber dem Staat aufgenommen werden. Nach mehrmaligem Hin und Her zwischen den Kammern stimmte das Parlament schliesslich einem neuen Art. 6 (Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung) zu, der besagt, dass jede Person für sich selber Verantwortung wahrnimmt und nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft beiträgt. Der Nationalrat hatte diese Bestimmung mit der Ergänzung versehen wollen, dass jede Person ihre Fähigkeiten nach ihren Neigungen soll entfalten und entwickeln können. Angesichts der Opposition von Ständerat und Bundesrat, welche dies als Ausdruck einer individualistischen Grundhaltung erachteten, der man hier gerade entgegentreten möchte, verzichtet die grosse Kammer schliesslich auf diesen Zusatz [1].
Bei den Sozialzielen in Art. 41, der in einem eigenen Kapitel Grundsätze bündelt, die in der bisherigen Verfassung an verschiedener Stelle standen oder in internationalen Verträgen stipuliert sind, schlug der Bundesrat vor, in Abs. 1 das Subsidiaritätsprinzip, wonach sich Bund und Kantone ”in Ergänzung zu privater Initiative und Verantwortung” im Rahmen ihrer verfassungsmässigen Zuständigkeiten und ihrer verfügbaren Mittel dafür einsetzen, dass jede Person an der sozialen Sicherheit teilhat und besonders gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Invalidität, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, Verwaisung oder Verwitwung gesichert ist, ausdrücklich zu erwähnen. Beide Kammern ergänzten auf Antrag ihrer jeweiligen Kommission den Begriff der Verantwortung mit dem Adjektiv der ”persönlichen” Verantwortung. Im Nationalrat versuchte die Linke mit zwei Minderheitsanträgen vergeblich, sowohl das Subsidiaritätsprinzip wie den Hinweis auf die verfügbaren Mittel zu streichen. Sie argumentierte, Sozialziele gehörten als eigenständiger – und nicht im gleichen Atemzug wieder einzuschränkender – Grundpfeiler in die Verfassung. Die bürgerliche Mehrheit machte deutlich, dass die Erwähnung dieser Elemente sowie der individuellen Verantwortung für sie der Preis dafür sei, dass dieses – in der Vernehmlassung durchaus nicht unbestrittene – Kapitel in dieser Form überhaupt in der nachgeführten Verfassung verbleibe, und sie setzte sich mit 117 zu 62 resp. 116 zu 62 Stimmen klar durch.
Streichen wollte die linke Minderheit auch den zweiten Absatz des Artikels, wonach aus den Sozialzielen keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden können. Sie erklärte, es gehe nicht an, Sozialziele gleich zweimal zu relativieren. Obgleich es sich eindeutig nicht um Sozialrechte handle, sollten sie doch für alle Behörden als Richtlinien gelten. Die bürgerlichen Parteien erhoben die Beibehaltung dieses Absatzes erneut zur Schicksalsfrage für den ganzen Artikel. Der Streichungsantrag unterlag denn auch in ähnlicher Deutlichkeit wie jener zu Abs. 1, nämlich mit 117 zu 61 Stimmen. Damit waren die inhaltlichen Leitlinien dieses Artikels bereits in erster Lesung bereinigt [2].
In der Herbstsession behandelte der Nationalrat zwei grundsätzliche Vorstösse zur Sozialpolitik. Seine Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) verlangte in einer Motion, der Bundesrat solle bis Ende des Jahres ein Gesamtkonzept für die künftige Sozialpolitik vorlegen, das die Erkenntnisse sozialer Risiken und die Ergebnisse der Berichte IDA-Fiso 1 und 2 einschliesst. Da der Bundesrat auf bereits laufende Vorarbeiten der Verwaltung in diesem Bereich verweisen konnte, folgte das Plenum seinem Antrag und überwies das Anliegen als Postulat. Ebenfalls nur in dieser abgeschwächten Form wurde eine Motion Dormann (cvp, LU) angenommen, welche die Landesregierung verpflichten wollte, eine Projektorganisation einzusetzen, die Vorschläge für eine kohärente Reform des Systems der sozialen Sicherung (Sozialversicherung und Sozialhilfe) und der Existenzsicherung erarbeitet und deren Umsetzung begleitet. Hier vertrat der Bundesrat die Auffassung, eine problemorientierte Lösung dieser Fragen, die sowohl den Bund wie die Kantone und Gemeinden betreffe, könne erst nach Abschluss der Arbeiten zum neuen Finanzausgleich in Angriff genommen werden [3].
Die Frist für die Behandlung der Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta wurde vom Nationalrat um weitere zwei Jahre verlängert. Eine Minderheit meinte, mit der Aufnahme des Streikrechts in den Entwurf zur neuen Bundesverfassung sei einer der beiden Stolpersteine, die bisher eine Genehmigung der Charta verunmöglicht hatten, aus dem Weg geräumt. Die Mehrheit weigerte sich aber, auf den entsprechenden Bundesbeschluss einzutreten, bevor nicht ein endgültiger Entscheid zur revidierten Bundesverfassung vorliegt [4].
Der Nationalrat forderte den Bundesrat mit einem überwiesenen Postulat seiner SGK auf, für die rasche Schliessung von bestehenden statistischen Lücken und für eine Koordination der Statistiken im Bereich der sozialen Sicherung besorgt zu sein [5].
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Finanzierung
Aufgrund der beiden Berichte IDA-FiSo 1 und 2 traf sich der Gesamtbundesrat zu mehreren Aussprachen über die künftige Entwicklung der Sozialwerke. Zwei grundsätzliche Vorgaben leiteten ihn dabei. Erstens die Feststellung, dass sich die Sozialversicherungen alles in allem bewährt haben und politisch gut verankert sind, weshalb sich eine generelle Änderung des Systems nicht aufdrängt. Zweitens die Erkenntnis, dass es zu deren finanzieller Sicherung zusätzlicher Mittel bedarf, und zwar unabhängig davon, ob die Leistungen ausgebaut, auf dem jetzigen Stand eingefroren oder verringert werden. Der Bundesrat will die Sozialwerke auch in Zukunft aus verschiedenen Quellen alimentieren, weil eine Mischfinanzierung am ehesten Stabilität gewähre. Für die Beschaffung zusätzlicher Mittel steht die Erhöhung der Mehrwertsteuer im Vordergrund. Ausgehend von der Gesamtschau von IDA-FiSo 2 definierte die Landesregierung drei Bereiche, die prioritär bearbeitet werden sollen, nämlich die Krankenversicherung mit der Umsetzung der kostendämpfenden Massnahmen, die Arbeitslosenversicherung mit der sozialen und beruflichen Wiedereingliederung und die AHV/IV mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Einnahmen und Leistungen [6].
In der Volksabstimmung vom 7. Juni sprachen sich die Stimmberechtigten für die Sanierung der Bundesfinanzen aus (siehe oben, Teil I, 5, Sanierungsmassnahmen). Die Gegner des neuen Verfassungsartikels hatten im Vorfeld die Befürchtung geäussert, damit würden Tür und Tor für einen unüberlegten Sozialabbau geöffnet. Insbesondere könnte sich der Druck zu weiteren Einsparungen bei der AHV erhöhen. Die Sozialversicherungen seien jedoch auf das Vertrauen der Bevölkerung in ihre langfristige Stabilität angewiesen. Dieses werde durch den Einbezug der Sozialversicherungen in institutionelle Sparautomatismen wie das Haushaltsziel 2001 beeinträchtigt. Die Befürworter, angeführt von Bundesrat Villiger, betonten demgegenüber, dass solide Staatsfinanzen auch die Voraussetzung für eine langfristige Sicherung der Sozialwerke bilden [7].
Am ”Runden Tisch” wurde ausgehandelt, dass die Kantone 500 Mio Fr. zur Sanierung der Bundesfinanzen beitragen. Für gut 180 Mio Fr. davon lagen nach Abschluss der Gespräche drei Varianten vor: Erhöhung der Kostenbeteiligung an der Prämienverbilligung in der Krankenversicherung, Beteiligung an den Kosten der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) oder Erhöhung der Kantonsbeiträge an die AHV. Der Bundesrat entschied sich für letzere Variante. Damit wird der Bund von 1999 an bei der AHV um diesen Betrag entlastet [8].
In Beantwortung einer Einfachen Anfrage Rychen (svp, BE) zu den Sozialversicherungskosten, welche der Schweiz bei Abschluss der bilateralen Verhandlungen mit der EU ins Haus stehen, machte die Landesregierung anfangs Juli erstmals konkrete Angaben. Ihrer Ansicht nach sind die grössten Kosten bei der Arbeitslosenversicherung zu erwarten, da Kurzaufenthalter und Saisonniers künftig nach einem Aufenthalt von sechs Monaten Taggelder beziehen können, wobei die Schweiz die zuvor in einem anderen EU-Staat geleistete Versicherungszeit berücksichtigen muss. Positiv zu vermerken sei aber, dass die EU in eine Übergangsfrist von sieben Jahren einwillige, da die Schweizer Wirtschaft überdurchschnittlich viele Wanderarbeiter mit befristeten Verträgen beschäftigt. In diesem ersten Zeitraum wird die Schweiz jährlich Beiträge von rund 170 Mio Fr. ausbezahlen und weitere 40 Mio Fr. an ausländische Versicherungen rückerstatten. Nach Ablauf der Frist wird volles EU-Recht gelten: dannzumal, schätzte der Bundesrat, werden die Zusatzkosten auf 370 bis 600 Mio Fr. pro Jahr steigen. Eine Entlastung sei dagegen bei den Grenzgängern absehbar. Heute zahlt die Schweiz den Arbeitslosenkassen in den Nachbarländern die Beiträge der Grenzgänger im Umfang von rund 200 Mio Fr. zurück. Diese Rückerstattung ist innerhalb der EU nicht vorgesehen und fällt deshalb nach der Übergangsfrist dahin.
Bei der AHV rechnet der Bundesrat mit jährlichen Kosten von 34 Mio Fr. Für die berufliche Vorsorge liegen die Ausgaben bei 10,7 und für die Familienzulagen bei 2 Mio Fr. Die Krankenversicherung für die Angehörigen von EU-Wanderarbeitnehmern und Grenzgängern wird dem Staat kaum Mehrkosten verursachen, da die Kassen das Angebot selbsttragend gestalten sollen. Allerdings wird die Schweiz in Härtefällen die Prämienverbilligung exportieren müssen. Damit liegen die gesamten Zusatzkosten während der siebenjährigen Übergangsfrist bei 462 Mio Fr. In der anschliessenden Phase mit uneingeschränktem EU-Recht muss mit Kosten von 422 bis 652 Mio Fr. jährlich gerechnet werden. Dem stehen Verbesserungen gegenüber, von denen auch Schweizer im EU-Rahmen profitieren. So ist vorgesehen, die zwischenstaatliche Leistungsaushilfe zu gewähren und die Beitragszeiten an ausländische Sozialversicherungen zu addieren und als Basis für die Auszahlungen zu verwenden [9].
 
[1] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 24 ff., 54 ff., 684 f., 690, 701 und 1100 ff.; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 641 ff., 917 ff., 1756 und 2362 ff.1
[2] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 58 ff., 701 f. und 1006 f.; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 890 ff. und 1786. Im NR beantragte eine Minderheit aus SVP- und FP-Kreisen Streichung des gesamten Kapitels mit dem Argument, in eine Bundesverfassung gehörten keine – zum Teil erst noch vage formulierten – Ziele, unterlag aber sehr deutlich mit 143:32 Stimmen.2
[3] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2171 f. und 2175 f. Zu den Perspektiven in der Sozialversicherung siehe auch die Stellungnahme des BR zu einer Interpellation der CVP-Fraktion (ibid., S. 2913 ff.).3
[4] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2779. Siehe SPJ 1996, S. 253 f.4
[5] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2194.5
[6] Presse vom 20.2.98; SHZ, 15.7.98 (Interview mit BR Dreifuss).6
[7] Presse vom 10.5. bis 6.6.98.7
[8] Presse vom 2.7.98. Siehe oben, Teil I, 5 (Sanierungsmassnahmen).8
[9] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1668 f.; TA, 15.6. und 2.7.98; NLZ, 19.12.98. Siehe dazu auch ein überwiesenes Postulat der SVP-Fraktion (Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2194).9