Année politique Suisse 1998 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Invalidenversicherung
Eine Überraschung ergab sich in der Sommersession vorerst im Nationalrat bei der Beratung der 4. Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IV). Recht knapp mit 84 zu 76 Stimmen folgte die Volkskammer einem Antrag Gross (sp, TG) und beschloss, gegen Bundes- und Ständerat an der Viertelsrente für Personen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung zwischen 40 und 50 Prozent festzuhalten. Den Durchbruch schaffte der Antrag dank der Unterstützung durch bürgerliche Ratsmitglieder aus FDP, CVP und SVP. Die Gegner des nun vom Bundesrat bereits zum dritten Mal präsentierten Vorschlags argumentierten, dass es sich bei den geschätzten 20 Mio Fr. pro Jahr um ”unechte” Einsparungen handle, da dadurch voraussichtlich mehr Halbrenten gesprochen würden; zudem widerspreche die Massnahme dem ursprünglichen Grundsatz der IV (Wiedereingliederung vor Rente), weil damit jede Erwerbstätigkeit über 50% finanziell unattraktiv würde. Die Befürworter einer Streichung führten ins Feld, die Ablösung der Viertelsrente durch eine bessere Berücksichtigung von Härtefällen bei den Ergänzungsleistungen entspreche dem Bestreben, den individuellen Bedürfnissen der betroffenen Personen gerecht zu werden. Bundesrätin Dreifuss verwies zudem darauf, dass die Viertelsrenten im Rahmen der Verträge mit der EU wohl auch ins Ausland exportiert werden müssten, was mit der vorgeschlagenen Überführung der Härtefallrenten ins EL-System vermieden werden könnte. Abgelehnt wurde hingegen ein rot-grüner Antrag, das Defizit der IV mit einer Erhöhung der Beiträge um drei Lohnpromille von heute 1,4 auf 1,7% auszugleichen oder zumindest zu verringern. Die Abschaffung der Zusatzrenten für die Ehepartner passierte auch in der grossen Kammer praktisch diskussionslos [23].
Im Ständerat beantragte eine Minderheit aus CVP und SP, dem Nationalrat zu folgen, unterlag aber mit 25 zu 13 Stimmen. Auch ein Antrag Rochat (lp, VD), Viertelsrenten jeweils nur für zwei Jahre zu sprechen und dann den Fall erneut zu überprüfen, wurde nicht als tauglicher Kompromiss erachtet. Im Nationalrat beantragte die Kommission zwar Festhalten am ersten Entscheid. Da Abklärungen der Verwaltung in der Zwischenzeit jedoch ergeben hatten, dass die Viertelsrenten bei einem Abschluss der bilateralen Verhandlungen tatsächlich exportiert werden müssten, wurde der ohnehin nur knapp zustandegekommene Beschluss gekippt. Mit 76 zu 72 stimmte nun auch die grosse Kammer der Streichung der Viertelsrenten zu; bereits gesprochene Renten sollten aber bestehen bleiben [24].
Vor der Schlussabstimmung kündigte Nationalrat Suter (fdp, BE) im Namen der Behindertenverbände das Referendum gegen diese Gesetzesrevision an. Die Nationalrätinnen Hafner (sp, SH) und Gonseth (gp, BL) sicherten ihm die Unterstützung ihrer Parteien zu. Die Fraktionen der SP, GP und LdU/EVP votierten denn auch geschlossen gegen die Vorlage. Die CVP unterstützte offiziell den Beschluss, doch stimmten mehrere ihrer Abgeordneten dagegen oder enthielten sich der Stimme [25]. Das Referendum wurde von der Schweizer Paraplegikervereinigung und vom Schweizerischen Invalidenverband mit Unterstützung der Dachorganisation der Behindertenhilfe Askio ergriffen und mit 77 580 gültigen Unterschriften Mitte Oktober eingereicht [26].
Im Rahmen der Sanierungsmassnahmen der Bundesfinanzen beschloss der Nationalrat gegen den Widerstand der Linken, vom Bund beaufsichtigte, regionale ärztliche IV-Dienste zu schaffen, welche die bestehenden kantonalen Strukturen ablösen sollen. Von dieser stärkeren Einbindung in die Weisungskompertenz des BSV erhoffte sich der Bundesrat eine Abschwächung des Ausgabenwachstums in der IV. Die Gegner befürchteten, eine fast ausschliessliche Untersuchungskompetenz durch eigens dafür angestellte Ärzte könnte dazu führen, dass die medizinisch-theoretische Bewertung ausschlaggebend wird gegenüber dem bisherigen Invaliditätsbegriff, bei dem es auf die wirtschaftlichen Folgen eines Gesundheitsschadens im Einzelfall ankommt. Da dieser Vorschlag auch in der 4. IV-Revision enthalten ist, gegen welche in der Zwischenzeit erfolgreich das Referendum eingereicht wurde, gehe es ohnehin nicht an, vor der Abstimmung einen einzelnen Gesetzesartikel herauszupicken. Trotz all dieser Bedenken wurde der Vorschlag mit 90 zu 66 Stimmen angenommen [27].
 
[23] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1244 ff. und 1248 ff. Vgl. SPJ 1997, S. 266. Zur Kostenentwicklung in der IV siehe: F. Donnini, ”Anstieg der IV-Rentenbezüger: Erklärungsansätze”, in CHSS, 1998, S. 202-207.23
[24] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 734 ff.; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1398 ff.24
[25] Im StR wurde die Revision schliesslich mit 35:4 Stimmen angenommen, im NR mit 92:77 Stimmen bei 12 Enthaltungen (Amtl. Bull. StR, 1998, S. 839; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1634 f.).25
[26] BBl, 1999, S. 241 f.; CHSS, 1998, S. 166-167; Presse vom 15.10.98. Zu einer von den Behindertenorganisationen lancierten Volksinitiative für eine entschiedenere Gleichstellungspolitik siehe unten, Teil I, 7d (Invalide). Für Sparmassnahmen der IV im Bereich der Suchttherapie vgl. oben, Teil I, 7b (Drogen).26
[27] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2427 ff. Zu den Sanierungsmassnahmen generell siehe oben, Teil I, 5 (Sanierungsmassnahmen). In der die 4. IV-Revision vorberatenden Kommission des NR war die Einführung eines zentralisierten ärztlichen Dienstes hart umstritten gewesen, im Plenum geriet dieser Punkt dann in den Schatten der Diskussionen um die Viertelsrente und passierte diskussionslos, was im StR einiges Erstaunen hervorrief (Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1264; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 739 f.).27