Année politique Suisse 1998 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Mutterschaftsversicherung
Die vorberatende Kommission des Ständerates trug den Bedenken aus dem bürgerlichen Lager Rechnung und erarbeitete für die Mutterschaftsversicherung (MSV) ein von den Vorschlägen des Bundesrates abweichendes Finanzierungsmodell unter Ausschluss von Lohnprozenten. Alle Leistungen für erwerbstätige und nichterwerbstätige Mütter (gesamthaft jährlich rund eine halbe Milliarde Franken) sollen aus einem neuen gemeinsamen Fonds bezahlt werden. Dieser soll in einer ersten Phase mit Geldern aus der Erwerbsersatzordnung für Militärdienstpflichtige (EO) gespiesen werden, die über ein Reservepolster von gut 2,5 Mia Fr. verfügt. Zeichnet sich ab, dass der Fonds unter den Betrag einer halben Jahresausgabe fällt, soll mit der Zustimmung der Stimmberechtigten die Mehrwertsteuer (MWSt) angezapft werden, und zwar mit 0,25% Prozent. Im Fall einer Ablehnung durch das Volk hätte der Bundesrat die Kompetenz, den EO-Lohnabzug von 0,3 auf 0,5% zu erhöhen. Die vom Bundesrat vorgeschlagenen Leistungen schienen der Mehrheit der Kommission hingegen angemessen [58].
Eintreten auf die Vorlage war in der kleinen Kammer nicht bestritten, doch ertönten sehr kritische Voten aus den Reihen der FDP. Am heftigsten äusserte sich Schiesser (GL). Er gestand zwar gute Gründe für eine MSV ein und bezeichnete die Vorlage als letztlich moderat. Er erinnerte Bundesrätin Dreifuss aber auch an die ungelösten Finanzierungsprobleme in den anderen Sozialversicherungen und stellte bei der Landesregierung einen Mangel an klaren Vorstellungen und nachhaltigen Konzepten zum Sozialversicherungssystem fest. Die Vorlage fand hingegen Unterstützung bei den beiden FDP-Frauen Saudan (GE) und Forster (SG), welche betonten, die heutigen Ungleichheiten im arbeitsrechtlichen Mutterschaftsschutz müssten unbedingt korrigiert werden. Die Vertreter der CVP stellten sich – traditionellerweise – voll und ganz hinter die MSV, vor allem da mit dem neuen Finanzierungsmodell ein durchaus wirtschaftsfreundlicher Vorschlag zur Debatte stehe. Die SP beteiligte sich nicht an der Eintretensdebatte.
Zu Beginn der Detailberatung stellte Beerli (fdp, BE) den Antrag, auf die Grundleistung für alle Mütter zu verzichten. Die Grundbeiträge stellten in Tat und Wahrheit eine ”Geburtsprämie” dar, die in einer liberalen Gesellschaft nicht zu suchen habe. Eine Versicherung könne nur einen Schaden ausgleichen, und der erfolge eben beim Erwerbseinkommen. Mit der Einführung der Grundbeiträge werde das Versicherungs- mit einem Bedarfssystem im gleichen Gesetz vermischt, wobei es sich bei der Geringfügigkeit der Beträge gar nicht um echte Bedarfsleistungen handle, für die ohnehin die Kantone zuständig wären. Mit ihrer Argumentation fand die Bernerin nicht viel Gehör. Sowohl Brunner (sp, GE) wie Delalay (cvp, VS) erinnerten an die vielen Frauen, die aufgrund ihrer familiären Pflichten gar nicht auswärts arbeiten können; ohne Grundleistung würden diese Frauen für ihr Engagement zugunsten der Familie quasi bestraft. Simmen (cvp, SO) setzte sich ebenfalls klar für die Grundbeiträge ein; es gehe weniger um die Frage, ob es eine echte Versicherung sei oder nicht, sondern vielmehr um einen gesellschaftspolitischen Entscheid für die Zukunft der Familien. Mit 25 zu 8 Stimmen wurde der Antrag Beerli deutlich abgelehnt. Mehr Glück hatte Respini (cvp, TI) mit seinem Antrag, die Adoption der leiblichen Geburt gleichzusetzen und mit analogen Leistungen zu honorieren. Die Kommission hatte diesen Vorschlag des Bundesrates wieder aus der Vorlage gekippt. Mit Unterstützung von Bundesrätin Dreifuss setzte er sich mit 23 zu 11 Stimmen durch.
Die Geister schieden sich dann aber vor allem an der Frage, ob die Erhöhung der MWSt in einer speziellen Abstimmung oder zusammen mit dem Gesamtpaket, das der Bundesrat im Jahr 2000 oder 2001 für die finanzielle Sicherung der Sozialwerke (AHV und IV) vorlegen will, erfolgen soll. Vor allem die Vertreter der FDP und SVP bezeichneten eine generelle Abstimmung als ”Mogelpackung” und drängten auf eine Grundsatzabstimmung vor Einführung der MSV, da es nicht angehe, einen neuen Versicherungszweig einzuführen, bevor dessen langfristige Finanzierung gesichert sei. Von ihren Kontrahenten aus SP und CVP mussten sie sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, auf diese Weise die gesamte Vorlage torpedieren zu wollen. Auch Bundesrätin Dreifuss plädierte für eine Verschiebung der Abstimmung, da Kaskadenabstimmungen zur MWSt vermieden werden sollten, und zu verhindern sei, dass die verschiedenen Sozialwerke gegeneinander ausgespielt werden. Schliesslich stand eine Gruppe aus FDP, SVP und einzelnen Christdemokraten einer gleich starken Koalition bestehend aus der SP, der Mehrheit der CVP und einzelnen Freisinnigen aus der Romandie gegenüber. Mit 20 zu 20 Stimmen führte die Abstimmung denn auch zu einem Patt. Ratspräsident Zimmerli (svp, BE) gab den Stichentscheid zugunsten einer vorgezogenen Abstimmung [59].
Im Nationalrat sprach sich ebenfalls (mit 139 zu 38 Stimmen) eine Mehrheit für die Eintreten aus. Einzig die SVP – mit Ausnahme ihrer weiblichen Abgeordneten , ein paar Freisinnige um Egerszegi (AG) sowie die äussere Rechte hatten Nichteintreten beantragt. In der Detailberatung war der Grundsatz, dass auch nichterwerbstätige Mütter eine Grundleistung beziehen sollen, kaum bestritten, ebensowenig wie das Prinzip, die Adoption der natürlichen Geburt gleichzusetzen. Zu etwas mehr Diskussionen führte die Ausgestaltung der Lohnfortzahlung für die erwerbstätigen Mütter. Gegen Bundesrat und Ständerat schlug die Kommission vor, hier 16 anstatt 14 Wochen vorzusehen, da dies auch dem internationalen Vergleich standhalten würde. Der Berner CVP-Vertreter Hochreutener warnte aber davor, das Fuder zu überladen, worauf sich der Rat mit 101 zu 75 Stimmen für die kürzere Frist entschied. Zweiter Diskussionspunkt war die Frage, welcher Prozentsatz des Lohnes entschädigt werden soll. Der Ständerat war hier dem Bundesrat gefolgt und hatte 80% des letzten Lohnes beschlossen. Die Grüne Baselbieterin Gonseth beantragte, den Lohnausfall zu 100% auszugleichen. Sie argumentierte, mit 14 Wochen Schwangerschaftsurlaub und 80% stehe die Schweiz im europäischen Vergleich immer noch am Schluss. Zapfl (cvp, ZH) gab demgegenüber zu bedenken, mit einer Pauschalleistung für alle Mütter und einem 80prozentigem Lohnersatz biete dies Frauen mit einem Jahreseinkommen bis 48 000 Fr. vollen Ausgleich. Mit 105 zu 67 Stimmen entschied der Rat gegen den Antrag Gonseth.
Bei der Finanzierung folgte der Nationalrat im Grundsatz diskussionslos der kleinen Kammer. Damit waren allfällige Lohnprozente definitiv vom Tisch. Um so heftiger war die Frage umstritten, ob der Start der MSV so lange ausgesetzt werden soll, bis die für eine langfristige Finanzierung nötigen Mehrwertsteuerzuschläge in einer Gesamtabstimmung vom Volk bewilligt sind. SP, CVP und GP erklärten, gegen das neue Gesetz könne ohnehin noch das Referendum ergriffen werden; jene (rechts)bürgerlichen Kreise, welche eine separate MWSt-Vorlage verlangten, wollten nur den neuen Versicherungszweig am Ständemehr scheitern lassen. Die SVP, die äussere Rechte und ein Teil der FDP bezeichneten die Vorlage ohne vorgängige langfristig sichergestellte Finanzierung hingegen einmal mehr als ”Mogelpackung”. Überraschend deutlich mit 111 zu 68 Stimmen setzte sich schliesslich die Auffassung durch, die vorläufige Finanzierung der MSV mit den Mitteln der EO sei legitim, weil dieser Fonds stark überschüssig sei und seit Beginn seines Bestehens mit Beiträgen erwerbstätiger Frauen gespiesen worden sei; der allfällig notwendig werdende Rückgriff auf die MWSt solle erst später im Rahmen eines ohnehin vorgesehenen Gesamtpaketes erfolgen [60].
In der Wintersession debattierte der Ständerat noch einmal heftig über die Finanzierung bzw. über deren Fahrplan. Mit 23 zu 21 Stimmen schloss sich die kleine Kammer dann doch dem Nationalrat an, was bedeutet, dass die MSV auch ohne vorgängige MWSt-Abstimmung eingeführt werden kann. Zu verdanken war der Entscheid vor allem der Geschlossenheit und Diszipliniertheit der CVP, welche die Linke unterstützte. Die Freisinnigen (mit Ausnahme von Saudan, GE), die SVP und die Liberalen stimmten dagegen. Nach diesem Grundsatzentscheid waren nur noch unwesentliche Details zu bereinigen. In der Gesamtabstimmung wurde das Gesetz im Nationalrat mit 116 zu 58 Stimmen verabschiedet, mit 25 zu 10 Stimmen im Ständerat [61].
Die Junge SVP kündigte bereits im Vorfeld der Differenzbereinigung an, dass sie das Referendum ergreifen werde, falls die MSV ohne vorgängige MWSt-Abstimmung eingeführt werden sollte. Obgleich sich die Arbeitgeber durch die MSV mehrheitlich entlastet sähen, da die tariflich vereinbarten internen Lohnfortzahlungen weitgehend wegfallen würden, erklärten sie dennoch, ihre Fundamentalopposition gegen dieses neue Sozialversicherungswerk beizubehalten und das Referendum höchst wahrscheinlich zu unterstützen. Die gleiche Haltung nahm auch der Gewerbeverband ein [62].
 
[58] Presse vom 1.4.98. Siehe SPJ 1997, S. 272.58
[59] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 742 ff. und 762 ff.59
[60] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2071 ff., 2081 ff. und 2094 ff.60
[61] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 1218 ff. und 1402; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2594 und 2952 f.61
[62] TA, 4.11.98; BaZ, 5.11.98; LT, 9.11.98; Presse vom 12.11. und 26.11.9862