Année politique Suisse 1998 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Arbeitslosenversicherung
Die erfreuliche Entwicklung bezüglich der Arbeitslosigkeit (siehe oben, Teil I, 7a, Arbeitsmarkt) führte zu einem gegenüber dem Vorjahr günstigeren Rechnungsabschluss der Arbeitslosenversicherung (ALV). Der Gesamtaufwand sank von 8,4 auf 6,7 Mia Fr., der Fehlbetrag entsprechend von 2,3 auf 0,3 Mia Fr. [63]. Gemäss ersten provisorischen Zahlen des BWA bezogen im Berichtsjahr 10,7% Personen weniger als im Vorjahr Arbeitslosengelder. Die Bezugstage sanken um 18,9% und die durchschnittliche Bezugsdauer nahm um 8,7% ab [64].
Bei den Gesprächen am ”Runden Tisch” (siehe oben, Teil I, 5, Sanierungsmassnahmen) einigten sich die Teilnehmer bei den einkommenswirksamen Massnahmen unter anderem auf die Weiterführung bis 2003 des dritten Lohnprozentes, die befristete Deplafonierung eines weiteren ALV-Lohnprozentes und die Anhebung des in der Unfallversicherung maximal versicherten Lohnes von 97 200 Fr. auf 106 800 Fr. sowie auf Kürzungen im Leistungsbereich (Wechsel vom Lohn zum Taggeldkonzept bei Beschäftigungsprogrammen, Beschränkung der Bezugsdauer für Wiedereinsteigerinnen von 520 auf 260 Tage). Damit, so rechnete das Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit (BWA, ex-Biga) vor, sollten bis zu diesem Zeitpunkt die Schulden der Versicherung abgetragen sein. In der Wintersession stimmte der Nationalrat diesem Kompromiss der Sozialpartner zu. Gegen den Widerstand von Goll (sp, ZH), die befand, dies sprenge die Gespräche am ”Runden Tisch” nahm die grosse Kammer auch zwei Motionen ihrer Kommission an, welche den Bundesrat verpflichten, bis zum Winter 2000 einen Revisionsplan für die ALV vorzulegen mit dem Ziel einer Rückkehr auf zwei Lohnprozente, sowie Massnahmen zur Reduktion der Verwaltungskosten in der ALV zu ergreifen [65].
Auf eine grundlegende Neuordnung der ALV zielte eine Motion von Nationalrat Bonny (fdp, BE) ab, die verlangte, die heutigen Vollzugsorgane des Bundes, der Kantone, der Gemeinden und der Arbeitslosenkassen im Bereich der ALV seien durch ein Modell analog der SUVA zu ersetzen (öffentlich-rechtliche Anstalt unter Aufsicht der Sozialpartner und finanziert durch den ALV-Fonds). Da der Vorstoss von Vollmer (sp, BE) bekämpft wurde, fand vorderhand keine Diskussion darüber statt [66].
Im Vorjahr hatte der Ständerat gegen den erbitterten Widerstand der Linken sowie unter Missbilligung des Bundesrates eine Motion überwiesen, welche einschneidende Massnahmen zur Sanierung der ALV verlangte, insbesondere Leistungskürzungen auf allen Ebenen. Angesichts des fragilen Gleichgewichts der Gespräche am ”Runden Tisch” wurde die Motion vom Nationalrat zwar als Postulat angenommen, dann aber gleich abgeschrieben [67].
Mit einer Motion verlangte Ständerat Bieri (cvp, ZG), dass das Arbeitslosenversicherungsgesetz (Avig) so zu ändern sei, dass Militärdienstleistenden zwischen zwei in kurzer Zeit aufeinanderfolgenden Beförderungsdiensten bei Arbeitslosigkeit eine Entschädigung ausbezahlt werden kann. Bundesrat Delamuraz meinte, dies sei kein gangbarer Weg, denn damit würde ein wesentlicher Pfeiler des Systems, nämlich der Grundsatz der Vermittlungsfähigkeit zum Bezug der Leistungen, herausgebrochen. Er erklärte sich hingegen bereit, das Problem zu prüfen und beantragte Umwandlung in ein Postulat. Der Rat hielt aber mit 15 zu 12 Stimmen an der verbindlichen Form fest [68].
In einer als Postulat überwiesenen Motion ersuchte Nationalrat Imhof (cvp, BL) den Bundesrat zu überprüfen, wie das Kriterium der zumutbaren Beschäftigung in den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) umgesetzt wird. Der Bundesrat begründete seinen Antrag auf Abschwächung in ein Postulat mit der Feststellung, der Begriff der Zumutbarkeit sei nicht immer eindeutig zu handhaben und die Mitarbeiter der RAV müssten dazu noch einschlägige Erfahrungen sammeln können [69].
Mit einer Motion wollte Nationalrat Vollmer (sp, BE) erreichen, dass im Interesse der Förderung von Ausbildungsplätzen die Bestimmung des Avig gelockert wird, wonach die Arbeitgeber auf den dafür von der ALV gesprochenen Zuschüssen nicht sozialversicherungspflichtig sind; für die Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes sollte allenfalls die ALV aufkommen. Der Bundesrat äusserte in seiner Stellungnahme die Befürchtung, die vorgeschlagene Regelung könnte dazu führen, dass Arbeitgeber solche Ausbildungsplätze zulasten regulärer Lehrstellen ausbauen könnten. Er erklärte sich aber bereit, die Frage erneut zu prüfen, sobald sich der heute sehr angespannte Lehrstellenmarkt deutlich verbessert. Auf seinen Antrag wurde die Motion als Postulat überwiesen [70].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Langenegger (fdp, VD), welches anregt, dass junge Leute, welche eine Anlehre absolviert haben, bei der Arbeitslosenentschädigung den Lehrlingen gleichgestellt werden, die direkt nach ihrer Ausbildung keine Stelle finden. Heute ist es so, dass Lehrlinge in diesem Fall 127 Fr. pro Tag erhalten, während Angelernten nur 40 Fr. pro Tag ausbezahlt werden. Da beide Personenkategorien dem Bundesgesetz über die Berufsbildung unterstellt sind, befand die Postulantin, diese Ungleichbehandlung sei stossend [71].
Wiedereinsteigerinnen, die nach der Erziehungsperiode eine Erwerbsarbeit aufnehmen möchten, aber keine Stelle finden, dürfen seit 1996 Arbeitslosengelder beziehen, selbst wenn sie nie Beiträge der ALV bezahlt haben. Der Gesetzgeber hatte dabei vor allem an mehr oder minder vermittelbare Schweizerinnen gedacht, die aufgrund familiärer Umstände praktisch dazu gezwungen sind, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. In der Praxis zeigte sich, dass dieses Angebot vor allem von Ausländerinnen namentlich aus Ex-Jugoslawien in Anspruch genommen wird, oft kurz nach ihrer Einreise in die Schweiz, und obgleich sie noch Kinder im Betreuungsalter haben; da sie in den meisten Fällen schlecht oder gar nicht ausgebildet sind, gelingt es ihnen nur selten, tatsächlich eine Stelle zu finden. In den ersten zweieinhalb Jahren ihres Bestehens kostete die neue Regelung die ALV gegen 80 Mio Fr., ein Vielfaches des ursprünglich geschätzten Betrages. Der Bundesrat anerkannte, dass hier die Möglichkeit eines Missbrauchs bestehe, weshalb er bereit war, eine Motion Baumann (svp, TG) entgegenzunehmen, die ihn verpflichtet, das Gesetz in dem Sinn anzupassen, dass nur Frauen in den Genuss der Versicherungsleistungen kommen, die vor ihrer Erziehungsperiode während mindestens sechs Monaten eine beitragspflichtige Erwerbstätigkeit in der Schweiz ausgeübt haben. Der Vorstoss wurde jedoch aus dem links-grünen Lager bekämpft und deshalb vorderhand der Diskussion entzogen [72].
Unmut bei den Angestelltenverbänden und den Gewerkschaften weckte die Weisung des BWA, Abgangsentschädigungen als ALV-relevanten Lohn zu betrachten und den Entlassenen deshalb vorderhand keine Arbeitslosenentschädigung auszurichten. Der Streit entzündete sich am Sozialplan für die rund 1800 Personen, die als Folge der Fusion von Bankgesellschaft und Bankverein ihre Stelle verloren. Gemäss den Arbeitnehmervertretern sollten die – teilweise sehr grosszügigen – Abfindungen unter anderem als Startkapital für die Gründung einer eigenen Firma dienen; das Stempelgeld sollte dagegen den täglichen Lebensbedarf abdecken [73]. Auch die Genfer Ständerätin Brunner (sp) rief den Bundesrat dazu auf, Abgangsentschädigungen nicht wie Lohnfortzahlungen zu behandeln. Erstere würden für die Betroffenen weitergehende Nachteile ausgleichen, etwa den Wegfall der betrieblichen Taggeldversicherung oder den Altersbonus [74]. Angesichts der geballten Opposition kam das BWA auf seinen Entscheid zurück; dies wurde auch von Arbeitgeberverbandsdirektor Hasler begrüsst, der meinte, dass mit dieser Weisung der Zweck eines Sozialplanes ausgehöhlt worden wäre [75].
Das BWA krebste gegenüber früher gemachten Aussagen zurück und erklärte, die Missbräuche in der ALV seien deutlich geringer als ursprünglich vermutet. Unter den 18% Taggeldbezügern, die 1997 ihre Anspruchsberechtigung vorübergehend verloren, wurde nur 6% grobes Verschulden vorgeworfen. 12% wurden wegen eines Fehlverhaltens bestraft, das oftmals aufgrund mangelnder Information erfolgte. Stärker ins Gewicht fallen Unregelmässigkeiten der Betriebe in den Bereichen Kurzarbeits- und Schlechtwetterentschädigung. In 174 Stichproben wurden 112 Regelverstösse festgestellt. Bei knapp 6% handelte es sich um eigentliche Missbräuche, 4% lagen in der Grauzone zwischen Missbrauch und Fehlverhalten, und 54% der kontrollierten Betriebe wurden der Nachlässigkeit bezichtigt [76].
Für Pilotprojekte der ALV zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit siehe oben, Teil I, 7a (Arbeitsmarkt).
 
[63] CHSS, 1999, S. 2-3.63
[64] Die Volkswirtschaft, 1999, Nr. 5, S. 30*.64
[65] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2427 ff. und 2434 f.; TA, 7.7.98; LT, 23.10.98; Presse vom 7.11.98. In der Frühjahrssession nahm der StR eine Motion Cottier (cvp, FR) als Postulat an, welche u.a. die (zeitlich befristete) Weitererhebung des 3. Lohnprozentes sowie die Aufhebung der Höchstgrenze beim beitragspflichtigen Lohn verlangte (Amtl. Bull. StR, 1998, S. 391 ff.). Ebenfalls als Postulat überwiesen wurde eine Motion Lötscher (cvp, LU) im NR, die Obergrenze vom Zweieinhalbfachen des für die Unfallversicherung massgebenden Höchstbetrags auf mindestens das Zehnfache zu erhöhen (Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2653 f.).65
[66] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1518 f. Zu den Wiedereinsteigerinnen siehe auch unten.66
[67] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2643 ff. Siehe SPJ 1997, S. 274 f.67
[68] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 393 ff.68
[69] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2835 ff.69
[70] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2655 f.70
[71] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2198 f.71
[72] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2835. Für ein Postulat mit ähnlicher Stossrichtung vgl. ibid., S. 2198. Siehe auch die Ausführungen des BR zu einer Interpellation im NR (ibid., S. 1557 f.). Das BWA reagierte auf diese Missbrauchsvermutung mit der Weisung an die kantonalen und regionalen Arbeitsvermittlungsstellen, diese Frauen umgehend einem Beschäftigungsprogramm zuzuweisen, um ihren Willen zur arbeitsmarktlichen Integration so auf die Probe zu stellen (24 Heures, 17.7.98). Im Rahmen des Sanierungsprogramms der Bundesfinanzen wurde die Bezugsdauer für Wiedereinsteigerinnen von 520 auf 260 Tage reduziert (s. oben).72
[73] Presse vom 22.4.98.73
[74] 24 Heures, 6.5.98.74
[75] Bund, 16.5.98.75
[76] Lit. Aeppli. Die hohe Anzahl der beanstandeten Betriebe erklärt sich allerdings auch dadurch, dass das BWA vor allem Betriebe kontrolliert, die bereits in der Vergangenheit durch Fehlverhalten aufgefallen sind. Vgl. dazu auch die Stellungnahme des BR zu einer Interpellation der SP-Fraktion (Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1556 f.). Vgl. SPJ 1993, S. 227 und 1997, S. 276.76