Année politique Suisse 1998 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Grundsatzfragen
Im Zweckartikel (Art. 2) der neuen Bundesverfassung nahm der Nationalrat auf Vorschlag seiner Kommission einen zusätzlichen Absatz an, der die Eidgenossenschaft verpflichtet, für eine möglichst grosse Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern zu sorgen. Der Ständerat, dem in erster Lesung kein entsprechender Vorschlag vorgelegen hatte, lehnte einen Antrag Aeby (sp, FR), hier dem Nationalrat zu folgen vorerst mit dem Argument ab, die Erwähnung der Chancengleichheit an so prominenter Stelle würde unerfüllbare Erwartungen wecken [1]. In der Folge beharrten beide Räte auf ihrer Sicht der Dinge; erst in der Einigungskonferenz setzte sich dann die Version des Nationalrates durch [2].
Der Vorschlag des Bundesrates zum Gleichstellungsartikel (Art.8) sah vor, neben dem Grundsatz, wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind (Abs. 1), eine Liste der verbotenen Diskriminierungen anzuführen (Abs. 2). So sollte niemand benachteiligt werden dürfen, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, der Sprache, der sozialen Stellung, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung. Im Ständerat, der die Vorlage als Erstrat behandelte, wollten mehrere Abgeordnete weitere Diskriminierungstatbestände explizit aufnehmen, so etwa Beerli (fdp, BE) den Begriff der Lebensform, um den alternativen Partnerschaften besser gerecht zu werden, Leumann (fdp, LU) das Kriterium des Alters, womit in erster Linie ein besonderer Schutz der Jugend anvisiert wurde, und Brändli (svp, GR) neben der körperlichen und geistigen auch die psychische Behinderung. In zwei Eventualabstimmungen wurden die Anträge Beerli und Brändli angenommen, jener von Leumann ganz knapp abgelehnt. Schliesslich setzte sich aber Spoerry (fdp, ZH) mit dem Argument durch, angesichts der Tatsache, dass wohl keine Aufzählung je abschliessend sein könne, sei es sinnvoller, die Liste gänzlich fallen zu lassen und in Abs. 2 nur zu sagen, dass niemand diskriminiert werden darf [3].
Im Nationalrat wurde der Antrag Spoerry von einer rechtsbürgerlichen Minderheit unter Fischer (svp, AG) eingebracht und zwar in der Form der Zusammenfassung beider Absätze in einen Abs. 1. Da zu diesem Alinea SP-Anträge für eine geschlechtsneutrale Formulierung auch im Französischen und Italienischen eingereicht waren (siehe unten, Frauen), diese Frage aber generell erst vor Abschluss der Gesamtberatung geregelt werden sollte, wurde die Diskussion darüber verschoben – und angesichts der weiteren Beschlüsse der Räte gar nicht mehr aufgenommen. Gegen einen Antrag Leuba (lp, VD), der dem Ständerat beim ganzen Artikel folgen wollte, nahm der Nationalrat mit 101 zu 55 Stimmen den Antrag seiner Kommission zu Abs. 2 an und fügte so die Begriffe der Lebensform und der psychischen Behinderung ein. Zwei Minderheitsanträge vor allem aus den Reihen der SP, welche einerseits die geschlechtliche Orientierung und den Zivilstand, anderseits das Alter ausdrücklich erwähnen wollten, wurden nach ausgiebiger Diskussion mit 85 zu 70 resp. 86 zu 69 Stimmen verworfen [4].
In seiner zweiten Lesung trug der Ständerat dem deutlichen Ergebnis in der grossen Kammer Rechnung und übernahm diskussionslos die Version des Nationalrates. Ebenfalls ohne Opposition passierte der von seiner Kommission aufgenommene Begriff des Alters. Der Berichterstatter gab zu bedenken, je mehr Diskriminierungskriterien aufgeführt würden, desto mehr könnte der Anschein erweckt werden, dass diejenigen benachteiligt werden dürften, die nicht erwähnt sind, weshalb zumindest das Alter auch speziell genannt sein müsse. Der Nationalrat hiess daraufhin stillschweigend diesen Zusatz ebenfalls gut [5].
Zu den Absätzen 3 und 4 von Art. 8 siehe unten (Frauen und Invalide). Die Verfassungsdiskussion zu weiteren gruppenspezifischen Themen wird beim jeweiligen Unterkapitel dargelegt.
Beide Kammern beschlossen diskussionslos, das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten zu ratifizieren [6].
 
[1] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 629 ff.; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 682 f.1
[2] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1754 ff., 2361 f. und 2598 ff.; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 1099 f. und 1339 ff.2
[3] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 32 ff. In den Materialien zu seinem Entwurf hatte der BR festgestellt, dass in der Vernehmlassung eine Aufzählung mehrheitlich begrüsst worden sei. Das Wort ”namentlich” garantiere, dass damit eine spätere Berücksichtigung weiterer gesellschaftlicher Entwicklungen durchaus möglich sei (BBl, 1997, I, S. 142 f.).3
[4] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 655 ff. und 660 ff. In der Herbstsession versuchte Grendelmeier (ldu, ZH) erneut, auch die geschlechtliche Orientierung einzubringen, scheiterte aber mit 99:62 Stimmen, wobei der BR erklärte, dies sei im Begriff der Lebensform bereits enthalten (Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1756 ff.).4
[5] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 691; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1756 ff.5
[6] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1684 f.; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 636 f. Siehe SPJ 1995, S. 257.6