Année politique Suisse 1998 : Politique sociale / Groupes sociaux
Jenische
In Anwesenheit von Bundesrätin Dreifuss wurde Anfang Juni eine erste offizielle Studie über das Pro-Juventute-Werk ”Kinder der Landstrasse” vorgestellt, für welche die Akten, die im Bundesarchiv lagern, wissenschaftlich ausgewertet wurden. Die Untersuchung kam zum Schluss, dass zwischen 1926 und 1973 unter dem Deckmantel der Fürsorge und Nächstenliebe das Leben einzelner Menschen auf schwerste Weise beeinträchtigt, viele Familien auseinandergerissen und die Kultur einer Minderheit diskriminiert worden sind. Der Pro Juventute sei es nicht darum gegangen, sozial geschädigten Kindern ein besseres Dasein zu verschaffen. Die Absicht sei klar eine ordnungs- und sozialpolitische gewesen, nämlich die Gesellschaft vom ”Übel” der als minderwertig betrachteten umherziehenden Familien und Sippen zu befreien. Aber auch Bund, Kantone und Gemeinden wurden vom Vorwurf der Mittäterschaft nicht entlastet. Diese hätten das Wirken der Organisation unterstützt – der Bund etwa entrichtete seit 1929 jährliche Subventionen – und viel zu wenig kontrolliert.
Besonders hart ins Gericht ging der Bericht mit dem ersten Leiter und eigentlichen Schöpfer der Werks. Dieser sei – im fast schon besessenen Willen, die ”Vagantität” zu bekämpfen – auch vor massiver Einschüchterung und sogar Entmündigung von Eltern nicht zurückgeschreckt, wenn diese sich weigerten, ihre Kinder herzugeben. Er habe der Öffentlichkeit – speziell auch den gutmeinenden Spendern – die Tatsache unterschlagen, dass er bewusst alles unternommen habe, um die Spuren der Kinder zu verwischen und jeglichen Kontakt zu Verwandten zu unterbinden.
Die Stiftung
Pro Juventute akzeptiere die Beurteilung durch die Historiker voll und ganz und
entschuldige sich in aller Form bei den Jenischen, sagte Ständerätin Beerli (fdp, BE) als Präsidentin des Stiftungsrates. Sie gab damit den schon lange erwarteten Ausdruck des Bedauerns von höchster Seite der Stiftung ab
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Lit. Leimgruber;
WoZ, 4.6., 11.6. und 1.10.98; Presse vom 6.6.98. Als Vertreter der Landesregierung hatte sich BR Egli bereits 1986 für die Tätigkeit des ”Hilfswerks” entschuldigt. Für die Zahlungen des Holocaust-Fonds an ausländische Fahrende, welche in der Zeit des III. Reiches Opfer des Nazi-Regimes geworden waren, siehe oben, Teil I, 1a (Grundsatzfragen).49
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