Année politique Suisse 1998 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Kinder und Jugendliche
Zur Stellung der Kinder und Jugendlichen im Gleichstellungsartikel der nachgeführten Bundesverfassung (Art. 8 Abs. 2) siehe oben, Grundsatzfragen.
Eine Minderheit aus den Reihen der SP erreichte, dass der Nationalrat einen eigenständigen Artikel über die Rechte der Kinder und Jugendlichen in den Grundrechtskatalog der revidierten Verfassung aufnahm (Art. 11). Vergeblich warnte Bundesrat Koller, die vorerst gewählte Formulierung, wonach Kinder und Jugendliche Anspruch auf eine harmonische Entwicklung und auf den Schutz haben, den ihre Situation als Minderjährige erfordert, sei juristisch nicht umsetzbar, da kein Gericht einen so vagen Begriff wie die harmonische Entwicklung in einen Leistungsanspruch ummünzen könne; die physische und psychische Integrität der Kinder und Jugendlichen sei durch die Bestimmungen von Art. 10 (Recht auf Leben und persönliche Freiheit) zudem ohnehin garantiert. Den Vertretern des rechtsbürgerlichen Lagers stiess vor allem der zur Diskussion stehende zweite Absatz dieses neuen Verfassungsartikels auf, wonach die Kinder und Jugendlichen ihre Rechte im Rahmen ihrer Fähigkeiten selber ausüben. Keller (sd, BL) malte gar das Schreckgespenst eines Keils zwischen den Generationen und von Kindern an die Wand, die beim Richter gegen Vater und Mutter klagen. Die Zustimmung erfolgte nur knapp mit 73 zu 67 Stimmen [79].
Der Ständerat war bereit, dem Anliegen einer besonderen Erwähnung der Kinder und Jugendlichen entgegen zu kommen, allerdings nur in abgeschwächter Form, die den im Nationalrat vorgebrachten Bedenken Rechnung trug. Trotz allmählicher Annäherung der Standpunkte brachten die weiteren Runden der Differenzbereinigung keinen für beide Kammern akzeptablen Text hervor, weshalb schliesslich die Eingungskonferenz eine Kompromisslösung erarbeitete. Sie schlug vor, in einem ersten Absatz festzuhalten, dass Kinder und Jugendliche Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung haben; Abs. 2 besagt, dass sie ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit ausüben. Die beiden Reizworte ”Rechte” und ”harmonische Entwicklung” waren damit beseitigt, der Grundsatz aber doch beibehalten. In dieser Form wurde der Artikel von beiden Kammern verabschiedet [80].
Auf Antrag seiner Kommission fügte der Ständerat beim Kapitel über die Bügerrechte die Bestimmung ein, wonach der Bund die Einbürgerung staatenloser Kinder erleichtert (Art. 38 Abs. 3). Der Bundesrat verwies darauf, dass hier über die eigentliche Nachführung hinausgegangen werde, anerkannte aber, dass der Antrag internationalen Bestrebungen entspricht, weshalb er ihm nicht opponierte. Die neue Bestimmung entfaltet ihre Wirkung vor allem bei jenen internationalen Adoptionen, welche – aus welchen Gründen auch immer – schliesslich scheitern, bei denen das ausländische Kind aber bereits in der Schweiz ist und ohne Einbürgerung riskieren würde, wieder in sein Heimatland ausgeschafft zu werden, wo es meistens über keine familiären Strukturen mehr verfügt. Dieser Beschluss entsprach einer 1993 vom Nationalrat angenommenen parlamentarischen Initiative Zisyadis (pda, VD), die deshalb als erfüllt abgeschrieben werden konnte [81].
Der Bundesrat beantragte dem Parlament, das Übereinkommen Nr. 138 sowie die ergänzende Empfehlung (Nr. 146) der Internationalen Arbeitsorganisation zu ratifizieren, welches zu den sieben sogenannten fundamentalen Texten der ILO zählt. Diese Konvention legt für alle Arten von Arbeit das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung auf 15 Jahre fest. Das Übereinkommen sieht jedoch gewisse Ausnahmen vor, indem es für leichte Arbeiten ein tieferes (13 Jahre) und für gefährliche Arbeiten ein höheres Mindestalter (18 Jahre) stipuliert. Entgegen der Praxis der Schweiz, wonach ILO-Abkommen nur dann ratifiziert werden, wenn sie der bereits bestehenden Gesetzgebung entsprechen, beantragte der Bundesrat hier eine punktuelle Änderung des Arbeitsgesetzes, indem auch die bisher vom Jugendarbeitsschutz nicht beschlagenen Bereiche Fischerei, Gärtnereien und private Haushaltungen den Mindestaltersvorschriften unterstellt werden, nicht aber die Familienbetriebe. Diese Ausnahme zur Ratifizierungspraxis rechtfertigt sich nach Ansicht des Bundesrates, da es sich bei dem Abkommen um ein fundamentales Instrument handelt, welches alle Staaten unterzeichnen sollten. Der Ständerat ermächtigte den Bundesrat zur Ratifikation und nahm gleich auch die entsprechende Änderung im Arbeitsgesetz vor [82].
Mit einer Motion wollte Nationalrätin Vermot (sp, BE) erreichen, dass der Bundesrat die für die Prävention der Kindsmisshandlungen eingesetzten 150 000 Fr. auf 1 Mio. Fr. pro Jahr erhöht. Die Landesregierung räumte ein, dass das genannte Budget tatsächlich sehr bescheiden sei. Angesichts der prekären Finanzlage des Bundes sei eine Aufstockung im jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht denkbar. Er zeigte sich aber bereit, Möglichkeiten zur Verlagerung von Prioritäten zu prüfen. Auf seinen Antrag wurde die Motion als Postulat überwiesen [83].
Der Nationalrat nahm ein von 55 Abgeordneten aus den vier Bundesratsparteien mitunterzeichnetes Postulat Simon (cvp, VD) an, das den Bundesrat ersuchte, so rasch als möglich die nötigen Massnahmen zu treffen, damit sich in Genf ein internationales Zentrum für verschwundene und ausgebeutete Kinder einrichten und seine Tätigkeit aufnehmen kann. Eine entsprechende Organisation existiert bereits in den Vereinigten Staaten und möchte nach Europa expandieren. Das Genfer Zentrum soll vor allem eine Datenbank führen und als Bindeglied zwischen der Öffentlichkeit sowie privaten und staatlichen Institutionen fungieren [84].
 
[79] Amtl. Bull. NR, 19980, S. 697 ff.79
[80] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1765 ff., 2366 ff. und 2598 ff.; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 692, 1102 und 1339 ff.80
[81] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 54; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 917 ff. und 1480 f. Siehe SPJ 1993, S. 239.81
[82] BBl, 1999, S. 513 ff.; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 1258 ff.; N. Kocherhans, ”Kinderarbeit. Ein weiterer Schritt im Kampf gegen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit”, in Die Volkswirtschaft, 1998, Nr. 9, S. 50-53.82
[83] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 730 f. Für die strafrechtlichen Aspekte des Kindsmissbrauchs siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).83
[84] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 742 f. Vgl. auch ein ähnlich gelagerte Interpellation Langenberger (fdp, VD): ibid. S. 2870 f.84