Année politique Suisse 1999 : Politique sociale / Population et travail
Löhne
Über die Entwicklung der Löhne im Berichtsjahr waren sich die Experten nicht einig. Gemäss den Daten des Bundesamtes für Statistik (BFS) stiegen die Nominallöhne 1999 um 0,2%; bei einer Jahresteuerung von 0,8% ergibt dies einen Reallohnverlust von 0,6%. Das BSF stellte nur gerade in zwei Branchen eine Reallohnerhöhung fest (Gastgewerbe +1,2% und Banken +0,6%). Die grossen Verlierer waren die Arbeitnehmer in der Textilindustrie und der Telekommunikation (je -1,7%) sowie in der öffentlichen Verwaltung (-1,5%). Auffallend an den Zahlen des BFS war, dass Personen mit einer Berufslehre offenbar einen höheren Reallohnverlust hinnehmen mussten (-0,7%) als An- und Ungelernte (-0,1%).
Konjunkturfachleute widersprachen zum Teil diesem Bild. Sie bemängelten, die Daten des BFS beruhten auf Angaben der Versicherungswirtschaft, weshalb Löhne über 8900 Fr. nur als (möglicherweise zu tief angesetzte) Hochrechnung in die Aussage eingeflossen seien. Auch seien nur die Fixlöhne berücksichtigt worden, was angesichts der zunehmenden Bedeutung der Bonifikationen zu einer Verzerrung führe. Die Analyse des BFS trage der tendenziellen Verschiebung der Wirtschaft von niedrig auf höher bezahlte Sektoren nicht Rechnung, sondern messe die Löhne für Beschäftigungen konstanter Natur. Zudem sei auch der Konsumentenpreisindex nicht über alle Zweifel erhaben; in den letzten Jahren habe er die effektive Teuerung um einige Promille überschätzt. Aufgrund dieser Korrekturfaktoren berechneten sie einen
Reallohnzuwachs von rund 0,5% [17].
Wie eine Auswertung der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) zeigte, bestehen in der Schweiz deutliche (und angesichts der Durchlässigkeit des Arbeitsmarkts schwer erklärbare)
regionale Lohnunterschiede. 1998 betrug so der mittlere Wert (Median) der monatlichen Brutto-Erwerbseinkommen der Vollzeitbeschäftigten in der Region Zürich 5920 Fr., im Tessin hingegen lediglich 4770 Fr. In der Ostschweiz entsprach der Median mit 5500 genau dem Landesdurchschnitt. Etwas weniger verdienten die Erwerbstätigen im zentralen Mittelland um Bern und in der Genfersee-Region (5420 bzw. 5440 Fr.), während das Median-Lohnniveau in der Nordwestschweiz mit 5730 Fr. deutlich über dem Landesdurchschnitt lag. Die SAKE-Daten wiesen zudem nach, dass die regionalen
Einkommensunterschiede sowohl in der Industrie wie im Dienstleistungssektor in praktisch gleichem Ausmass feststellbar sind, es sich also nicht um strukturelle Unterschiede zwischen den Regionen handelt. Die Differenzen bleiben auch bestehen, wenn unterschiedliche Qualifikationsniveaus berücksichtigt werden
[18].
Ende Jahr veröffentlichte das BFS weitere Ergebnisse seiner auf den Zahlen von 1998 basierenden Lohnstrukturerhebung. Demnach profitierten zwischen 1996 und 1998 vor allem Angestellte mit anspruchsvollen Tätigkeiten in
Hochlohnbranchen vom gestiegenen Lohnvolumen. Die erhobenen Daten zeigten, dass die berufliche Qualifikation nur einen Teil der Salärunterschiede erklärt. Tendenziell etwas aufgeholt haben offenbar die
Frauenlöhne; nach wie vor verdienen die Frauen aber, ungeachtet ihrer Qualifikation, rund
20% weniger als die Männer. Insgesamt 30% der Vollbeschäftigten erzielten einen Nettolohn unter 4000 Fr. Auch hier gab es grosse Unterschiede zwischen den Branchen und den Geschlechtern. So gehörten nur 0,3% der Bankangestellten, aber 16% der Detailhandelsangestellten und 40% der Beschäftigten im Gastgewerbe zu diesen Tieflohnbezügern; Frauen waren mit 53% in dieser Einkommensgruppe deutlich stärker vertreten als Männer, von denen nur rund 20% weniger als 4000 Fr. Nettolohn erhielten
[19].
Im Vorjahr hatte das Hilfswerk „Caritas“ ausgehend von einer Studie über die sogenannten „Working poor“ (Menschen, die trotz 100%iger Erwerbstätigkeit kein ausreichendes Erwerbseinkommen erzielen) gesetzliche Vorschriften über Mindesteinkommen verlangt. Im Berichtsjahr doppelte der
Schweizerische Gewerkschaftsbund mit seiner Forderung nach
Mindestlöhnen von 3000 Fr. für eine Vollzeitbeschäftigung nach. Wirtschaftsforscher wie beispielsweise der Chef der Konjunkturforschungsstelle der ETH warnten demgegenüber, es gebe letztlich nichts Unsozialeres als eine sozial motivierte Lohnstruktur, denn wenn ein Unternehmen auf Dauer Löhne über der Wertschöpfung der Arbeitnehmer bezahlen müsse, würden massiv Stellen abgebaut, was letztlich zu weit grösseren sozialen Härten führen würde als Niedriglöhne für wenig qualifizierte Arbeitnehmer. Zur Diskussion gestellt sollten eher staatliche Zuschüsse werden („Kombilohn“ oder negative Einkommenssteuer). Selbst Vertreter der Linken, bis anhin vehemente Verfechter des Grundsatzes eines existenzsichernden Lohnes, befanden diese Vorschläge zumindest für prüfenswert
[20].
Mitte Jahr eröffneten die Gewerkschaften und Angestelltenverbände mit ihrer Forderung nach einer je nach Branche generellen Reallohnerhöhung von bis zu 6,5% die
Lohnrunde 2000; gleichzeitig sagten sie den erfolgsabhängigen Lohnbestandteilen den Kampf an, da damit ein Teil des unternehmerischen Risikos auf die Arbeitnehmerschaft überwälzt werde. An einer Grosskundgebung in Bern demonstrierten rund 18 000 Personen, insbesondere aus dem Baugewerbe, aber auch aus Industrie, Gastgewerbe und Verkauf, für 200 Fr. mehr Lohn für alle und Mindestsaläre von 3000 Fr. Die Gewerkschaften drohten, falls die Produktivitätsfortschritte der letzen Jahre nicht an die Beschäftigten weitergegeben würden, müssten diese wieder vermehrt den Streik als Mittel zur Durchsetzung ihrer Forderungen ins Auge fassen
[21].
[17] Presse vom 19.5.00. Zu den Kadersalären siehe Presse vom 23.6.99. Zur Indexrevision vgl. oben, Teil I, 4a (Konjunkturlage).17
[19]
NZZ, 22.12.99. Trotz Rezession und technologischem Fortschritt scheinen die Lohnunterschiede in den neunziger Jahren nicht signifikant zugenommen zu haben; siehe dazu: Anne Küng Gugler / Susanne Blank, „Lohndisparitäten in der Schweiz“, in
Die Volkswirtschaft, 2000, Nr. 5, S. 52-55.19
[20] Presse vom 14.1. und 26.1.99. Siehe dazu auch Augustin de Coulon / Boris Zürcher, „Die Mobilität im Niedriglohnbereich zwischen 1996 und 1998“, in
Die Volkswirtschaft, 2000, Nr. 5, S. 22-25.20
[21] Presse vom 24.6., 15.9., 27.9. und 12.10. 99;
TA, 6.11.99;
SHZ, 10.11.99. Für Warnstreiks in der Baubranche siehe unten (Kollektive Arbeitsbeziehungen).21
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