Année politique Suisse 1999 : Politique sociale / Population et travail / Kollektive Arbeitsbeziehungen
Bei den flankierenden Massnahmen zum bilateralen Vertrag mit der EU über den freien Personenverkehr (siehe unten) bewährten sich tripartite Gespräche (Sozialpartner plus Bundesbehörden) relativ gut; die Begleitmassnahmen zum Abkommen sehen zur Feststellung von missbräuchlicher Unterschreitung der ortsüblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen explizit dreigliedrige Kommissionen vor. Da damit eine gesetzliche Grundlage für derartige Gespräche geschaffen war, legte der Bundesrat dem Parlament das Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 1976 vor, welches
tripartite Beratungen für alle die ILO betreffenden Fragen verlangt. Der Ständerat stimmte der Ratifizierung des Abkommens einstimmig zu
[26].
Die Veränderungsprozesse, denen sich die Schweizer Wirtschaft in den achtziger und neunziger Jahren ausgesetzt sah, liessen vielfach einen Zusammenbruch der konsensuellen Verhandlungsmuster zwischen den Sozialpartnern befürchten. Eine im Rahmen des Schwerpunktprogramms „Zukunft der Schweiz“ erarbeitete
Analyse der Entwicklungen in den drei Branchen Banken, Chemie und Bauhauptgewerbe zwischen 1980 und 1998 zeigte nun, dass tatsächlich eine verstärkte Konflikttendenz beobachtet werden kann, dass eine Trendaussage über alle Branchen hinweg jedoch zu kurz greifen würde. Während etwa im
Bankensektor tatsächlich von einem vergleichsweise starken Niedergang der kollektiven Arbeitsbeziehungen gesprochen werden kann, haben sich die Verhältnisse in der
chemischen Industrie in den letzten Jahren insofern wieder stabilisiert, als diese global ausgerichteten Unternehmen wesentliche Bestandteile der Arbeitsbeziehungen entweder auf Branchenebene verhandeln oder in Form von unternehmensweiten Einheitsverträgen zu regeln pflegen. Im
Bauhauptgewerbe macht sich trotz harten Verhandlungen sogar eine gewisse Wiederbelebung der Sozialpartnerschaft bemerkbar, die sich insbesondere darin äussert, dass die Sozialpartner gemeinsam externe Ressourcen zu mobilisieren vermögen, wie etwa bei dem auf den 1. Januar eingeführten Alters-Teilzeitmodell, für welches die Arbeitslosenversicherung einen Teil der Kosten übernimmt
[27].
Gleich wie im Vorjahr der Ständerat stimmte auch die grosse Kammer der Ratifizierung des bereits 1949 verabschiedeten Übereinkommens Nr. 98 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu, welches zu den sieben fundamentalen Abkommen dieser Institution zählt und das
Recht auf Vereinigungsfreiheit und auf Kollektivverhandlungen beschlägt. Mit dem neuen Datenschutzgesetz, welches bei einem Stellenwechsel diskriminierende Mitteilungen des früheren Arbeitgebers wegen gewerkschaftlicher Tätigkeit untersagt, erfüllt die Schweiz die Vorgaben der ILO, weshalb nach geltender Praxis (Landesrecht muss vor Gutheissung durch das Parlament angepasst sein) einer Ratifizierung nichts mehr im Wege stand
[28].
Nur wenige Tage vor Auslaufen des alten GAV einigten sich die Sozialpartner in der
Druckindustrie auf einen neuen Vertrag für die nächsten fünf Jahre. Den Gewerkschaften gelang es dabei nicht, einen umfassenden Branchenvertrag auszuhandeln, der auch das Speditions- und das technische Redaktionspersonal umfasst hätte. Ebenso mussten sie ihre Forderung nach einer generellen Lohnerhöhung von 200 Fr. aufgeben und Zugeständnisse bei der Arbeitszeitflexibilisierung machen. Die Arbeitgeber sicherten dafür zu, die tiefsten Löhne bis 2002 auf 3000 Fr. anzuheben. Zudem verzichteten sie auf ihre Forderung nach einem Rahmenvertrag, der nach Regionen und Betrieben vor allem lohnmässig Abweichungen gestattet hätte. Neu wurden die jährlichen Lohnanpassungen vollständig in die Betriebe delegiert
[29]. Diese Ergebnisse gingen der Basis der Mehrheitsgewerkschaft „Comedia“ zu wenig weit; mit einem dreistündigen Warnstreik verlangte sie Nachverhandlungen insbesondere bei der Reallohnerhöhung sowie beim Einbezug des Speditionpersonals in den GAV. Als letztere Forderung von den Arbeitgebern akzeptiert wurde, stimmte die „Comedia“ dem neuen GAV zu
[30].
Auch im
Bauhauptgewerbe konnten sich die Gewerkschaften und die Arbeitgeber vorerst nicht auf Lohnanpassungen einigen. Gestritten wurde vor allem um das Verhältnis zwischen generellen und individuellen Salärerhöhungen sowie über zusätzliche Gleitstunden. Die Gewerkschaften drohten, wenn nicht alle Bauarbeiter mindestens 100 Fr. mehr Lohn erhielten, würden sie, erstmals seit zwanzig Jahren, den Landesmantelvertrag kündigen. Kurz vor Weihnachten sah es nach einem Durchbruch aus, der vor allem den gewerkschaftlichen Forderungen entsprochen hätte, doch stand die Zustimmung der Baumeister bis Ende Jahr aus. Die Gewerkschaften machten daraufhin mit ihrer Kündigung Ernst, erklärten sich aber bereit, diese zurückzuziehen, falls die Arbeitgeber innert nützlicher Frist den getroffenen Abmachungen zustimmen sollten
[31].
Ebenfalls zu keiner Einigung kam es im
Bankensektor. Die Verhandlungen um einen neuen GAV scheiterten an der Forderung der Arbeitnehmerverbände nach drei zusätzlichen Ferientagen
[32].
[26]
BBl, 2000, S. 330 ff.;
Amtl. Bull. StR, 1999, S. 1150 f.26
[27]
Lit. Vatter / Meyrat;
NZZ, 13.10.99 (Zusammenfassung). Zum Alters-Teilzeitmodell siehe
SPJ 1998, S. 225.27
[28]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 407 ff. Siehe
SPJ 1998, S. 230.28
[29]
NZZ, 30.4. und 5.7.99. Vgl.
SPJ 1998, S. 231.29
[30]
TA, 29.4.99;
NZZ, 1.5. und 21.12.99;
BaZ, 18.8.99; Presse vom 14.10.99. Zum neuen GAV für die Printjournalisten siehe unten, Teil I, 8c (Presse).30
[31] Presse vom 30.9., 29.11., 21.12., 23.12. und 24.12.99. Die Arbeitgeber der Baubranche waren der wichtigste Adressat einer Grosskundgebung in Bern, an der die Teilnehmer 200 Fr. Lohnerhöhung für alle und Mindestlöhne von 3000 Fr. verlangten (Presse vom 27.9.99). Ende November erfolgten dezentrale Kundgebungen der Bauarbeiter, die in der Romandie auf ein stärkeres Echo stiessen als in der Deutschschweiz (Presse vom 23.11.99).31
[32] Presse vom 1.10.99.32
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