Année politique Suisse 1999 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Arbeitslosenversicherung (ALV)
Die ALV schrieb erstmals seit 1995 wieder schwarze Zahlen. Ausgaben von 5,33 Mia Fr. standen Einnahmen von 6,65 Mia Fr. gegenüber. Der Überschuss betrug somit 1,32 Mia Fr. Die Schuld der ALV bei Bund und Kantonen verringerte sich dank dem positiven Resultat um rund eine auf 7,8 Mia Fr [64].
Gleich wie der Nationalrat nahm in der Frühjahrssession auch der Ständerat die im Vorjahr vom „Runden Tisch“ im Rahmen des Stabilisierungsprogramms beschlossenen Änderungen bei der ALV an. Dabei handelt sich um die Weiterführung des dritten Lohnprozentes bis 2003 zur Tilgung der aktuellen Schulden der Versicherung sowie um ein zusätzliches zweites Solidaritätsprozent für Einkommen zwischen 97 200 und 243 000 Fr. Gleichzeitig stimmte die kleine Kammer auch einer Motion des Nationalrates zu, welche vom Bundesrat verlangt, bis im Winter 2000 eine Revisionsvorlage der ALV mit dem Ziel vorzulegen, dass nur noch zwei Lohnprozente erhoben werden und weder die Kantone noch der Bund Zahlungen an die Versicherung zu leisten haben. Gleichzeitig wurde die Landesregierung mit einer weiteren Motion des grossen Kammer verpflichtet, umgehend für eine Senkung der Verwaltungskosten der ALV zu sorgen [65].
Obgleich im Vorjahr eine Motion Bonny (fdp, BE) wegen Opposition im Nationalrat nicht hatte diskutiert werden können, nahm der Bundesrat den Vorstoss zum Anlass, um das zentrale Anliegen des Motionärs – die Umwandlung der ALV in eine unabhängige Anstalt à la SUVA – prüfen zu lassen. Die damit beauftragte Arbeitsgruppe der Sozialpartner und der Kantone kam zum Schluss, dass eine Abkoppelung der ALV von dem für den Arbeitsmarkt zuständigen BWA (neu seco) nicht sinnvoll sei und allenfalls zu einem teuren und letztlich nicht mehr handlungsfähigen System führen könnte. Bei einer Überführung der Vollzugsstrukturen in eine öffentlichrechtliche Anstalt könnten die Kantone nicht mehr in die Pflicht genommen werden. Die regionale Verankerung nähme ab, und auf Bundesebene entstünde eine grosse, tendenziell schwerfällige Organisation.
Beim zweiten von Bonny aufgegriffenen Punkt, den hohen Verwaltungskosten der regionalen Arbeitsvermittlungsszentren (RAV) wurde hingegen ein gewisser Handlungsbedarf ausgemacht. Insbesondere wurde kritisiert, dass die RAV allzu häufig die Aufgaben der kantonalen Sozialämter übernehmen und sich zu wenig auf ihr Kerngeschäft (die Vermittlung neuer Arbeitsstellen) konzentrieren. Zudem stellte die Untersuchung grosse Qualitätsschwankungen unter den RAV fest. Insgesamt wurden rund 600 Mio Fr. Einsparungen errechnet, die erzielt werden könnten, wenn die am wenigsten effizienten RAV so gut arbeiten würden wie die erfolgreichsten. Das BWA beschloss, diese Erkenntnisse ab dem Jahr 2000 in einem neuen Leistungsauftrag an die RAV und mit einer erfolgsabhängigen Finanzierung zu berücksichtigen [66]. Der Nationalrat überwies ein Postulat seiner WAK, mit welchem der Bundesrat ebenfalls beauftragt wurde, Massnahmen zur Effizienzsteigerung der RAV zu ergreifen [67].
Im Auftrag des BWA führte der Kanton Solothurn ein Pilotprojekt ein, welches abklären soll, ob mit einer anderen Strukturierung der RAV deren Output verbessert werden kann. Das Zauberwort dazu heisst Kundensegmentierung. Entscheidende Neuerung ist, dass jeder Stellensuchende künftig zuerst in einem zentralen RAV-Chek-in vorsprechen muss, wo mit ihm zusammen eine Standortbestimmung vorgenommen wird. Je nach individueller Situation wird er darauf zur weiteren Betreuung den zentralen Einrichtungen RAV Jobmanagement (leicht Vermittelbare), RAV Qualifizierung (Weiterbildungswillige), RAV Integration (gewisse berufliche Defizite), RAV Soziales (gesundheitliche/soziale Probleme) oder RAV Workout (bei Verdacht auf Missbrauch der Arbeitslosenkasse) zugewiesen. Mit dieser Differenzierung sollen sich die Mitarbeiter auf ein weniger weites Spektrum konzentrieren und in einem Bereich spezialisieren können. Davon erhofft man sich sowohl eine Senkung der Kosten als auch eine Verbesserung der Leistungen [68].
Bereits im Vorjahr hatten die in erster Linie für Einheimische gedachten Erleichterungen beim Wiedereinstieg nach Jahren der Kinderbetreuung, welche in der Praxis aber vor allem von schwer vermittelbaren, erst seit kurzem eingewanderten Ausländerinnen in Anspruch genommen werden, für verschiedene Vorstösse im Parlament gesorgt. Nationalrat Widrig (cvp, SG) nahm das Anliegen erneut auf und verlangte in einer Motion, die Möglichkeit zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung müsse durch klare Rahmenbedingungen eingeschränkt werden. So müsste die Erziehungsperiode mindestens sechs Jahre betragen und im Inland absolviert worden sein. Leistungen sollten zudem nur Frauen beziehen können, die bereits vor der Kinderpause in der Schweiz anspruchsberechtigt waren. Und schliesslich sollten für die Vermittelbarkeit Grundkenntnisse einer Landessprache vorausgesetzt werden dürfen. Der Bundesrat war bereit, den Vorstoss in Postulatsform entgegen zu nehmen, doch wurde er von Vollmer (sp, BE) bekämpft und somit vorderhand der Diskussion entzogen [69]. Bei den sozialversicherungsrechtlichen Anpassungen zur Umsetzung des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU wurde das AVIG dahingehend abgeändert, dass sich nur jene Personen auf die Erziehungsperiode berufen können, die sich zuletzt während mindestens 18 Monaten in der Schweiz der Betreuung ihrer Kinder gewidmet haben [70].
Auf Wunsch des Verbands schweizerischer Arbeitsämter erliess das BWA im Februar eine bindende Empfehlung über die Dauer der Einstellung des Taggeldbezugs bei leichtem, mittlerem und schwerem Vergehen der Arbeitslosen; gleichzeitig erhielten die Kantone auch einen einheitlichen Beurteilungsraster. Damit sollen stossende kantonale Unterschiede ausgemerzt werden [71].
Erstmals führte eine schweizerische Versicherungsgesellschaft eine private Versicherung gegen Arbeitslosigkeit für Personen ein, die seit mindestens sechs Monaten in einem unbefristeten und ungekündigten Arbeitsverhältnis stehen und keine Kenntnis von einer Auflösung des Betriebes haben. Sie bot die Möglichkeit an, sich auf dem Niveau der ALV (70% des letzten Lohnes bzw. 80% bei Betreuungspflichten) während drei bis zehn Jahren oder bis zum Bezug der AHV- Rente zu versichern. Die Prämien wurden aufgrund des statistischen Arbeitslosigkeitsrisikos einer Branche und Region errechnet [72].
 
[64] Presse vom 25.5.00.64
[65] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 17 und 63 f. Vgl. SPJ 1998, S. 271 f. Zur Gesamtheit der im Rahmen des Stabilisierungsprogramms beschlossenen Änderungen bei der ALV siehe CHSS, 1999, S. 262-265.65
[66] Presse vom 26.3.99; SHZ, 21.4.99; NZZ, 2.12.99. Siehe SPJ 1998, S. 272. Vgl. dazu auch die Anwort des BR auf eine Frage Bonny (fdp, BE) in Amtl. Bull. NR, 1999, S. 947 f.66
[67] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1171.67
[68] NLZ, 7.4.99.68
[69] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 496 f. Siehe SPJ 1998, S. 272 f. Ähnliche, wenn auch weniger radikale Forderungen enthielt eine Motion David (cvp, SG), die teilweise abgelehnt, als erfüllt abgeschrieben oder als Postulat angenommen wurde (Amtl. Bull. NR, 1999, S. 491 ff.). Auf den 1. September wurde im Rahmen des Stabilisierungsprogramms die Bezugsdauer der ALV-Leistungen für Wiedereinsteigerinnen von 520 auf 260 Tage halbiert; die gleiche Regelung betrifft auch arbeitslose Schulabgänger (TA, 23.8.99). Für die weiteren am „runden Tisch“ beschlossenen Massnahmen siehe SHZ, 28.7.99. Vgl. SPJ 1998, S. 271 f.69
[70] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 658; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1602.70
[71] LT, 5.2.99; Presse vom 15.3.99.71
[72] NZZ, 2.6.99; SGT, 7.6.99.72