Année politique Suisse 1999 : Politique sociale / Assurances sociales / Krankenversicherung
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Erste Teilrevision des Krankenversicherungsgesetzes (KVG)
In der Frühjahrssession behandelte der Ständerat die Vorschläge des Bundesrates zur ersten Teilrevision des KVG, welche allgemein als „Revision der kleinen Schritte“ bezeichnet wurde. Strittigster Punkt war dabei die Einführung von Globalbudgets im ambulanten und teilstationären Bereich. Da die Anhörung der Ärzteschaft und der Krankenversicherer gezeigt hatte, dass diese Massnahme sehr kontrovers eingeschätzt wird, und weil die Vorschläge des Bundesrates als zu wenig ausgereift beurteilt wurden, lehnte die kleine Kammer die Globalbudgetierung ab. Ein vom Bundesrat unterstützter Antrag Brunner (sp, GE), der den Kantonen die Kompetenz zur Festlegung eines Globalbudgets auf freiwilliger Basis überlassen wollte, unterlag mit 29 zu 10 Stimmen dem Antrag der Kommissionsmehrheit auf vollständige Streichung. In den weiteren wesentlichen Punkten (Erleichterung des Kassenwechsels, Förderung der Generika, Sistierung der Krankenversicherung bei längerdauerndem Militärdienst, reduzierte Prämien für die 18-25-Jährigen) stimmte die kleine Kammer oppositionslos den Vorschlägen des Bundesrates zu. Bei den Verbesserungen zum Bezug der Prämienverbilligungen wurde ein Antrag Loretan (fdp, AG) angenommen, der für eine präzisere Definition der Anspruchsberechtigung eintrat. Gleichzeitig wurden die Beiträge des Bundes an die Prämienverbilligung für die Periode 2000-2003 um jährlich 1,5% angehoben. Von 2,213 Mia Fr. steigen diese Subventionen so auf 2,314 Mia Fr. im Jahr 2003 [52].
Auch im Nationalrat war es die Globalbudgetierung im ambulanten und teilstationären Bereich, die am meisten zu reden gab. Gegen den mit 10 zu 8 Stimmen gefassten Antrag der vorberatenden Kommission auf Zustimmung zum Bundesrat folgte die grosse Kammer mit 92 zu 73 Stimmen dem Ständerat. Eine bürgerliche Mehrheit befürchtete, mit dieser „dirigistischen“ Massnahme würde das Gleichgewicht mit dem Spitalbereich gestört und ein erster Schritt in Richtung Rationierung und Verstaatlichung des Gesundheitswesens getan. In den meisten anderen Punkten der Revision schloss sich der Nationalrat ebenfalls der kleinen Kammer an. Er verabschiedete aber noch mehrere Zusatzanträge, so etwa eine Befreiung einzelner Leistungen der Prävention von der Kostenbeteiligung sowie den Übergang vom Prinzip des „Tiers garant“ (heutige Regelung, wonach der Versicherte die Arztrechnug bezahlt und vom Versicherer Vergütung verlangt) zu jenem des „Tiers payant“ (Verrechnung direkt zwischen Arzt und Versicherung). Diskussionslos wurde auch die erst später in die Vorlage eingefügte Bestimmung gutgeheissen, wonach Versicherer, welche sich aus der Grundversicherung in einzelnen Kantonen zurückziehen, einen Teil ihrer Reserven in einen Ausgleichsfonds einzuspeisen haben (gewissermassen eine „Lex Visana“); verstärkt wurde in diesem Zusammenhang auch die Oberaufsicht des BSV über die finanzielle Situation der Krankenkassen. Trotz Bedenken von Bundespräsidentin Dreifuss wurde ein Antrag Raggenbass (cvp, TG) angenommen, welcher die Krankenkassen vom Zwang befreien möchte, mit allen Leistungsanbietern Tarifverträge abzuschliessen (siehe oben, Teil I, 7b, Gesundheitspolitik). Mit 85 zu 80 Stimmen setzte sich zudem ein Antrag Gross (sp, TG) durch, der die Grundlagen des Risikoausgleichs erweitern wollte. Neben den Kriterien Jung/Alt und Mann/Frau sollte zusätzlich das Hospitalisierungsrisiko berücksichtigt werden. Die augfestockten Bundesbeiträge zur Prämienverbilligung wurden gegen einen Antrag Bortoluzzi (svp, ZH), der die Subventionen auf dem bisherigen Stand einfrieren wollte, mit 118 zu 36 Stimmen genehmigt. Ein Antrag Jaquet (sp, VD), dass die Kantone die Bundessubventionen zu 100% abzuholen und gemäss den gesetzlichen Vorgaben aufzustocken haben, wurde hingegen abgelehnt [53].
In der Differenzbereinigung schloss sich der Ständerat nur gerade bei der „Lex Visana“ dem Nationalrat an. In allen anderen Punkten hielt er an seinen ersten Beschlüssen fest. So etwa beim Prinzip des „Tiers garant“, das mit 33 zu 3 Stimmen bekräftigt wurde. Der Antrag des Nationalrates zur Aufhebung des Kontrahierungszwangs (Antrag Raggenbass) wurde (mit 17 zu 14 Stimmen) ebenso abgelehnt wie der Vorschlag der vorberatenden Kommission, die Neuzulassung von Ärzten von einem Bedarfsnachweis abhängig zu machen, der mit 21 zu 14 Stimmen scheiterte (siehe oben, Teil I, 7b, Gesundheitspolitik). Mit 17 zu 14 Stimmen wollte der Ständerat auch nichts davon wissen, gewisse Leistungen der Prävention von der Kostenbeteiligung auszunehmen. Ohne Diskussion lehnte die kleine Kammer schliesslich die vom Nationalrat vorgeschlagene Ergänzung der Berechnungskriterien für den Risikoausgleich ab. In Anbetracht der gewichtigen Differenzen sprach sich der Ständerat dafür aus, das Inkrafttreten der Teilrevision nicht mehr auf den 1. Januar 2000 festzulegen, sondern dem Bundesrat die Kompetenz zu überlassen, den Termin zu bestimmen [54].
Zum 2. Teil der 1. KVG-Revision, welcher sich mit der Spitalfinanzierung befasst, siehe oben, Teil I, 7b (Gesundheitspolitik).
 
[52] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 158 ff. Siehe SPJ 1998, S. 265. Zur neu vom Bundesgesetz über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden vorgeschriebenen vollen Besteuerung der AHV-Renten und deren Auswirkungen auf die Prämienverbilligungen siehe die Antwort des BR auf eine Interpellation Spoerry (Amtl. Bull. StR, 1999, S. 1199 f.). Für die angestrebte vermehrte Abgabe von Generika siehe oben, Teil I, 7b (Gesundheitspolitik). Zu den Vor- und Nachteilen von Globalbudgets im ambulanten Bereich vgl. NZZ, 3.7.99. Der StR überwies eine im Vorjahr vom Konkordat der Krankenkassen eingereichte Petition, welche ein gesamtschweizerisch einheitlich geregeltes System der Prämienverbilligung verlangte, dem BR zur Kenntnisnahme (Amtl. Bull. StR, 1999, S. 593 ff.).52
[53] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 736 ff., 740 ff. und 792 ff. Als „Hospitalisierungsrisiko“ werden jene Patientinnen und Patienten betrachtet, welche im Vorjahr in stationären Behandlung waren; sie müssen aufgrund ihrer Erkrankung entweder erneut hospitalisiert werden oder brauchen eine kostspielige Nachbehandlung. Vgl. Reto Flück, „Das BSV verstärkt die Aufsicht über die Krankenversicherer“, in CHSS, 1999, S. 315-317. Siehe auch Stefan Spycher, „Unterschätzte Wirkungen des Risikoausgleichs in der Krankenversicherung“, ibid., S. 94-98; Till Bandi, „Risikoausgleich in der Krankenversicherung – Verbesserung durch Ausbau?“, ibid., S. 202-205.53
[54] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 791 ff.54