Année politique Suisse 1999 : Politique sociale / Groupes sociaux
Familienpolitik
Nach dem Scheitern der Mutterschaftsversicherung in der Volksabstimmung vom 13. Juni (siehe oben, Teil I, 7c) gaben sich die
Parteien – insbesondere auch im Hinblick auf die nationalen Erneuerungswahlen im Oktober –
besonders familienfreundlich. Die
CVP schlug steuerliche Entlastungen vor; zudem rief sie nach einem Bundesrahmengesetz für die Ausrichtung von Kinderzulagen und nach einer besseren Abstimmung der Schulzeiten auf die Bedürfnisse der Eltern. Das verlangte auch die
FDP, die sich zudem für mehr ausserfamiliäre Betreuungsstätten für Kinder stark machte. Von einer eidgenössischen Regelung für die Kinderzulagen wollte sie hingegen nichts wissen. Konkrete Zahlen nannten die
SP und die
Grünen. Sie forderten existenzsichernde Kinderzulagen, wobei die Steuerabzüge für Kinder im Gegenzug zu streichen wären. Die SP sprach sich zudem für Ergänzungsleistungen für minderbemittelte Eltern aus, welche über eine eidgenössische Erbschaftssteuer finanziert werden sollten
[71].
Die CVP-Vorstellungen konkretisierten sich in einer Motion ihrer Solothurner Ständerätin Simmen. Sie verlangte, bei den
direkten Steuern seien die Kinderabzüge zu erhöhen sowie Abzüge für Kinderbetreuung durch Dritte vorzusehen. Gegen den Willen des Bundesrates, der Umwandlung in ein Postulat beantragte, weil der Vorstoss nicht nur die direkte Bundessteuer, sondern auch die nicht in der Kompetenz des Bundes liegenden Kantons- und Gemeindesteuern anvisiere, wurde die Motion mit 21 zu 8 Stimmen klar überwiesen
[72].
Mitte März legte eine vom Bundesrat eingesetzte Expertenkommission ihren Schlussbericht vor, in welchem sie
neue Modelle der Familienbesteuerung im Bereich der direkten Bundessteuer vorschlug. Am bestehenden Steuersystem kritisierten die Fachleute den steilen Progressionsverlauf, den Konkubinatsvorteil (keine gemeinsame Veranlagung) sowie eine ungenügende Berücksichtigung der Kinderkosten (kein Kinderbetreuungsabzug). Sie legten
drei Reformmodelle vor, welche neben Differenzen in der konkreten Ausgestaltung gemeinsame Elemente aufweisen: Gleichbehandlung der Konkubinats- mit den Ehepaaren, Verzicht auf Besteuerung des Existenzminimums, Erhöhung des Kinderabzugs auf 7200 Fr., Abzug für die nachgewiesenen Kinderbetreuungskosten bis 4000 Fr., Haushaltsabzüge für Alleinerziehende sowie vollumfänglicher Abzug der Prämien der obligatorischen Krankenversicherung
[73].
Die Pro Familia Schweiz, der Dachverband der schweizerischen Familienorganisationen, stellte das heutige
Konzept der Sozialversicherungen radikal in Frage und postulierte ein Modell, das sich nicht nur auf die Erwerbsarbeit abstützt, sondern auch die unbezahlte Arbeit in Familie und Öffentlichkeit einbezieht
[74].
In Übereinstimmung mit dem Bundesrat verweigerte die grosse Kammer einer Motion Jutzet (sp, FR) die Zustimmung, die eine Gesetzesänderung in dem Sinn verlangte, dass lohnbeziehende Väter bei der Geburt eines Kindes einen bezahlten
Vaterschaftsurlaub von mindestens einer Woche Dauer erhalten. Für die Ablehnung wurde geltend gemacht, dass solche Regelungen weiterhin den Vereinbarungen unter den Sozialpartnern vorbehalten bleiben sollen
[75].
Lediglich als Postulat überwies der Nationalrat eine Motion Teuscher (gp, BE), die den Bundesrat beauftragen wollte, ein Konzept für eine Informations- und Sensibilisierungskampagne auszuarbeiten, um
partnerschaftliche Modelle sowohl bei der Familienarbeit und der Kinderbetreuung als auch bei der Erwerbsarbeit zu unterstützen
[76]. Gänzlich verworfen – und zwar mit 71 zu 26 Stimmen – wurde eine weitere Motion Teuscher, die eine Ergänzung von Art. 217 des Strafgesetzbuches (Vernachlässigung der Unterhaltspflichten) verlangte. Danach sollte
säumigen Alimentenzahlern der Führerausweis entzogen werden können, bis sie ihren Verpflichtungen nachkommen. Der Bundesrat erklärte seinen Antrag auf Ablehnung damit, dass der Führerscheinentzug nicht als Strafe, sondern nur als Massnahme der kantonalen Verwaltungsbehörden verhängt werde, weshalb sich das Instrument im vorliegenden Fall nicht eigne
[77].
Das revidierte Eherecht, das auf Anfang 1988 in Kraft gesetzt wurde, hatte die Gleichstellung von Frau und Mann zum Ziel. Ganz konnte dieses Anliegen damals jedoch nicht umgesetzt werden; zu emotional verlief die Auseinandersetzung und zu gross war die Angst vor der traditionalistisch-konservativen Gegnerschaft und dem von ihr angekündigten Referendum. So wurden schliesslich Kompromisse beim
Familiennamen und beim Bürgerrecht hingenommen. Das einzige Zugeständnis war für die Frauen, dass sie ihren Familiennamen beibehalten und jenem des Ehemannes voranstellen dürfen; die Kinder erhalten aber ausnahmslos den Familiennamen und das Bürgerrecht des Vaters. In der Zwischenzeit stiess diese Ungleichbehandlung der Geschlechter auf zunehmende Kritik und wurde sogar vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügt. Dieser Umstand hatte (allerdings vorab aus formaljuristischen Gründen) die inzwischen aus dem Parlament ausgeschiedene Nationalrätin und Rechtsprofessorin Sandoz (lp, VD) bewogen, eine parlamentarische Initiative mit der Forderung einzureichen, die Bestimmungen des ZGB seien so zu ändern, dass die Gleichstellung von Frau und Mann gewährleistet wird
[78].
Der Nationalrat hatte die Initiative nach deren grundsätzlicher Gutheissung seiner Rechtskommission zur vertieften Ausarbeitung zugewiesen. Diese legte 1997 ihre Vorschläge vor. Danach sollen im Regelfall
beide Ehegatten ihren Namen weiterführen und sich
nur für die Kinder auf einen gemeinsamen Familiennamen einigen. Wenn beide den gleichen Namen tragen möchten, können sie entweder jenen des Mannes oder jenen der Frau wählen. Der mit dem neuen Eherecht eingeführte Doppelname ohne Bindestrich hat in diesem Konzept keinen Platz mehr. Die Kommission ging sogar noch einen Schritt weiter als die Initiantin und merzte auch beim
Kantons- und Gemeindebürgerrecht die Ungleichbehandlung von Mann und Frau aus: Die Heirat soll künftig keine Auswirkungen mehr auf das Bürgerrecht haben, und die Kinder sollen das Bürgerrecht jenes Elternteils erhalten, dessen Namen sie tragen
[79].
Der
Bundesrat unterstützte zwar die Stossrichtung dieser Vorschläge, mochte sich jedoch mit dem
Verzicht auf den Doppelnamen nicht einverstanden erklären. Als Begründung führte er an, der Doppelname habe sich in der Praxis bewährt; insbesondere entspreche er dem Bedürfnis, die Namenskontinuität und damit die Persönlichkeitsrechte der Frauen zu wahren, gleichzeitig aber die Verbundenheit der Eheleute untereinander und mit ihren Kindern im Namen auszudrücken
[80].
In der Augustsession brauchte der Nationalrat nur gerade zwei Stunden, um sich voll und ganz der Linie seiner Kommission anzuschliessen. Die
Beibehaltung des bisherigen Namens wird – vorausgesetzt, dass der Ständerat ebenfalls zustimmt – zum
Normalfall, denn jede Lösung in Richtung eines gemeinsamen Familiennamens bedürfte neu einer Erklärung vor dem Standesamt. Die
Doppelnamen werden wieder
abgeschafft. Beim Familiennamen der
Kinder müssen sich die Eltern auf den einen oder anderen Namen
einigen. Heiraten Eltern erst, nachdem ihre gemeinsamen Kinder das 14. Altersjahr erreicht haben, so können die Jugendlichen den Familiennamen selber wählen. Diese Bestimmung war für CVP-Fraktionschef Maitre (GE) Anlass, noch einmal von einem absurden Gesetz zu sprechen, welches das Zivilstandsregister zu einem „Selbstbedienungsladen“ verkommen lasse. Trotz Gegenstimmen aus der CVP wurde die ZGB-Änderung sowohl beim Familiennamen als auch beim Bürgerrecht mit 92 zu 24 Stimmen deutlich angenommen
[81].
Das
bilaterale Abkommen mit der EU über die Personenfreizügigkeit hat direkte Auswirkungen auf die Ausgestaltung der Familienzulagen. Erwerbstätige der Vertragsländer haben künftig für ihre Kinder Anspruch auf die Leistungen des Staates, dessen Gesetzgebung sie unterstellt sind, und zwar auch dann, wenn die Kinder in einem anderen Vertragsstaat wohnen. Die Leistungen sind in gleicher Höhe zu gewähren als wohnten die Kinder im leistungspflichtigen Land. Besteht im Wohnland der Kinder ebenfalls ein Leistungsanspruch (beispielsweise wegen der Erwerbstätigkeit des anderen Elternteils), so muss dieser Staat die Leistungen ausrichten, wobei Leistungsunterschiede vom auszahlenden Land zu berücksichtigen sind
[82].
In der Sommersession behandelte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative Teuscher (gp, BE), welche die Vorstellung der SP und der Grünen im Bereich der
Kinderzulagen (600 Fr. pro Monat für das erste Kind, 300 Fr. für jedes weitere) konkretisierte. Die vorberatende Kommission hatte die Initiative noch knapp gutgeheissen. Im Plenum wehte jedoch ein anderer Wind. Selbst die CVP lehnte den Vorschlag als Gieskannenlösung ab. Damit hatte die Initiative keine Chancen mehr. Mit 111 zu 64 Stimmen wurde sie klar abgelehnt
[83].
Die
Volksinitiative „Für Mutter und Kind –
für den Schutz des ungeborenen Lebens
und für die Hilfe an seine Mutter“ kam mit 105 001 Unterschriften
zustande. Das Begehren verlangt eine äusserst restriktive Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. Die Abtreibung soll nur dann straffrei sein, wenn sich eine akute und körperlich begründete Lebensgefahr für die Mutter anders nicht abwenden lässt. Im Fall einer Vergewaltigung will die Initiative die Freigabe des Kindes zur Adoption erleichtern. Für die bedürftige Mutter soll die erforderliche Hilfe und Betreuung sichergestellt werden
[84].
Mit einem überwiesenen Postulat Zwygart (evp, BE) bat der Nationalrat die Landesregierung, von einer interessenneutralen Stelle eine Statistik über die in der Schweiz durchgeführten Abtreibungen erstellen zu lassen
[85].
Mitte Juli registrierte die Interkantonale Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) nach einer über sechs Jahre dauernden Kontroverse als zwölfter Staat in Europa die
Abtreibungspille RU 486 unter dem Namen
Mifegyne. Das Mittel unterliegt wie der chirurgische Schwangerschaftsabbruch den Bestimmungen des schweizerischen Strafgesetzes. Es ist verschärft rezeptpflichtig und darf nur in bewilligten Kliniken oder Behandlungszentren verabreicht werden
[86].
Im Frühsommer gab das EJPD einen Bericht über
mehr Rechte für gleichgeschlechtliche Paare in die Vernehmlassung, welcher fünf Modelle zur Diskussion stellt. Die Vorschläge gehen von punktuellen Gesetzesanpassungen (beispielsweise im Ausländer- und Erbrecht) über verschiedene Formen der registrierten Partnerschaft bis hin zur Öffnung des Instituts der Ehe
[87].
Das Parlament war offenbar der Ansicht, die Mühlen der Verwaltung mahlten zu langsam, weshalb es an der Zeit sei, das Heft selber in die Hand zu nehmen. Mit 105 zu 46 Stimmen unterstützte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative Gros (lp, GE), die für homosexuelle Personen, welche dauerhaft zusammen leben wollen, die Einführung einer
staatlich registrierten Partnerschaft verlangt
[88]. Mit 117 zu 46 Stimmen verwarf er hingegen eine parlamentarische Initiative, mit der Nationalrätin Genner (gp, ZH) ein Recht auf Ehe für Schwule und Lesben forderte
[89].
Ein überwiesenes Postulat Bühlmann (gp, LU) bat den Bundesrat, bei der 1. Revision des Bundesgesetzes über die berufliche Vorsorge Lösungen zur
Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften zu unterbreiten
[90].
[71]
Bund, 7.9.99;
TA, 10.9.99. Das familienpolitische Förderungsmodell der SP, dessen Kosten auf rund 2,6 Mia Fr. pro Jahr beziffert wurde, das aber im Gegenzug zu einem Abbau der Fürsorgeleistungen führen sollte, war bereits im Januar vorgestellt worden (Presse vom 15.1.99). Ende Juli präsentierte die CVP ihre neuesten Grundsätze zur Familienpolitik, welche in erster Linie auf eine steuerliche Entlastung der Familien setzen (Presse vom 30.7.99).71
[72]
Amtl. Bull. StR, 1999, S. 879 ff.72
[73] Presse vom 13.3.99; Marc Stampfli, „Mehr Solidarität mit Familien im Steuerrecht?“, in
CHSS, 1999, S. 73-78. In einem überwiesenen Postulat regte StR Spoerry (fdp, ZH) an, bei der Weiterbearbeitung der Familienbesteuerung sei auch eine pa.Iv. der WAK-StR von 1995 („Senkung der direkten Bundessteuer. Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes“) mit einzubeziehen (
Amtl. Bull. StR, 1999, S. 874). Zu weiteren Vorschlägen für eine Steuerreform siehe oben, Teil I, 5, Direkte Steuern.73
[74] Presse vom 8.5.99;
SZ, 15.5.99. Siehe dazu auch: Verena Schorn, „Materielle und immaterielle Solidarität: Anerkennung von Freiwilligenarbeit in der AHV“, in
CHSS, 1999, S. 85-86.74
[75]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 120 f.75
[76]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2160 f.76
[77]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 107 f.77
[79]
SPJ 1997, S. 296;
NZZ, 20.4.99;
LT, 7.5.99.79
[80]
BBl, 1999, S. 5306 ff.80
[81]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1570 ff.81
[82]
Lit. Frechlin. Siehe auch den Artikel von Barbara Haake, „Der Anspruch auf Familienzulagen für im Ausland lebende Kinder“, in
CHSS, 1999, S. 99-103, welcher die heutige unterschiedliche Regelung in den Kantonen nachzeichnet.82
[83]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1280 ff. Der CNG schlug vor, einen Teil der überschüssigen Goldreserven der Nationalbank für die Finanzierung höherer Kinderzulagen zu verwenden (
NZZ, 1.10.99).83
[84]
BBl, 2000, S. 234 ff. Siehe
SPJ 1998, S. 296.84
[85]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1322.85
[86]
NZZ, 1.2.99; Presse vom 15.7.99. Die „Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind“ erhob bei der Rechtskommission der IKS Beschwerde gegen den Entscheid (
NZZ, 20.8.99). Diesem wurde vom Bundesgericht keine aufschiebende Wirkung erteilt, weshalb Mifegyne weiter im Handel blieb; zudem liess das BG durchblicken, dass die Beschwerde kaum Aussicht auf Erfolg habe (
NZZ, 29.9. und 30.10.99; Presse vom 22.11.99).86
[87] Presse vom 16.6.99. Siehe
SPJ 1996, S. 284 und
1998, S. 296.87
[88]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1821 ff. Zu einer Umfrage zu diesem Thema sowie zu Äusserungen von Abgeordneten von FDP, SP und GP siehe Presse vom 23.6.99.88
[89]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2583 ff.89
[90]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2193 f.90
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