Année politique Suisse 2000 : Politique sociale / Population et travail
 
Löhne
Im Berichtsjahr nahmen die Löhne gemäss BFS nominal um 1,3% zu, verloren aber teuerungsbedingt real 0,3%. Einzig der Agrarsektor legte real um 0,3% zu. Aufgeschlüsselt nach Branchen stiegen die Reallöhne bei den Versicherungen (+1,2%), den Banken (+0,7%) und den sonstigen öffentlichen und persönlichen Dienstleistungen überdurchschnittlich. Kaufkrafteinbussen mussten dagegen unter anderem die Beschäftigten im Unterrichtswesen (-0,9%), im Gastgewerbe (-0,9%) und im Gesundheits- und Sozialwesen (-0,1%) hinnehmen. Die Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF), die von anderen Daten ausgeht als das BFS (AHV- anstatt SUVA-Statistik), kam demgegenüber auch dieses Jahr zu höheren Werten. Gemäss KOF nahmen die Löhne nominal um 3,3% und real um 1,7% zu. Die Löhne der Schweizer Topmanager (ohne variable Lohnbestandteile wie Gewinnbeteiligungen und Aktiensparpläne) stiegen im Berichtsjahr nominal um 4,7% [18].
Für 2001 handelten die Gewerkschaften im Mittel 2,9% mehr Lohn aus; davon wurden 2,1% generell und 0,8% individuell zugesichert. Die Gewerkschaften hatten ursprünglich mindestens 3,5% verlangt (rund 2% Teuerungsausgleich und 1,5% Reallohnzuwachs) [19]. Der Trend hin zu immer mehr individuellen Lohnerhöhungen nach dem Leistungsprinzip scheint allerdings gebrochen zu sein. Nachdem noch 1994 rund 87% aller Lohnanpassungen als generelle Lohnerhöhungen vereinbart worden waren, sank dieser Anteil kontinuierlich, bis er 1998 den Tiefststand von etwa 20% erreichte. In der Lohnrunde 1999 wurden wieder 67% des gesamtvertraglich ausgehandelten Lohnzuwachs für generelle Lohnerhöhungen aufgewendet, Tendenz für 2000 steigend. Der Arbeitgeberverband erklärte seine Bereitschaft, wieder vermehrt zu generellen Lohnanpassungen zurückzukehren, mit der guten Konjunktur, welche eine nicht unbeträchtliche Erhöhung der gesamten Lohnsumme möglich mache; zur Motivations- und Produktivitätssteigerung wollen die Arbeitgeber aber keinesfalls auf Leistungslohnkomponenten verzichten [20].
Der SGB stellte die Feiern zum 1. Mai unter das Motto „Keine Löhne unter 3000 Franken“, eine Forderung, welche die Gewerkschaften bereits im Vorjahr erhoben hatten [21]. Dass die Wirtschaft Mindestlöhne in den Tieflohnbereichen verkraften könnte, zeigte der Bericht einer aus Ökonomen und Juristen zusammengesetzten Expertengruppe, die im Auftrag des SGB Möglichkeiten zur Festlegung von Mindestlöhnen und deren Folgen untersuchte. Heute arbeiten 169 000 vollzeiterwerbstätige Personen zu Gehältern, die unter einem Nettoeinkommen von 2250 Fr. liegen; 400 000 Arbeitnehmende verdienen weniger als 3000 Fr. netto. Das sind immerhin 5,4% resp. 12,9% der Unselbständigerwerbenden. In den typischen Niedriglohnbranchen Gastgewerbe, Detailhandel und Reinigungsgewerbe arbeiten ein Drittel bis zwei Fünftel der Angestellten zu Salären unter 3000 Fr. In den betroffenen Betrieben würde beim geforderten Mindestlohn von 3000 Fr. die Lohnsumme um vier bis sieben Prozent steigen. Die neuen Mindestlöhne würden sich im Gastgewerbe mit plus drei oder vier Prozent auf die Preise auswirken, wobei allerdings auch möglich wäre, dass dadurch die längst fälligen Strukturanpassungen beschleunigt würden. In der Reinigungsbranche könnten substantielle Lohnerhöhungen allerdings auch zu vermehrter Schwarzarbeit führen, weshalb deren Bekämpfung erste Priorität zukomme. Die von Arbeitgeberseite immer wieder vorgebrachte Behauptung, Mindestlöhne würden die Beschäftigungshöhe negativ beeinflussen, habe sich durch Untersuchungen in Ländern mit gesetzlich festgelegtem Mindestlohn nicht erhärten lassen. Nicht schlüssig waren sich die Experten, ob das Ziel über Normalarbeitsverträge, Gesamtarbeitsverträge oder über gesetzlich festgelegte Minimallöhne erreicht werden soll [22].
Der Lohnstreit auf dem Bau spitzte sich in den ersten Monaten des Berichtsjahres weiter zu. Der Aufschwung im Bauhauptgewerbe mit seinen rund 100 000 Beschäftigten – wovon rund zwei Drittel in der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) organisiert – und anstehende Grossprojekte (NEAT, Expo) stärkten die Stellung der Gewerkschaften, die nun offen mit Streik drohten, falls die Baumeister die Ende des Vorjahres ausgehandelten Bedingungen nicht akzeptieren sollten. Schliesslich schaltete sich Bundesrat Couchepin ein, der befürchtete, der Lohnstreit könnte sich negativ auf die Abstimmung über die bilateralen Verträge mit der EU auswirken, da ohne gültigen GAV die im Vorjahr mühsam ausgehandelten Massnahmen gegen Lohndumping hinfällig und damit die Unterstützung durch die Gewerkschaften unsicher würden. An dem von Couchepin einberufenen runden Tisch einigten sich die Sozialpartner auf jene Vereinbarung, die sie bereits Ende des Vorjahres ausgearbeitet hatten, welche der Baumeisterverband im Januar aber überraschend platzen liess: den Bauarbeitern wurde eine generelle Lohnerhöhung von 100 Fr. zugestanden, dafür machten die Gewerkschaften die Kündigung des Landesmantelvertrages rückgängig und akzeptierten mehr Flexibilität bei den Gleitstunden [23]. Für 2001 handelten die Sozialpartner eine generelle Lohnerhöhungen um 160 Fr. plus individuelle Lohnanpassungen um 40 Fr. aus; die Gesamtlohnsumme steigt damit um rund 4,4% [24].
Die Gewerkschaft Unia verlangte eine Anhebung der Löhne um 300 Fr. pro Monat für alle Angestellten im Gastgewerbe, und zwar sowohl bei den gesamtarbeitsvertraglich ausgehandelten Mindestlöhnen (2410 Fr. für Ungelernte, 3860 Fr. für Arbeitnehmende mit Ausbildung), als auch bei den effektiven Gehältern. Da die Unia nicht in den Landes-GAV eingetreten ist, konnte sie aber an den offiziellen Lohnverhandlungen mit den Arbeitgebern nicht teilnehmen. Diese Gespräche wurden von der Union Helvetia geführt. Auch sie forderte eine Lohnerhöhung von 300 Fr. für alle Angestellten. Zudem verlangte sie, dass die unterste Grenze auf 3000 Fr. netto angehoben wird. Die Sozialpartner einigten sich schliesslich auf eine Lohnerhöhung um 100 Fr. für die unterste Lohnklasse und von 110 bis 150 Fr. für die Kader [25].
Ins Kreuzfeuer gerieten die beiden Grossverteiler Migros und Coop, die – trotz sehr gutem Geschäftsgang – selbst langjährigen Mitarbeitenden Nettolöhne von knapp 3000 Fr. ausrichten. FDP-Parteipräsident Steinegger forderte die beiden Firmenketten auf, Gehälter zu bezahlen, „die zum Leben ausreichen“, da sonst die öffentliche Hand Unternehmen der Tieflohnbranche mit der von ihr geleisteten Sozialhilfe de facto subventionieren würde. Staatlich festgelegte Mindestlöhne verwarf er aber und meinte, der freie Arbeitsmarkt werde die Sache von alleine regeln [26]. Die Migros reagierte auf die (ihrer Ansicht nach geschäftsschädigenden) Vorwürfe der Gewerkschaften mit ganzseitigen Inseraten in allen grossen Tageszeitungen. Sie versprach darin, allen vollzeitbeschäftigten Mitarbeitenden ab 2001 einen Bruttolohn von mindestens 3000 Fr. auszurichten (3300 Fr. ab 2003). Zudem verwies die Genossenschaft darauf, dass sie in anderen Sozialbereichen (Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen, Leistungsprimatspension mit 62 Jahren usw.) ein sehr sozialer Arbeitgeber sei [27].
 
[18] Presse vom 20.6.01. Vgl. SPJ 1998, S. 226 und 1999, S. 235. Zu der Frage, ob sich die Lohnschere in den letzten Jahren geöffnet hat oder nicht, siehe Lit. Küng; NZZ, 5.7.00; Bund, 27.7.01; BZ, 22.9.00.18
[19] Presse vom 17.8. und 18.12.00 sowie 20.6.01.19
[20] Presse vom 30.5. und 18.12.00; LT, 7.7.00; Bund, 15.7. und 20.11.00; SHZ, 6.9.00; NLZ, 20.9.00; BaZ, 2.12.00.20
[21] Presse vom 29.4.-2.5.00. Siehe SPJ 1999, S. 227.21
[22] Presse vom 23.5.00. Die vollständige Studie kann auf der Homepage des SGB eingesehen werden. Auch die OECD konnte keine negativen Beschäftigungseffekte von Mindestlöhnen feststellen (OECD, Economic Studies, Nr. 31, 2000/II).22
[23] TA, 11.2.00; BaZ, 11.3.00; Presse vom 17.3.00. Gemäss SGB dürfte die Erhöhung um 100 Fr. für die meisten Bauarbeiter einer Steigerung des Lohnes von mehr als 2% entsprechen (TA, 8.4.00). Siehe SPJ 1999, S. 236 f.23
[24] BZ, 6.11.00; Bund, 20.11.00.24
[25] TA, 27.5. und 24.6.00.25
[26] TA, 28.11.00. Arbeitgeberpräsident Hasler vermochte hingegen keine moralische oder gesellschaftliche Pflicht zur Bezahlung von existenzsichernden Löhnen auszumachen; er meinte, Unternehmen müssten wirtschaftlich denken und nicht sozial (Bund, 8.12. und 9.12.00).26
[27] Presse vom 9.12., 11.12. und 21.12.00.27