Année politique Suisse 2000 : Politique sociale / Assurances sociales / Krankenversicherung
Obschon sich die Spirale der Gesundheitskosten wegen der nichteinkommensabhängigen Prämien vor allem für die weniger bemittelten Versicherten weiter dreht, will der Bundesrat das heutige Krankenversicherungssystem nicht umkrempeln. Seine bereits im Vorjahr angekündigten Absage an die Volksinitiative der SP „Gesundheit muss bezahlbar bleiben“ („Gesundheitsinitiative“) begründete er in seiner diesbezüglichen Botschaft ans Parlament.Die Initiative, möchte von den starren Kopfprämien, die einzigartig in Europa sind, abkommen und verlangt eine Mischfinanzierung über Mehrwertsteuerprozente sowie über einkommens- und vermögensabhängige Prämien. Zur besseren Kostenkontrolle schlägt sie weiter die Verschiebung von Kompetenzen von den Kantonen auf den Bund vor, so etwa bei der Spitalplanung, der Festsetzung von Preisen und Tarifen sowie bei der Zulassung von Leistungserbringern. Aus Sicht des Bundesrates ist die Initiative jedoch mit einer ganzen Reihe von Mängeln behaftet. Die neue Finanzierung bereite nicht nur enorme Schwierigkeiten bei der Umsetzung, sie setze auch falsche Anreize. Durch den Wegfall von Franchise und Selbstbeteiligung würde das Kostenbewusstsein der Patienten vermindert. Ein Wettbewerb unter den Krankenkassen über die Prämien wäre nicht mehr möglich. Der soziale Ausgleich sei zudem über den Ausbau der bedarfsgerechten individuellen Prämienverbilligungen besser zu erreichen.
In dieser Botschaft präsentierte der Bundesrat erstmals eine
Gesamtschau der sozialen Krankenversicherung und zog eine Bilanz zu den drei Hauptzielen des neuen KVG (Verstärkung der Solidarität, Eindämmung der Kosten und Sicherstellung einer qualitativ hochstehenden Versorgung). Er kam dabei zum Schluss, dass das KVG einen vorzüglichen und umfassenden Versicherungsschutz bei gesamthaft betrachtet tragbaren Prämien garantiert. Dass gewisse Ziele noch nicht optimal erfüllt werden konnten, sei nicht dem geltenden System, sondern vor allem den Kantonen anzulasten. Mängel ortete er namentlich bei der je nach Kanton unterschiedlichen Ausrichtung der Prämienverbilligungen an Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen. Verbesserungen können nach Auffassung des Bundesrates mit Teilrevisionen des KVG sowie mit dem Neuen Finanzausgleich zwischen dem Bund und den Kantonen erreicht werden
[63].
Erwartungsgemäss fand die SP-Initiative bei der bürgerlichen Mehrheit im
Nationalrat keine Unterstützung. SP-Fraktionschef Cavalli (TI) legte einleitend dar, dass es eine Illusion sei zu glauben, ein vom Angebot bestimmter Markt könne die Kosten nach wettbewerbspolitischen Grundsätzen regeln. Die Abkehr von den Kopfprämien würde zur grössten finanziellen Entlastung führen, die man in der Schweiz je für
Familien mit mittleren Einkommen vorgeschlagen habe. Die Sprecher von FDP, CVP, SVP und LP widersprachen dem und rechneten vor, dass eine Verlagerung auf die
Mehrwertsteuer keineswegs sozial sei. Im Gegenteil: Eine – gemäss Initiativtext nach oben offene – Erhöhung dieser Konsumsteuer treffe am härtesten junge Familien. Man gaukle einen Sinkflug der Prämien vor, tatsächlich aber würde der Bevölkerung das Geld via indirekte Steuern aus der Tasche gezogen, warnte der Aargauer CVP-Vertreter Zäch. Ins gleiche Horn stiess der Zürcher Freisinnige Gutzwiller. Nicht zentralistische Planwirtschaft führe zur Genesung des Krankenversicherungssystems, sondern die konsequente
Umsetzung wettbewerblicher Anreize. Als prioritär erachtete er die umfassende Reform der Spitalfinanzierung, die Aufhebung des Vertragszwangs zwischen Kassen und Leistungsanbietern und eine wirkungsorientierte Überprüfung der Grundversicherungsleistungen. Die Initiative wurde mit 91 gegen 55 Stimmen
deutlich abgelehnt. Ein Antrag des Tessiner CVP-Vertreters Robbiani, die Vorlage zwecks Ausarbeitung eines indirekten Gegenvorschlags an die Kommission zurückzuweisen, der die Unterstützung von Bundesrätin Dreifuss fand, wurde ebenfalls – wenn auch bedeutend knapper – mit 79 zu 62 Stimmen verworfen
[64].
[63]
BBl, 2000, S. 4267 ff.; Presse vom 2.6.00. Mit diesem Entscheid desavouierte der BR Kollegin Dreifuss, welche im Vorjahr vor der Presse die Auffassung vertreten hatte, die Kopfprämien seien sozialpolitisch an ihre Limiten gelangt (
SPJ 1999, S. 275). Zum Umstand, dass die KK-Prämien den Mittelstand weiterhin überproportional belasten, siehe
a.a.O., S. 274. 63
[64]
AB NR, 2000, S. 1501 ff., 1507 ff. und 1547 ff. Zu weiteren Volksinitiativen im Bereich Gesundheitspolitik siehe oben, Teil I, 7b (Spitäler und Medikamente). 64
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