Année politique Suisse 2000 : Politique sociale / Assurances sociales / Krankenversicherung
Zusammen mit elf anderen Behandlungen und Untersuchungen wurden Mitte Jahr die Kosten für die
Heroinabgabe in den Katalog der von den Krankenkassen zu bezahlenden
Pflichtleistungen aufgenommen. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich das Volk in der Abstimmung vom Juni 1999 explizit für die ärztliche Verschreibung von Heroin ausgesprochen hat. Die Neuregelung umfasst alle medizinischen Leistungen, die in Zusammenhang mit der Abgabe von Heroin sowie dem bereits heute kassenpflichtigen Methadon resp. Buprenorphin (wie Methadon ein Ersatzstoff, jedoch mit kleinerem Suchtpotential) anfallen. Alle weiteren Begleitmassnahmen wie soziale Hilfe, Wohnungs- oder Arbeitsvermittlung sind davon getrennt und verursachen den Krankenkassen keine zusätzlichen Kosten
[68]. Diese Ausdehnung des Leistungskatalogs rief umgehend die SVP auf den Plan. Sie erklärte, wenn Bundesrätin Dreifuss weiterhin einer derart „kostentreibende“ Politik nachgehe, müsse man sich überlegen, dem EDI das Dossier zu entziehen und es entweder dem EJPD resp. dem Gesamtbundesrat oder dem Parlament zuzuweisen
[69]. Für ihre Entscheide fand Dreifuss hingegen die Unterstützung der restlichen Bundesratsparteien. Bei den traditionellen Von-Wattenwyl-Gesprächen im November wurde sie aber aufgefordert, zukünftig die
politischen Konsultationen zu intensivieren, wenn es um Leistungen von grösserer Tragweite geht. Dabei wurde insbesondere an Präparate oder Behandlungen gedacht, die einen Wertestreit auslösen oder einen grösseren Kostenschub zur Folge haben könnten
[70].
Nicht behandelt werden konnten im Berichtsjahr zwei Postulate, welche die paradoxe Situation thematisierten, dass die Krankenkassen heute die Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch übernehmen, jene für die Prävention aber nicht. Nationalrätin Dormann (cvp, LU) wollte den Bundesrat verpflichten, ärztlich verordnete
Verhütungsmittel in den Grundleistungskatalog aufzunehmen, Nationalrätin Maury Pasquier (sp, GE) erhob die gleiche Forderung für die
freiwillige Sterilisation. Beide Parlamentarierinnen stellten fest, dass – abgesehen von ethischen Überlegungen – Präventionsanstrengungen die Krankenversicherung letztlich weniger kosten als die Abdeckung eines Schwangerschaftsabbruchs resp. einer Geburt, ganz zu schweigen von den sozialen Kosten einer nicht gewollten oder nicht verantwortbaren Schwangerschaft. Obgleich der Bundesrat bereit war, beide Postulate entgegen zu nehmen, wurden sie von Abgeordneten der SVP bekämpft – jenes von Dormann von Haller (BE), jenes von Maury Pasquier von Bortoluzzi (ZH) – und damit vorderhand einem Beschluss des Rates entzogen
[71]. Noch weniger Erfolg hatte eine Motion Maury Pasquier zur Rückerstattung der Leistungen von
Podologen für die Fusspflege bei Diabetikern. Bundesrat Dreifuss erklärte, ihr Departement habe diese Frage bereits geprüft und negativ entschieden, da diese Dienstleistung vom Pflegepersonal in Spitälern und Heimen sowie den Spitex-Diensten angeboten werde; ein Grundsatz des KVG sei es, keine neuen Berufsgruppen zur sozialen Krankenversicherung zuzulassen, wenn eine Leistung schon von einer anderen anerkannten Berufsgruppe erbracht wird. Die Motion wurde mit 62 zu 41 Stimmen abgelehnt
[72]. Ebenfalls verworfen wurde eine Motion Gysin (sp, BS), die verlangte, die
Krankentransporte sollten vollumfänglich (und nicht wie heute in der Regel zu 50%) von der Grundversicherung übernommen werden. Gysin dachte dabei vor allem an schwerst kranke Langzeitpatienten, die mehrmals wöchentlich eine nicht zu Hause durchführbare Behandlung (Bestrahlung, Dialyse usw.) benötigen. Bundesrätin Dreifuss erinnerte daran, dass diese Frage bei der Einführung des neuen KVG geprüft worden sei, angesichts der schwierigen Überprüfbarkeit aber nicht Eingang ins Gesetz gefunden habe
[73].
In Erwartung des Inkrafttretens des Bundesgesetzes über die
künstliche Fortpflanzung auf den 1.1.2001 stellte sich auch die Frage, ob die Befruchtung im Reagenzglas, die pro Zyklus zwischen 5000 und 8000 Fr. kostet, kassenpflichtig werden soll. Die eidgenössische Leistungskommission, die zuhanden des EDI Empfehlungen für die Kassenpflicht von Medikamenten und Behandlungen abgibt, entscheid im Grundsatz bereits, dass die In-vitro-Fertilisation darunter fallen soll, konnte sich aber noch nicht über das Ausmass und die Bedingungen einigen
[74].
[68] Presse vom 11.7. und 16.9.00. Das BSV nahm an, dass die zwölf neuen Leistungen weniger als ein halbes Prozent Prämienanstieg bewirken werden, die Heroinabgabe gar nur Promille. Siehe
SPJ 1999, S. 256 ff. NR Heim (cvp, SO) reichte eine von 70 Parlamentariern aus CVP, FDP und SVP mitunterzeichnete Motion auf Rückgängigmachung des Heroinentscheids ein (Geschäft 00.3459). Die Krankenkassen kündigten ebenfalls an, sie würden alle rechtlichen und politischen Mittel ausschöpfen, um die Kassenpflicht der Heroinabgabe abzuwenden (
Bund, 4.8.00). 68
[69] Presse vom 11.7. und 18.7.00;
AZ, 4.10.00. Eine Motion Bortoluzzi (svp, ZH) aus dem Jahr 1998, in welcher er u.a. eine Einschränkung des Grundversicherungspakets verlangte, wurde vom NR in der Frühjahrssession mit 71:67 Stimmen verworfen (
AB NR, 2000, S. 371 ff.). Die Überweisung eines Postulats der FDP-Fraktion zur Überprüfung des Grundleistungskatalogs scheiterte vorderhand am Widerstand von NR Gross (sp, TG):
a.a.O., S. 451. Gegen den Willen des BR, der für Abschreibung plädierte, wurde mit 91:39 Stimmen ein Postulat Guisan (fdp, VD) angenommen, das den BR auffordert abzuklären, wie vielversprechende neueste Medikamente, die noch nicht kassenzulässig sind, abgegolten werden können (
a.a.O., S. 368 f.). 69
[70] Presse vom 11.11.00. Da Heroin für seine Kassenzulässigkeit vom IKS anerkannt werden muss, was sich im Berichtsjahr verzögerte, rechnet das BSV erst für 2002 mit der Vergütung durch die Krankenkassen (Presse vom 16.9.00). 70
[71]
AB NR, 2000, S. 1197 f. 71
[72]
AB NR, 2000, S. 374. 72
[73]
AB NR, 2000, S. 370 f. 73
[74]
TA, 20.7.00;
Bund, 29.12.00. 74
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