Année politique Suisse 2000 : Politique sociale / Assurances sociales
Arbeitslosenversicherung
Nach Kenntnisnahme der Vernehmlassungsergebnisse leitete der Bundesrat im Februar seine Vorlage zu einer Teilrevision der Arbeitslosenversicherung (ALV) den eidgenössischen Räten zu. Ziel dieser technischen Revision ist eine
Optimierung im Leistungs- und Kostenbereich. An die Stelle der bisherigen Auflage eines Mindestangebots an Beschäftigungs- und Weiterbildungsprogrammen treten Leistungs- und Wirkungsvereinbarungen mit den Kantonen. Diese „Minirevision“ wurde von beiden Kammern diskussionslos angenommen
[81].
Gleichzeitig nahm der Bundesrat eine grössere Revision des Gesetzes über die Arbeitslosenversicherung (AVIG) in Angriff, welche die
langfristige Finanzierung der ALV sicherstellen soll. Entsprechende Vorschläge gingen im September in die Vernehmlassung. Mit dem Auslaufen der Notmassnahmen für die Rückzahlung der Schulden der ALV (Ende 2003) soll der Beitragssatz wieder auf
zwei Lohnprozente für Arbeitnehmer und Arbeitgeber zurückgefahren werden, Löhne zwischen 106 800 (maximaler versicherter Verdienst) und 267 000 Fr. bleiben aber weiterhin mit einem Prozent belastet (
Deplafonierung). Damit eine über einen Konjunkturzyklus ausgeglichene Rechnung der Versicherung möglich wird, sollen sich der Bund und die Kantone fest an den Kosten der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren und der arbeitsmarktlichen Massnahmen beteiligen. Die Belastung von Bund und Kantonen wird dadurch im Vergleich zu heute nur wenig erhöht. Die
Mindestbeitragszeit für die Geltendmachung von Ansprüchen soll von sechs auf zwölf Monate
erhöht und die
Entschädigungsdauer von 520 auf 400 Tage
gekürzt werden, wobei für ältere Arbeitnehmer sowie IV- und UV-Rentner die heutige Dauer belassen werden soll. Weitergehenden Forderungen bürgerlicher Politiker (degressiv abgestufte Taggelder, schärfere Zumutbarkeitsregeln, längere Wartezeiten für den Bezug von Taggeldern, Aufteilung der ALV in eine obligatorische Grundversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung) erteilte der Bundesrat eine Absage, da sie in den meisten Fällen nur die Sozialhilfe belasten würden. Bundesrat Couchepin bezeichnete die Vorlage als ausgewogen und den Anliegen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber Rechnung tragend. Diese Einschätzung wurde durch die gleichmässig verteilte
Unzufriedenheit der Sozialpartner bestätigt. Der Arbeitgeberverband zeigte sich „schockiert“ ob der Absicht des Bundesrates, eine „Reichtumssteuer“ einzuführen („Solidaritätsbeitrag“ der höheren Einkommen), die Gewerkschaften stuften diesen als zu niedrig ein und kritisierten, mit den Leistungskürzungen bitte der Bundesrat die „Schwächsten der Gesellschaft zusätzlich zur Kasse“
[82].
Da die ALV 1999 aufgrund des Rückgangs der Arbeitslosigkeit wieder schwarze Zahlen geschrieben hatte, ging das vom Bundesrat vorgeschlagene Tempo zur Rückkehr zum alten Beitragssatz von 2% der Finanzkommission des Nationalrates zu gemächlich. Mit einer mit 98 zu 66 Stimmen vom Plenum gutgeheissenen Motion wollte er den Bundesrat beauftragen, bereits auf Anfang 2003 das
dritte Lohnprozent abzuschaffen. Der Ständerat war aber anderer Meinung. Mit 21 zu 10 Stimmen lehnte er die Motion ab. Er befand, die ALV solle zuerst Reserven bilden können, um längerfristig gegen Krisen gewappnet zu sein
[83].
Nach der grossen Kammer im Vorjahr überwies auch der Ständerat gegen den Willen des Bundesrates eine Motion der Wirtschaftskommission des Nationalrates, die eine Änderung des AVIG zur Erleichterung der Aufnahme einer
selbständigen Erwerbstätigkeit verlangt. Es geht dabei insbesondere um die Ausdehnung des Instruments der Bürgschaften. Nur als Postulat angenommen wurde eine ebenfalls vom Nationalrat gutgeheissene Motion der SP-Fraktion für eine von Bund und Kantonen unterstützte
Nachholbildungsoffensive für Erwachsene
[84].
Mit mehreren Vorstössen strebten Vertreter der SVP eine Einschränkung beim Bezug von Arbeitslosentaggeldern an. Eine Motion Baumann (TG) verlangte, dass Versicherte vor einer
Erziehungsperiode (Erwerbsunterbruch wegen Betreuung von Kleinkindern) mindestens sechs Monate eine Erwerbstätigkeit in der Schweiz ausgeübt haben müssen, um überhaupt in den Genuss von Taggeldern zu kommen. Ein Postulat Hasler (AG) wollte den Bezug zudem von ausreichenden Kenntnissen einer
Landessprache abhängig machen. Beide Vorstösse waren 1998 von Vertretern der SP und der GP als frauen- und fremdenfeindlich bezeichnet und bekämpft worden. Mit Einverständnis des Bundesrates, der in diesem Bereich tatsächlich ein Missbrauchspotential ortete, wurden nun beide Vorstösse angenommen, die Motion mit 79 zu 62 Stimmen, das Postulat mit 83 zu 55 Stimmen. Unterstützung erhielten sie vom St. Galler CVP-Vertreter Widrig, der in einer Motion eine diesbezügliche Gesetzesänderung verlangte. Da der Bundesrat auf die Vorarbeiten für eine umfassende Revision des AVIG verwies, wurde dieser Vorstoss lediglich als Postulat überwiesen. Der Ständerat nahm die Motion Baumann ebenfalls an
[85].
[81]
BBl, 2000, S. 1673 ff.;
AB NR, 2000, S. 681 ff. und 854;
AB SR, 2000, S. 258 und 479. Diese Revision weist in die gleiche Richtung wie die Vereinbarung 2000, welche Bund und Kantone im Interesse eines wirkungsorientierten Vollzugs der ALV abschlossen. Ziel ist eine Effizienzsteigerung der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) im Hinblick auf eine rasche und dauerhafte Wiedereingliederung der Stellensuchenden in den Arbeitsmarkt
. Den Kantonen werden nicht mehr einfach die Vollzugskosten des Avig ersetzt, sondern mit einem Bonus-/Malussystem auch die damit erzielten Wirkungen (insbesondere Verkürzung des Taggeldbezugs) berücksichtigt. Siehe dazu: Robert, Geneviève, „Für eine wirkungsorientierte Arbeitslosenversicherung“, in
Die Volkswirtschaft, 2000, Nr. 4, S. 52-55. 81
[82] Presse vom 10.6. und 19.9.00;
TA und
TG, 11.12.00. Eine Reduktion bei den Taggeldern, die in der Volksabstimmung von 1997 deutlich verworfen wurde, lehnte Wirtschaftsminister Couchepin ab, da sie zu gravierenden sozialen Problemen führen könnte. (Presse vom 3.1.00). Siehe
SPJ 1997, S. 273 f. Das Seco prüfte Vorschläge, von Unternehmen und Branchen, die eine „Hire and Fire“-Politik betreiben, höhere Beiträge an die ALV zu verlangen, nahm diese dann aber nicht in die Vernehmlassungsvorlage auf; in Skandinavien und in einzelnen Staaten der USA hat man mit differenzierten Beiträgen gute Erfahrungen gemacht (
SHZ, 29.3.00). 82
[83]
AB NR, 2000, S. 515;
AB SR, 2000, S. 338. Vgl.
SPJ 1999, S. 281. Als im Sommer die Arbeitslosenquote erstmals seit 1992 unter 2% fiel, stellte Bundesrat Couchepin in Aussicht, das dritte Lohnprozent bereits Mitte 2003 zu streichen (Presse vom 10.6.00). Im Vernehmlassungsentwurf zur ALV-Revision war dann wieder die Rede von Ende 2003 (Presse vom 19.9.00). 83
[84]
AB NR, 1999, S. 1171;
AB SR, 2000, S. 127 f. Siehe
SPJ 1999, S. 234. 84
[85]
AB NR, 2000, S. 475 ff.;
AB SR, 2000, S. 868. Das Eidg. Versicherungsgericht entschied, die ALV-Verordnung sowie die entsprechende Weisung, wonach eine Erziehungsperiode mindestens 18 Monate innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist zum Bezug von Arbeitslosentaggeldern dauern müsse, um einen Anspruch zu eröffnen, sei gesetzeswidrig, da das Avig keine Mindestdauer für die Erziehungspause nennt; das BWA (heute Seco, Direktion für Arbeit) hatte die Auffassung vertreten, Erziehungszeiten dürften aus finanzpolitischen Überlegungen und wegen der Missbrauchsgefahr nur sehr zurückhatend angerechnet werden (
NZZ, 29.2.00). 85
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