Année politique Suisse 2001 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Krankenversicherung
Noch nie wurde ein Gesetz derart umfassend evaluiert wie das neue KVG. Für rund 2,5 Mio Fr. gab das BSV 23 Projektarbeiten in Auftrag, die ab 1998 laufend publiziert wurden, um abzuklären, ob das Gesetz seine Hauptstossrichtung realisieren konnte, nämlich eine qualitativ hochstehende und umfassende medizinische Versorgung für die gesamte Bevölkerung zu tragbaren Kosten sicherzustellen. Untersucht wurde zudem, wie sich der 1996 vollzogene Systemwechsel auf die Akteure im Gesundheitswesen (Versicherte, Kassen, Ärzte und Spitäler) ausgewirkt hat und wie der Mix aus Regulierung und Wettbewerb genutzt wurde. Ende Jahr präsentierte das EDI eine wissenschaftliche Synthese aller Einzelprojekte. Daraus ging hervor, dass das wichtigste Ziel zwar erreicht ist, dass in Einzelbereichen (beispielsweise Riskoausgleich, Prämienverbilligungen) aber noch Handlungsbedarf besteht und insbesondere die Massnahmen zur Kosteneindämmung nur ungenügend gegriffen haben. Die Preise blieben in den letzten Jahren zwar relativ stabil, doch verursachte die in allen Bereichen beobachtete Mengenausweitung ein Ausgabenwachstum, das die jeweilige Jahresteuerung deutlich überstieg. Für Bundesrätin Dreifuss liegt der wesentliche Grund dafür im medizinisch-technologischen Fortschritt, in der zunehmenden Zahl von Leistungserbringern und in der Alterung der Bevölkerung. Als kurz- und mittelfristige Massnahmen schlug sie die Verwendung der von den Kantonen nicht beanspruchten Mittel zur Prämienverbilligung für Familien mit Kindern vor, eine Harmonisierung des gesetzlichen Minimalreservesatzes der Versicherungen (unter gleichzeitiger Einführung einer Rückversicherung), die Errichtung eines Hochkostenpools, der jene Fälle abdecken soll, die eine gewisse Summe pro Jahr übersteigen, die Verpflichtung zur Einholung einer Zweitmeinung vor (allzu) oft praktizierten Operationen und eine weitere Preissenkungsrunde im Bereich der Medikamente [16].
Angesichts des Unmuts in der Bevölkerung über die ständig steigenden Krankenkassenprämien präsentierten die Bundesratsparteien ihre Rezepte für eine nachhaltige Verbesserung des Gesundheitswesens. Die SVP hielt an ihrer Absicht fest, über eine Volksinitiative die „massiven Systemfehler“ des KVG zu korrigieren; die obligatorische Grundversicherung soll drastisch redimensioniert und zusätzliche Leistungen über freiwillige Versicherungen abgedeckt werden. Auch die SP schloss eine Zweiteilung der sozialen Krankenversicherung nicht aus, allerdings mit ganz anderen Schwerpunkten: Bagatellerkrankungen sollen weiterhin über die Grundversicherung abgegolten werden, Hochrisikofälle hingegen über Steuern oder einkommensabhängige Beiträge; ein besonderes Sparpotential liegt ihrer Ansicht nach bei den Medikamenten. Wie die SVP setzten auch CVP und FDP auf mehr Eigenverantwortung und verstärkten Wettbewerb, weshalb sie ebenfalls für eine Verkleinerung des Grundleistungsangebots und für die Aufhebung des Kontrahierungszwangs eintraten [17].
Im Vorjahr hatte das EDI angekündigt, die Kosten für die ärztlich verordnete Abgabe von Heroin in den Leistungskatalog der Grundversicherung aufnehmen zu wollen. Die SVP-Fraktion hatte diesen Entscheid zum Anlass genommen, in einer parlamentarischen Initiative zu verlangen, das Parlament solle anstelle des EDI den Grundleistungskatalog der Krankenversicherung regeln. Der Nationalrat hielt diesem Frontalangriff auf Bundesrätin Dreifuss entgegen, die Abgeordneten verfügten nicht über das nötige Wissen und wären nicht imstande, fristgerechte Entscheide zu treffen. Zudem wurde die Befürchtung geäussert, Minderheiten mit schweren chronischen und deshalb teuren Krankheiten hätten im Parlament wegen der fehlenden Lobby nur geringe Chancen, angemessen berücksichtigt zu werden. Die Initiative wurde mit 109 zu 49 Stimmen deutlich abgelehnt [18].
Mit mehreren parlamentarischen Initiativen wurde in der Herbstsession verlangt, die Prämienbelastung insbesondere für den Mittelstand resp. für Familien mit Kindern zu senken. Im Einklang mit Bundesrätin Dreifuss regte die SP-Fraktion an, die von den Kantonen zur Prämienverbilligung nicht abgeholten Bundessubventionen seien gezielt zur Entlastung von Familien mit Kindern einzusetzen. Nationalrätin Fehr (sp, ZH) wollte, dass Jugendliche unter 18 Jahren keine Prämien für die Grundversicherung bezahlen und Personen in Ausbildung eine Prämienreduktion erhalten. Mit dem Hinweis auf die laufende KVG-Teilrevision wurden diese beiden Vorstösse mit Zweidrittelsmehrheiten verworfen. Mit nur einer Stimme Differenz ganz knapp angenommenen wurde hingegen eine Initiative Meyer-Kälin (cvp, FR), die verlangt, dass die Grundversicherungsprämie für das zweite Kind um 50% gesenkt wird und ab dem dritten Kind ganz entfällt, wenn Eltern und Kinder bei der gleichen Kasse versichert sind. Eine Motion Robbiani (cvp, TI), die eine Prämienfreiheit für Jugendliche anstrebte, war bereits in der Sommersession abgelehnt worden [19].
Der Ständerat lehnte zwei Standesinitiativen der Kantone Waadt und Genf zur Transparenz und Veröffentlichung der Rechnungsabschlüsse der Krankenversicherer als durch die Bestimmungen des KVG teilweise erfüllt ab, nahm aber ein Postulat seiner SGK an, das den Bundesrat zu prüfen ersucht, ob die Jahresbilanzen und Betriebsrechnungen der Krankenkassen im Bereich der Grundversicherung die Reserven und Rückstellungen in genügend transparenter Form ausweisen oder ob weitere Massnahmen in dieser Hinsicht zu ergreifen sind [20]. Der Nationalrat überwies eine Motion Dormond (sp, VD) für eine Änderung des KVG in dem Sinn, dass die Reserven nicht mehr aufgrund der geschuldeten Prämien, sondern auf der Basis des letzten Rechnungsjahres berechnet werden, auf Antrag des Bundesrates als Postulat [21].
Mit zwei Motion verlangte die SVP-Fraktion die volle Freizügigkeit resp. Vergünstigungen beim Wechsel der Zusatzversicherungen. Der Bundesrat erinnerte einmal mehr daran, dass der Gesetzgeber bei der Ausarbeitung des KVG darauf verzichtet habe, diese dem Sozialversicherungsrecht zu unterstellen, stellte jedoch eine Prüfung im Rahmen der anstehenden Revision des Versicherungsvertragsgesetzes in Aussicht. Auf seinen Antrag wurden die Motionen lediglich als Postulate angenommen [22].
Ein weiterer nicht dem KVG unterstellter Bereich ist jener der Taggeldversicherungen. Da das Fehlen eines diesbezüglichen Obligatoriums für Arbeitnehmende ohne betriebliche Taggeldversicherung resp. für Arbeitslose im Krankheitsfall zu existenzbedrohenden Engpässen führen kann, hatten die beiden Gewerkschaften CNG und SGB 1998 eine entsprechende Volksinitiative lanciert, die aber wegen des lauen Engagements des SGB, der gleichzeitig mit der Vorbereitung von vier weiteren Volksbegehren ausgelastet war, nicht zustande gekommen war. Der CNG hatte daraufhin die von ihm gesammelten knapp 17 000 Unterschriften in Form einer Petition eingereicht [23]. Diese wurde im Berichtsjahr von beiden Kammern dem Bundesrat zur Kenntnisnahme überwiesen. Der Nationalrat behandelte gleichzeitig eine Motion von CNG-Präsident Fasel (csp, FR), die ebenfalls die Einführung einer obligatorischen Taggeldversicherung verlangte, sowie eine Interpellation Robbiani (cvp, TI), welche die sozialpolitische Problematik des Verzichts auf ein Obligatorium thematisierte. Bundesrätin Dreifuss anerkannte, dass die Situation im Bereich der Taggeldversicherung nicht zu genügen vermag. Da in der laufenden Legislaturperiode aber die Konsolidierung und nicht ein Ausbau der Sozialversicherungen im Vordergrund stehe, werde der Bundesrat keine diesbezüglichen Vorschläge unterbreiten. Auf ihren Antrag wurde die Motion nur als Postulat überwiesen [24].
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Zweite Teilrevision des KVG
Der Ständerat, der diese Vorlage als Erstrat beriet, beschloss neben Massnahmen im Bereich der Spitalfinanzierung resp. der ambulanten Leistungserbringer (siehe oben, Teil I, 7b, Spitäler und Medizinalpersonen) die Einführung eines „Sozialziels“ im Krankenversicherungsbereich; demnach soll die Prämienbelastung der Haushalte 8% des Einkommens nicht mehr überschreiten dürfen. Diese Limite war bereits im bundesrätlichen Entwurf zum KVG enthalten gewesen, damals aber vom Parlament abgelehnt worden. Als Ausgang für die Berechnungen bezeichnete die kleine Kammer das Reineinkommen gemäss Bundessteuer, erhöht um einen Zuschlag von 10% des steuerbaren Vermögens. Die Kantone sollen auf die Einhaltung dieses Ziels verpflichtet werden; um finanzschwache Kantone zu entlasten, soll der Bund ab 2004 jährlich 300 Mio Fr. zusätzlich für die Prämienverbilligungen bereitstellen. Die kleine Kammer sah in der Definition eines Sozialziels einen indirekten Gegenvorschlag zur SP-Volksinitiative „Gesundheit muss bezahlbar bleiben“, die einkommens- und vermögensabhängige Prämien verlangt. Zudem wurde der Bundesrat beauftragt, innerhalb von fünf Jahren Verbesserungen beim Risikoausgleich unter den Kassen vorzuschlagen [25].
Obgleich der Bundesrat Abschreiben des Vorstosses beantragt hatte, wurde eine Motion Zisyadis (pda, VD), welche die Kantone, in denen die Prämien über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt liegen, zwingen wollte, die Bundessubventionen zur Prämienverbilligung tatsächlich abzuholen (und entsprechend mit eigenen Mitteln aufzustocken) zumindest als Postulat angenommen [26].
 
[16] Lit. Sechs Jahre KVG; Presse vom 18.12.01. Die vorgeschlagenen Massnahmen skizzierte Dreifuss bereits Anfang Oktober, als bekannt wurde, dass die Krankenkassenprämien 2002 mit rund +10% den grössten Kostenschub seit Inkrafttreten des KVG erleben werden (Presse vom 6.10.01). Gegenüber dem Vorjahr nahmen die Gesundheitskosten um 4,1% zu; besonders markant war der Zuwachs im Medikamentenbereich: Presse vom 17.5.2002.16
[17] Presse vom 25.1. (FDP), 8.9. und 10.10. (SP), 20.11. (CVP) und 5.12.01 (SVP). Im Parlament wurden die Parteistandpunkte anlässlich der Behandlung einer dringlichen Interpellation der SVP-Fraktion dargelegt (AB NR, 2001, S. 821 ff.). Zur Aufhebung des Kontrahierungszwangs siehe oben, Teil I, 7b (Medizinalpersonen).17
[18] AB NR, 2001, S. 1103 f.18
[19] AB NR, 2001, S. 663 (Robbiani) und 1098 ff. (pa.Iv.).19
[20] AB SR, 2001, S. 117 und 675.20
[21] AB NR, 2001, S. 351. Siehe auch die Ausführungen des BR zu einer Interpellation Dormond bzgl. der Verwaltungskosten der Krankenkassen (a.a.O., S. 360).21
[22] AB NR, 2001, S. 294 ff.22
[23] SPJ 1998, S. 266 und 1999, S. 276.23
[24] AB NR, 2001, S. 483 ff.; AB SR, 2001, S. 707.24
[25] AB SR, 2001, S. 628 ff., 650 ff. und 804 ff.; Presse vom 29.11.01 (ablehnende Stellungnahme der Kantone). Vgl. Guye, Christophe, „Die 2. KVG-Teilrevision nach der Behandlung im Ständerat“, in CHSS, 2002, S. 36 ff. Zum Risikoausgleich siehe die Antwort des BR auf eine Interpellation der SVP-Fraktion in AB NR, 2001, III, Beilagen, S. 135 f.25
[26] AB NR, 2001, S. 487 f. Im Berichtsjahr erklärte sich Aargau als letzter noch säumiger Kanton bereit, die Prämien so zu verbilligen, wie es das KVG vorschreibt (TA, 27.1. und 3.2.01). Zur Praxis der Prämienverbilligungen siehe: Balthasar, Andreas, „Evaluation des Vollzugs der Prämienverbilligung in den Kantonen“, in CHSS, 2001, S. 214 ff.26