Année politique Suisse 2001 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Mutterschaftsversicherung
Getreu seinem Versprechen nach der negativ verlaufenen Volksabstimmung von 1999 legte der Bundesrat im Sommer seine Vorschläge für einen rein obligationenrechtlich geregelten bezahlten Mutterschaftsurlaub für alle Arbeitnehmerinnen vor. Der Urlaub sollte allein von den Arbeitgebern finanziert werden und entweder je nach Dienstalter 8 bis 14 Wochen oder generell 12 Wochen dauern. Ein Lastenausgleich für Unternehmen und Branchen mit einem hohen Anteil an jungen Frauen unter den Angestellten war nicht vorgesehen [27].
Nur wenige Tage später präsentierten Abgeordnete der vier Bundesratsparteien (Triponez, fdp, BE – Fehr, sp, ZH – Meyer-Kälin, cvp, FR – Haller, svp, BE) ein eigenes Modell für eine über die EO finanzierte Mutterschaftsversicherung, die den erwerbstätigen Müttern während 14 Wochen 80% des Lohnes garantieren soll; im Gegenzug würde die Grundentschädigung für alle Dienstleistende in der Armee (mit Ausnahme der Rekruten) ebenfalls auf 80% des vor dem Erwerbsausfall erzielten Lohnes festgesetzt. Angesichts der beträchtlichen Reserven der EO (siehe oben, Kostenentwicklung) kann bei dieser Lösung bis auf weiteres auf eine Erhöhung der Lohnabzüge zugunsten der EO verzichtet werden; eine spätere moderate Erhöhung des Beitragssatzes um ein Lohnpromill wurde nicht ausgeschlossen. Der Vorschlag wurde von Gewerbeverbandsdirektor Triponez – zwei Jahre zuvor einer der prononciertesten Gegner einer Versicherungslösung – versehen mit 108 Unterschriften in Form einer parlamentarischen Initiative im Nationalrat eingereicht [28].
Die FDP, für welche schon die Abstimmung von 1999 fast zu einer Zerreissprobe geführt hatte, bekundete vorerst Mühe, sich diesem Vorschlag anzuschliessen. Obgleich zahlreiche ihrer Abgeordneten die parlamentarische Initiative unterzeichnet hatten, lehnte die Parteileitung sie ab und beschloss, ganz auf der Linie der Arbeitgeber zu fahren, die eine blosse Koordination mit dem im OR verankerten Arbeitsverbot von acht Wochen nach der Geburt als einzig akzeptable Lösung bezeichneten. Damit hatte die Geschäftsleitung aber an der Basis vorbeipolitisiert: nachdem bereits die FDP-Frauen ausgeschert waren, votierte die Delegiertenversammlung mit 176 zu 27 Stimmen für das Modell Triponez; kurz darauf schwenkte auch der Gewerbeverband, 1998/99 Co-Autor des Referendums gegen die Mutterschaftsversicherung, auf die Linie seines Direktors ein [29]. Angesichts dieser deutlichen Signale, die erahnen liessen, dass diese Lösung im Nationalrat mehrheitsfähig sein dürfte, zog der Bundesrat sein Modell noch vor der Beratung der Initiative Triponez im Nationalrat zurück; seine Vorschläge waren in der Vernehmlassung ohnehin auf heftigen Widerstand gestossen [30]. In der Wintersession gab die grosse Kammer praktisch diskussionslos mit 124 zu 36 Stimmen der Initiative Folge; einzig die SVP stimmte mehrheitlich dagegen [31].
Auf den 1. Juli führte Genf als erster Kanton eine Mutterschaftsversicherung ein. Sie richtet allen im Kanton tätigen Arbeitnehmerinnen und selbständig Erwerbenden während 16 Wochen 80% des versicherten Lohnes aus [32].
 
[27] Presse vom 10.3. und 16.6.01. Siehe SPJ 2000, S. 232.27
[28] Presse vom 20.6.01.28
[29] Presse vom 7.7., 25.7., 20.8. und 23.8.01. Siehe SPJ 1999, S. 278 f. Einzig die SVP blieb bei ihrer Fundamentalopposition, die sie in einem Grundsatzpapier zur Familienpolitik darlegte (Presse vom 11.7.01).29
[30] Presse vom 10.9. und 22.11.01.3
[31] AB NR, 2001, S. 1614 ff. Gleichzeitig wurden eine Motion des StR für einen lediglich achtwöchigen Mutterschaftsurlaub sowie zwei Standesinitiativen der Kantone Genf und Jura abgelehnt (a.a.O., S. 1611 ff.). Siehe SPJ 2000, S. 232.31
[32] Presse vom 27.1. und 3.7.01; Duc, Jean-Louis, „L’assurance-maternité genevoise“, in Aspects de la sécurité sociale, 2001, Nr. 3, S. 25-28. Siehe SPJ 2000, S. 233.32