Année politique Suisse 2002 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires / Gerichte
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Justizreform
Nach der Rückweisung der bundesrätlichen Vorlage zur Schaffung eines Bundesstrafgerichts und eines Bundesverwaltungsgerichts durch den Ständerat im Vorjahr hatte dessen Rechtskommission einen Vorschlag für eine parlamentarische Gerichtskommission zur Wahlvorbereitung ausgearbeitet. Das Projekt sah vor, dass diese Kommission bei ihrer Arbeit von einem ständigen Sekretariat und einem Expertenbeirat unterstützt wird. Letzterer wirkt bei der Wahlvorbereitung für das Bundesstraf- und das Bundesverwaltungsgericht mit und kann – muss aber nicht – bei den Bundesgerichtswahlen beigezogen werden. Um den anlässlich der Rückweisung im Jahr 2001 geäusserten Ängsten vor einem zu grossen Einfluss dieser Experten Rechnung zu tragen, werden deren Empfehlungen und Evaluationen nicht veröffentlicht. Die parlamentarische Gerichtskommission selbst setzt sich aus zwölf Mitgliedern des Nationalrats und fünf des Ständerats zusammen, wobei jede Fraktion Anspruch auf mindestens einen Sitz hat. Die Oberaufsicht über die Gerichte sollen weiterhin die Geschäftsprüfungskommissionen und nicht diese neue Gerichtskommission haben. Diese Vorschläge kamen im Ständerat in der Frühjahrssession gut an. Umstritten war nur noch die Frage der parlamentarischen Oberaufsicht über die Gerichte. Mit der Auflage, dass sie ihre Arbeit neu organisieren müssen, wurde diese bei den GPK belassen. Der Nationalrat begann im Herbst mit den Beratungen. In der Frage der Vorbereitung der Richterwahlen war er weitgehend mit dem Ständeratsmodell einverstanden. Er lehnte es allerdings ab, bereits jetzt über die Schaffung einer konsultativen Expertenkommission (Beirat) zu entscheiden, da zuerst die Frage der Organisation der Oberaufsicht über die Bundesgerichte geklärt werden müsse. Nachdem der Nationalrat in der zweiten Runde einen Kompromissvorschlag der kleinen Kammer abgelehnt hatte, einen solchen Beirat wenigsten mit einer Kann-Formel zu ermöglichen, gab der Ständerat nach. Das Gesetz über das Bundesstrafgericht wurde in der Herbstsession verabschiedet; die neuen Bestimmungen über die Richterwahl in der Wintersession [24].
Zu einem grossen Schlagabtausch regionaler Interessen kam es im Ständerat bei der Frage des Standorts der beiden neuen Gerichte. Die Kommissionsmehrheit unterstützte den Vorschlag des Bundesrates (Aarau und Freiburg); eine aus Marty (fdp, TI), Dettling (fdp, SZ), Schweiger (fdp, ZG) und Slongo (cvp, NW) gebildete Minderheit[25] war für Bellinzona und St. Gallen. Die Befürworter dieser Standorte versuchten einerseits darzulegen, dass bezüglich der vom Bundesrat angeführten sachlichen Kriterien für die Standortwahl (vor allem Distanz zu den Bevölkerungszentren und Personalrekrutierung) auch Bellinzona und St. Gallen geeignet seien. Viel stärker berücksichtigt werden müsse aber das staatspolitische Element einer Dezentralisierung der eidgenössischen Institutionen, und dieses spreche eindeutig für Gerichtssitze in der italienischsprachigen Schweiz und der Ostschweiz. Mit jeweils 26:15 Stimmen beschloss der Ständerat, das Bundesstrafgericht in Bellinzona und das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen anzusiedeln. Im Nationalrat empfahl die Kommission ebenfalls, allerdings mit nur knapper Mehrheit, die Standorte Aarau und Freiburg. Nachdem sich nahezu alle Abgeordnete aus den betroffenen vier Kantonen für ihre Region eingesetzt hatten, beschloss der Rat mit 123:61 Stimmen, Bellinzona den Vorzug vor Aarau zu geben. Knapper war der Entscheid beim wesentlich personalreicheren Bundesverwaltungsgericht. Nachdem Freiburg und St. Gallen je 92 Stimmen auf sich vereinigt hatten, gab die Ratspräsidentin Maury-Pasquier (sp, GE) den Ausschlag für Freiburg. Da aber der Ständerat auf seinem Entscheid für St. Gallen beharrte, gab die grosse Kammer mit 95:84 Stimmen nach [26].
 
[24] AB SR, 2002, S. 196 ff., 328 ff., 739 f. und 939; AB NR, 2002, S. 1207 ff., 1216 ff., 1484, 1705, 2014 f. und 2174; BBl, 2002, S. 6493 ff. (Bundesstrafgericht) und 8220 ff. Vgl. SPJ 2001, S. 32. Vgl. auch den Bericht der GPK-SR über die parlamentarische Oberaufsicht über die eidgenössischen Gerichte in BBl, 2002, S. 7625 ff. sowie Lit. Parlamentsdienste.
[25] Zu dieser Minderheit gehörten bezüglich Bellinzona auch noch Stadler (cvp, UR) und bezüglich St. Gallen Bürgi (svp, TG).
[26] AB SR, 2002, S. 209 ff., 483 ff. und 552; AB NR, 2002, S. 888 ff., 1089 ff. und 1138; BBl, 2002, S. 4456 f.; Presse vom 14.6.02. Vgl. SPJ 2001, S. 31 ff. Vgl. auch AB NR, 2002, V, Beilagen, S. 60 ff. und 76 f. (zur Bauplanung in St. Gallen und Bellinzona) sowie NZZ, 6.6.02. Der SR verabschiedete anschliessend eine Empfehlung Lombardi (cvp, TI), welche den BR auffordert, die Bundesverwaltung zu dezentralisieren und dabei vor allem Freiburg und Aarau zu berücksichtigen (AB SR, 2002, S. 677 ff.).