Année politique Suisse 2002 : Politique sociale / Population et travail
 
Kollektive Arbeitsbeziehungen
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Gesamtarbeitsverträge
In einer Studie stellte der SGB fest, dass Gesamtarbeitsverträge (GAV) ein gutes Instrument zur Durchsetzung von Gleichstellungsforderungen sind, umso mehr, wenn der Frauenanteil in den Verhandlungsdelegationen möglichst hoch ist. Gleichzeitig wurde ein Handlungsbedarf in allen Branchen und in verschiedenen Bereichen geortet. So sei der Geltungsbereich der meisten GAV auf Vollzeitangestellte beschränkt, was zu einer indirekten Diskriminierung der mehrheitlich weiblichen Teilzeitarbeitskräfte führe. Nur einzelne Unternehmen kennen laut Studie ein Recht auf Teilzeitarbeit, und die familienergänzende Kinderbetreuung sei in den Firmen kaum ein Thema. Die Gewerkschaften stellten fest, dass bei den Löhnen die Erfahrung gezeigt habe, dass das Gleichstellungsgesetz nicht ausreiche, um Diskriminierungen in der Privatwirtschaft zu verhindern. Hier müsse in Zukunft vermehrt zum Mittel der Verbandsbeschwerde gegriffen werden [18].
Nach langen Verhandlungen, rhetorischen Giftpfeilen auf beiden Seiten, Streiks und Demonstrationen einigten sich die Sozialpartner der Bauwirtschaft Mitte November auf einen neuen Gesamtarbeitsvertrag, welcher das Rentenalter der Bauarbeiter schrittweise auf 60 Jahre senkt. Der neue GAV tritt auf den 1. Juli 2003 in Kraft, allerdings nur unter der von den Baumeistern eingebrachten Bedingung, dass ihn der Bundesrat bis zu diesem Datum für die ganze Branche allgemeinverbindlich erklärt. In einem letzten Verhandlungsmarathon setzten die Gewerkschaften GBI und Syna die Rentenhöhe von 70% des letzten Bruttolohns (plus 6000 Fr. Sockelbeitrag) durch. Im Gegenzug erreichten die Baumeister, dass die Arbeitgeberbeiträge (4% der Lohnsumme) bis 2011 nicht erhöht werden. Es wurde vereinbart, dass externe Experten 2005 überprüfen, ob die vorgesehenen Beiträge zur längerfristigen Finanzierung der Renten ausreichen. Falls dies nicht der Fall sein sollte, müssten die Renten gesenkt oder die Arbeitnehmerbeiträge erhöht werden. Kaum bestritten war der neue Landesmantelvertrag, der am 1. April 2003 in Kraft tritt. Er sieht vor, dass 2003 ein Teuerungsausgleich von 1,2%, aber keine Reallohnerhöhung ausgerichtet wird; diese wird erst 2004 bei guter Konjunktur fällig [19].
Die Gewerkschaft SMUV präsentierte ihre Forderungen für die Verhandlungen zur Gesamterneuerung des GAV der Maschinenindustrie. Da die Erfahrungen der letzten 10 Jahre gezeigt hätten, dass die Entlöhnung nicht mit der Produktivitätssteigerung und den Gewinnen Schritt halte, verlangte der SMUV eine Anhebung der Löhne um 2% plus den Teuerungsausgleich. Generell soll es in der Maschinenindustrie keine Löhne unter 3500 Fr. brutto pro Monat mehr geben. Zudem sollen konkrete Massnahmen zur Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen getroffen werden. Die Gewerkschaft will zudem eine Verkürzung der jährlichen Normalarbeitszeit um 40 Stunden auf 2040 Stunden sowie zwei zusätzliche Ferientage. Schliesslich verlangte der SMUV ein direktes Interventionsrecht der Gewerkschaften bei Entlassungen und Umstrukturierungen sowie die Einführung einer gesetzlichen Sozialplanpflicht bei Massenentlassungen [20].
Ende 2003 läuft der erste GAV zwischen der Swisscom und den Gewerkschaften aus. Vorzeitig gegenüber dem normalen Verhandlungsrhythmus bat die Swisscom bereits im September die Personalverbände um neue Gespräche. Diese endeten nach zwei Runden mit einem Eklat: Die Gewerkschaftsvertreter verliessen den Verhandlungstisch unter Protest und verweigerten jede weitere Diskussion. Sie zeigten sich empört ob der Absicht der Swisscom, mit den Gewerkschaften nur noch einen Rahmen-GAV abzuschliessen, die konkreten Arbeitsbedingungen aber in Betriebsvereinbarungen zu regeln, wodurch die Gewerkschaften von den Verhandlungen ausgeschlossen würden, da diese zwischen dem Arbeitgeber und den Betriebskommissionen geführt werden. Gemäss den Gewerkschaften will sich die Swisscom mit diesem Ansinnen von der bisherigen Sozialpartnerschaft verabschieden, die Löhne individualisieren und durch den Abbau von Regeln den Arbeitsdruck auf die Beschäftigten erhöhen. Das Vorgehen sei eine gravierende Verletzung des Telekommunikationsunternehmungsgesetzes (TUG); dieses wurde bei der Umwandlung des öffentlichen Betriebes Swisscom in eine privatrechtliche Aktiengesellschaft erlassen und schreibt vor, dass das Unternehmen einen GAV abschliesst. Die Swisscom erklärte ihrerseits, sie sei an einer guten Sozialpartnerschaft nach wie vor interessiert, wolle aber ein innovatives Modell einführen, das die neue Gruppenstruktur besser abbildet und den Gruppengesellschaften grössere Flexibilität in der Ausgestaltung ihrer Arbeitsverhältnisse einräumt [21].
Mit einer parlamentarischen Initiative verlangte Dupraz (fdp, GE), im OR einen für die ganze Schweiz geltenden Normalarbeitsvertrag für alle in der Landwirtschaft Beschäftigten festzuschreiben. Als Grundlage regte er die für die Landarbeiter grosszügige Regelung im Kanton Genf an. Er machte geltend, die unterschiedlichen kantonalen Regelungen würden zu Wettbewerbsverzerrungen führen und verzögerten den Strukturwandel auf Kosten der sozial Schwächsten. Mit dem Argument, die Produktionsbedingungen in den einzelnen Branchen und Regionen seien für einen Normalarbeitsvertrag zu unterschiedlich, wehrten sich die Bauernvertreter im Rat erfolgreich gegen den Vorstoss, der mit 75 zu 57 Stimmen abgelehnt wurde [22].
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Arbeitskonflikte
Im Berichtsjahr betrafen Demonstrationen und Streiks vor allem die Baubranche, in der wegen der zähen Verhandlungen über einen neuen Gesamtarbeitsvertrag (siehe oben) eine aufgeheizte Stimmung herrschte. Mitte März demonstrierten in Bern über 10 000 Bauarbeiter für das Pensionsalter 60 und für höhere Löhne. Ab Oktober fanden Warnstreiks statt. Am 4. November erlebte die Schweiz den grössten Streik seit 55 Jahren. 15 000 Bauarbeiter legten Hunderte von Baustellen im ganzen Land lahm, bildeten Protestmärsche und blockierten Verkehrswege [23].
 
[18] Presse vom 8.3.02. Siehe auch unten, Teil I, 7d, Frauen/Arbeitswelt.
[19] Soz, 27.1., 17.2. und 10.11.02; TA, 22.2., 18.3. und 12.12.02; Presse vom 27.3., 1.-4.11. und 13.11.02; TG, 15.4.02; SHZ, 6.11.02; WoZ, 7.11.02. Siehe auch unten, Arbeitskonflikte.
[20] Bund, 8.1.02; TG, 26.4.02; Presse vom 20.9.02; LT, 22.11.02. Im Auftrag der RK des NR, welche eine 1998 angenommene pa.Iv. Gross (sp, TG) umsetzen sollte, erarbeitete das BJ einen Gesetzesvorschlag, der die Unternehmen verpflichtet, bei Massenentlassungen mit den Gewerkschaften abschliessende Verhandlungen über einen Sozialplan zu führen (Bund, 14.6.02; NZZ, 20.8.02; TG, 18.10.02).
[21] Presse vom 11.10.02.
[22] AB NR, 2002, S. 749 ff.
[23] Presse vom 18.3. und 1.-4.11.02; SGT, 3.10., 7.10. und 31.10.02; Bund, 11.10.02; WoZ, 24.10.02. Von den GAV-Verhandlungen unabhängige Warnstreiks fanden beim Bau des Messeturms Basel (NZZ, 26.1.02) und beim Lötschberg-Basistunnel statt (Presse vom 18. und 19.4.02). Zu Protestdemonstrationen der Ärzteschaft siehe unten, Teil I, 7b (Medizinalpersonen).