Année politique Suisse 2002 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport / Gesundheitspolitik
Im November des Vorjahres hatte das Eidg. Versicherungsgericht entschieden, dass die Kantone aufgrund des seit 1996 in Kraft stehenden KVG ab 2001 in den öffentlichen und öffentlich-subventionierten Spitälern auch bei einer privaten oder halbprivaten Hospitalisierung den hälftigen Sockelbeitrag an die Betriebskosten bezahlen müssen, was eine finanzielle Mehrbelastung von rund 700 Mio Fr. pro Jahr bedeutet hätte, welche die Kantone ohne Steuererhöhungen als nicht verkraftbar erachteten. Sie wandten sich deshalb mit der Bitte ans Bundesparlament, den Kostenschub erträglicher zu machen. Die SGK des Ständerates bemühte sich daraufhin gemeinsam mit den Kantonen und Santésuisse (ehemals KSK) um eine Lösung, die sowohl der an sich klaren Rechtslage, welche die Kantone in den letzten sechs Jahren nicht hatten wahrhaben wollen, als auch deren finanziellen Möglichkeiten Rechnung trägt. Zur Diskussion standen eine vorgezogene Änderung der Spitalfinanzierungsbestimmungen im KVG, wie sie die zweite Teilrevision ohnehin vorsieht, oder eine Übergangslösung mit einem dringlichen Bundesgesetz.
Auf Antrag der SGK, welche ihre Vorschläge in die Form einer ausformulierten parlamentarischen Initiative gekleidet hatte, stimmte der Ständerat einem dringlichen Bundesbeschluss zu, welcher die
Kantonsbeteiligung schrittweise einführt, dabei aber auf die Abgeltung der effektiven Kosten verzichtet und stattdessen von den Tarifen der allgemeinen Spitalabteilungen ausgeht, womit die Mehrbelastung der Kantone um 200 Mio Fr. pro Jahr reduziert wird. 2002 werden 60% des geschuldeten Betrages von den Kantonen übernommen, 2003 80% und 2004 100%, was zu jährlichen Mehrkosten für die Kantone von 300, 400 und schliesslich 500 Mio Fr. führt. Im Nationalrat versuchte eine knappe Kommissionsmehrheit unter den Abgeordneten Gutzwiller (fdp, ZH), Verwaltungsrat der grössten Privatspital-Betreiberin der Schweiz (Hirslanden), und Zäch (cvp, AG), Direktionspräsident des privaten Paraplegikerzentrums Nottwil (LU), zu erreichen, dass die Kantone ihre Beiträge auch an die privaten Spitäler, die auf der kantonalen Spitalliste stehen, entrichten müssen. Mit 101 zu 64 Stimmen schloss sich im Plenum aber eine Mehrheit der CVP und der FDP dem Antrag der SP an, die Frage der Privatspitäler erst im Rahmen der 2. KVG-Revision anzugehen. Auf Wunsch der Bundeskanzlei, die geltend machte, dass es noch nie ein sowohl
dringliches als auch (für das Jahr 2002)
rückwirkendes Bundesgesetz gegeben habe, beantragte die Kommission, auf die Dringlichkeit zu verzichten. Das Plenum liess sich aber von einem positiven Gutachten des Bundesamtes für Justiz sowie vom Argument überzeugen, die Angelegenheit sei in erster Linie durch die uneinsichtige Haltung der Kantone verschleppt worden, weshalb jetzt unbedingter Handlungsbedarf bestehe. Mit 128 zu 1 Stimmen wurde die Dringlichkeit bejaht und später mit 157 zu 7 Stimmen bestätigt. In der Schlussabstimmung wurde die Vorlage von beiden Kammern einstimmig verabschiedet
[11]. Mit dem Argument, der EVG-Entscheid sei bereits für 2002 vollumfänglich anzuwenden, reichte die Krankenkasse Assura das Referendum gegen den dringlichen Bundesbeschluss ein
[12].
Der Ständerat hatte seine Mittlerrolle zwischen Kassen und Kantonen von der Bedingung abhängig gemacht, dass sich diese vorgängig seiner Beschlüsse über die noch offenen Kosten für das Jahr 2001 einigten. Mitte März kamen die Sanitätsdirektorenkonferenz und Santésuisse in Verhandlungen überein, dass die Kantone den Krankenversicherern für 2001
Nachzahlungen von 250 Mio Fr. leisten. Es stellte sich allerdings die Frage, wem diese Summe zugute kommen sollte. In seiner Antwort auf eine Interpellation Joder (svp, BE) im Nationalrat vertrat der Bundesrat die Ansicht, diese Gelder seien vollumfänglich den Zusatzversicherten, welche bisher ihren Aufenthalt in den halbprivaten und privaten Abteilungen allein via Prämien bezahlten, zurückzuerstatten. Mit der Kontrolle der korrekten Umsetzung wurde das Bundesamt für Privatversicherungen beauftragt
[13].
Bei der Beratung der
2. KVG-Revision war im Nationalrat der Übergang zur leistungsbezogenen,
generell hälftigen Spitalfinanzierung durch die Kantone und die Versicherer unbestritten. Analog zum Ständerat im Vorjahr wurde der Wechsel von der dual-fixen zur monistischen Finanzierung, bei der die Versicherungen die alleinige Zahlstelle sind und dadurch mehr Transparenz erlangen, während die Kantone ihre Beiträge an die Versicherer leisten, im Grundsatz zwar gutgeheissen, aber auf die 3. KVG-Revision verschoben. Abweichend vom dringlichen Bundesbeschluss (siehe oben) beantragte die vorberatende Kommission, dass neu auch
Privatspitäler Kantonsbeiträge erhalten sollen, falls sie auf der Spitalliste der Kantone aufgeführt sind und von diesen einen Leistungsauftrag erhalten haben. Die bürgerlichen Befürworter erklärten, damit würden gleich lange Spiesse geschaffen und der Wettbewerb gefördert. Die Gegner kritisierten, die Spiesse seien gar nicht gleich lang, da die Privatkliniken nicht an die selben Auflagen (etwa punkto Betrieb einer Notfallstation oder qualitativer und quantitativer Standards beim Personal) gebunden seien wie die öffentlichen Spitäler. Ein diesbezüglicher Antrag der SP wurde ebenso abgelehnt wie ein weiterer Antrag, für den ambulanten Bereich der Spitäler Globalbudgets einzuführen. Da die Gesetzesrevision vom Nationalrat in der Gesamtabstimmung verworfen wurde, sind diese Beschlüsse – zumindest vorderhand - hinfällig
[14].
Gegen den Willen des Bundesrates, der Umwandlung in ein Postulat beantragt hatte, um die Angelegenheit erst einmal zu evaluieren, überwies der Ständerat einstimmig eine Motion Frick (cvp, SZ), die den Bundesrat beauftragt, eine Änderung des KVG vorzubereiten, welche die Kantone verpflichtet, bis Ende 2007 eine gemeinsame Definition und
Planung der Spitzenmedizin zu beschliessen und bis 2012 umzusetzen. Falls die Kantone dieser Aufgabe nicht zeitgerecht nachkommen, soll der Bund die nötigen Massnahmen an ihrer Stelle treffen
[15]. Die kleine Kammer stimmte ebenfalls zwei Postulaten ihrer GPK zu, die den Bundesrat beauftragen, die Einführung einer Leistungsplanung im Spitalbereich sowie die Frage zu prüfen, wie Anreize für eine stärkere
interkantonale Spitalplanung geschaffen werden können und darüber Bericht zu erstatten
[16].
Ausgehend von einem Bericht über das Malaise im Pflegebereich, das sich unter anderem in einem ausgetrockneten Arbeitsmarkt ausdrückt, verlangte die
CVP einerseits eine bessere soziale und finanzielle Anerkennung der Pflegeberufe, andererseits eine Neuregelung der
Finanzierung der Pflegeheime. Im Hintergrund stand eine im Juli erlassene Verordnungsänderung, wonach die Pflegeheime die effektiven Pflegekosten transparenter ausweisen müssen. Bis anhin wurden zum Teil auch eigentliche Pflegeleistungen dem Bereich Hotellerie zugeordnet und den Pflegebedürftigen direkt verrechnet. Mit der konsequenten Ausscheidung der tatsächlichen Pflegekosten rechnen die Versicherer, auf mehrere Jahre verteilt, mit Mehrkosten von rund 1,2 Mia Franken, was zu einem Prämienschub von gegen 10% führen könnte. Ständerat und CVP-Präsident Stähelin (TG) verlangte deshalb den umgehenden Übergang von der dualistischen zur monistischen Spital- und Heimfinanzierung, wonach die Versicherer sämtliche tarifvertraglichen Leistungen für die Krankenpflege berappen müssten. Die freiwerdenden Mittel, mit denen die Kantone heute Spital- und Heimleistungen subventionieren, sollten in gleicher Höhe an die Krankenkassen überwiesen werden mit dem gezielten Auftrag, die Kinderprämien massiv zu verbilligen resp. ganz aufzuheben und die Langzeitpflege im Alter zu finanzieren. Falls die Mittel nicht genügend sollten, sah Stähelin nur noch einen Ausweg: die Einführung einer
Zusatzprämie ab dem 50. Altersjahr. Diese sollte für alle Schichten tragbar sein und dürfte 10 Fr. pro Monat nicht übersteigen
[17]. Diese Idee nahm Santésuisse auf. Sie regte an, Leute ab 50 sollten verpflichtet werden, zusätzlich zur obligatorischen Krankenversicherung eine
Pflegeversicherung abzuschliessen, um die künftige Lastenverteilung zwischen den Generationen wieder etwas zu entspannen. Der Anteil der Ausgaben für eigentliche Pflegeleistungen (Spitex und Pflegeheime) sei vor allem für die Altersgruppe 75+ bedeutsam. Mit einer monatlichen Durchschnittsprämie von knapp 50 Franken ab Alter 50 könnten die Seniorinnen und Senioren die anfallenden Kosten weitgehend selber finanzieren. Anlässlich der jährlichen Pressekonferenz zur Prämienentwicklung zeigte sich Bundesrätin Dreifuss sehr besorgt ob dem Vorschlag von Santésuisse, der ihrer Ansicht nach darauf abzielt, die mühsam aufgebaute Solidarität zu untergraben und das Land zwischen Jungen und Älteren aufzuspalten
[18].
[11]
BBl, 2002, S. 4365 ff. und 5847 ff. (BR);
AB SR, 2001, S. 253 ff., 377 und 554;
AB NR, 2002, S. 763 ff., 858 und 1140;
AS, 2002, S. 1643 f. Siehe
SPJ 2001, S. 178.
[12]
BBl, 2002, S. 7126 und 7330; Presse vom 10.9. und 18.10.02.
[13]
AB NR, 2002, S. 1135. Presse vom 19.3., 27.4. und 3.7.02;
Bund, 18.12.02;
NZZ, 22.1.03.
[14]
AB NR, 2002, S. 2003 ff., 2055 ff., 2072 ff., 2105 ff., 2123 ff. und 2144 ff. Siehe
SPJ 2001, S. 178 f. Zur 2. KVG-Revision siehe auch unten (Medizinalpersonen und Medikamente) sowie Teil I, 7c (Krankenversicherung).
[15]
AB SR, 2001, S. 688 f. Siehe dazu auch eine von NR als Postulat überwiesene Motion Zäch (
AB NR, 2002, S. 1508).
[16]
AB SR, 2001, S. 478 ff.
[17] Presse vom 4.7. und 31.7.02. Zu einem Pilotprojekt im Kanton Solothurn, das mittelfristig auf die ganze Schweiz ausgedehnt werden soll, welches durch Prävention und Gesundheitsförderung im Alter die Kosten im Pflegebereich im Griff halten möchte, siehe
NZZ und
SZ, 28.5.02.
[18] Presse vom 3.10. und 5.10.02. Eine Studie der ETH zeigte, dass die Überalterung der Bevölkerung die Prämien bis ins Jahr 2035 um jährlich 0,5% verteuern wird (Presse vom 3.10.02). Die Stiftung für Konsumentenschutz reichte wegen „aggressiver Verkaufsmethoden“ Klage gegen die Helsana ein: die Versicherten dieser Krankenkasse, die eine Spitalzusatzversicherung abgeschlossen haben, müssen sich ausdrücklich wehren, wenn sie ab dem 65. Geburtstag nicht automatisch eine separate Pflegeversicherung erhalten wollen (
BZ, 30.11.02;
NZZ, 2.12.02).
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