Année politique Suisse 2002 : Politique sociale / Assurances sociales
Allgemeine Fragen
Als
Ruth Dreifuss am 4. Dezember von der vereinigten Bundesversammlung offiziell aus ihrem Amt
als Bundesrätin verabschiedet wurde, attestierten ihr die meisten Medien, sie könne im Grossen und Ganzen befriedigt auf ihr fast zehnjähriges Wirken als Sozialministerin zurückblicken. Mit ihrer beharrlichen Art des Politisierens sei es ihr gelungen, das Leistungsniveau des Sozialstaates im Wesentlichen zu erhalten. Angesichts der Fundamentalkritik, welcher das System des sozialen Ausgleichs während ihrer Amtszeit ausgesetzt war, sei dies keine Selbstverständlichkeit, sondern eine beachtliche Leistung
[1].
Das Parlament genehmigte einstimmig den aktualisierten Anhang zum
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechtes (ATSG), mit welchem die einzelnen Sozialversicherungsgesetze dem neuen Regelwerk angepasst werden. Das ATSG fasst zahlreiche Bestimmungen, die bisher in den einzelnen Gesetzen enthalten waren, zusammen und führt so zu einer formalen Koordination und einer Harmonisierung der Begriffe. Das ursprüngliche Ziel einer Vereinheitlichung der verschiedenen Zweige der Sozialversicherung wurde allerdings nur hinsichtlich der Verfahren verwirklicht. Ausgenommen ist zudem die massgeblich vom Privatrecht beeinflusste berufliche Vorsorge. Mit einer Parlamentsverordnung wurden zusätzlich die Anpassungen an das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU vorgenommen, das auf den 1. Juni des Berichtsjahrs rechtsgültig wurde. Das ATSG tritt auf den 1.1.2003 in Kraft
[2].
Mit einem Postulat ersuchte Ständerätin Beerli (fdp, BE) den Bundesrat um eine
Nachführung der Ergebnisse von IDA-FiSo-1 bis 2025, die letztmals in der Botschaft zur 11. AHV-Revision bis 2015 aufdatiert worden waren. Als die kleine Kammer das Postulat in der Sommersession behandelte, lag der gewünschte Bericht bereits vor. Beerli war von dessen Inhalt allerdings nicht befriedigt. Sie unterstellte dem Bundesrat, Schönfärberei zu betreiben, da er die gleichen Annahmen treffe wie bereits im Jahr 2000. Angesichts der anstehenden Revisionsarbeiten im Bereich der sozialen Sicherheit, der Lage der öffentlichen Haushalte und der Schuldenbremse hätte der Bundesrat Prioritäten setzen müssen. Bundesrätin Dreifuss wehrte sich gegen diesen Vorwurf. In ihren Botschaften zur Revision der wichtigsten Sozialwerke habe die Landesregierung durchaus Prioritäten gesetzt; sie sei aber nicht bereit, grundlegende Änderungen an den Strukturen der Sozialversicherungen vorzunehmen. Die FDP-Fraktion des Nationalrates nahm diesen Bericht zum Anlass einer Interpellation. Sie erklärte sich von der Darstellung durch den Bundesrat ebenfalls als nicht befriedigt und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, in den laufenden Revisionen werde der Zweitrat jeweils Gegensteuer geben, um bedeutende Mehrwertsteuererhöhungen zu vermeiden
[3].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Rossini (sp, VS), mit dem der Bundesrat beauftragt wird, einmal pro Legislaturperiode einen „
Sozialbericht“ zu erstellen. Dieser soll die im Bereich der Sozialversicherungen anvisierten politischen Ziele darlegen, die Gesamtheit der Sozialindikatoren umfassen und damit dem Management, der Evaluation und der Planung der Sozialpolitik dienen
[4].
Im Vorjahr hatte der Nationalrat eine Motion seiner SGK verabschiedet, die vom Bundesrat verlangte, die Mittel zur Erhebung der für die künftige Führung und Ausrichtung der Sozialversicherungen unerlässlichen statistischen Daten bereit zu stellen. Der Ständerat schloss sich der Stossrichtung der Motion vollumfänglich an. Da es sich hier aber um einen Bereich handelt, der in die administrative Kompetenz des Bundesrates fällt, kleidete er den Vorstoss in die Form einer Empfehlung
[5].
Die Globalisierung, der gesellschaftliche Wandel und die demografische Entwicklung stellen den Sozialstaat vor grundlegende Herausforderungen. Diese Feststellung nahmen die sechs grossen Schweizer Hilfswerke und sozialen Organisationen (Caritas, HEKS, Pro Juventute, Pro Senectute und SAH) zum Anlass, die
Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Sozialpolitik mit Sitz in Bern zu gründen. Das neue Gremium will sich für eine zukunftsgerichtete Sozialpolitik einsetzen. Sie soll die sechs Trägerorganisationen in der sozialpolitischen Grundlagenarbeit unterstützen, gemeinsame Stellungnahmen zu sozialpolitischen Fragen und Vernehmlassungen erarbeiten, die Lobbyarbeit koordinieren sowie Sensibilisierungs- und Öffentlichkeitsarbeit leisten
[6].
Die neuesten verfügbaren Zahlen zur
Soziallast- und Sozialleistungsquote (26,0 resp. 20,1% des BIP) zeigten, dass die beiden Quoten 2000 erneut zurückgingen. Die Soziallastquote reduzierte sich um 0,3 und die Sozialleistungsquote um 0,5 Prozentpunkte. Der gleichzeitige Rückgang beider Quoten war vor 1998 erst dreimal vorgekommen (1970, 1981 und 1986), wobei sich das Phänomen im folgenden Jahr jeweils nicht wiederholte. Seit 1998 sanken die Quoten hingegen in drei aufeinanderfolgenden Jahren
[7].
Die Börsenkrise wirkte sich vor allem bei der beruflichen Vorsorge aus, verursachte aber auch den drei Sozialwerken AHV, IV und EO im Berichtsjahr einen
Anlageverlust in der Höhe von 1016 Mio Fr. Das
Vermögen sank um fast 11% auf noch 18,831 Mia Fr. Ohne diese buchhalterischen Verluste hätten AHV und EO die Jahresrechnung positiv abgeschlossen. Bei der AHV stand ein Aufwand von 29 095 Mio Fr. Einnahmen von 29 685 Mio Fr. gegenüber. Der Aufwand war demnach zu 102% durch die Einnahmen gedeckt. Da das Anlageergebnis für die Jahresrechnung aber berücksichtigt werden muss, schloss die AHV unter dem Strich mit einem Jahresverlust von 191 Mio Fr. Im Vorjahr hatte noch ein Plus von 538 Mio Fr. resultiert. Die EO erzielte bei einem Aufwand von 692 Mio Fr. Einnahmen von 787 Mio Fr. Ihr Defizit betrug anlagebedingt 30 Mio Fr. Auch ohne Kursverluste wäre die IV defizitär geblieben. Sie wendete 9964 Mio Fr. auf, nahm aber nur 8775 Mio Fr. ein. Die Deckung war demnach nur zu 88% gegeben. Es resultierte ein Verlust von 1189 Mio Fr., der um fast 180 Mio Fr. höher war als 2001. Der Vermögensbestand der AHV war wie immer seit 1979 zu tief. Das Kapital entsprach rund 79% einer Jahresausgabe anstatt der vom Gesetz geforderten Deckung von 100%. Das Vermögen war Ende 2002 zu rund 20% in Schweizer und ausländischen Aktien angelegt und zu 6,1% in Fremdwährungsobligationen
[8].
Mit einem überwiesenen Postulat ersuchte Nationalrätin Leutenegger Oberholzer (sp, BL) den Bundesrat, einen Bericht zur ökonomischen Effizienz des
BVG (Kapitaldeckungsverfahren)
im Vergleich zur AHV (Umlageverfahren) ausarbeiten zu lassen. Der Bericht soll insbesondere die langfristigen Folgen der Entwicklung der Finanzmärkte und die Auswirkungen auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse beleuchten
[9].
[1] Presse vom 1.10. und 5.12.02. Siehe auch
CHSS, 2002, S. 352-358 (Würdigung ihres Wirkens durch die Chefbeamten im BSV).
[2]
AB SR, 2001, S. 251 f. und 552;
AB NR, 2002, S. 789 ff. und 1138;
BBl, 2002, S. 4453 ff.;
CHSS, 2002, S. 261-282. Siehe auch
SPJ 2000, S. 215.
[3]
AB SR, 2001, S. 480 ff.;
AB NR, 2002, S. 1696. Mit 82:57 Stimmen überwies der NR ein Postulat Baumann (svp, TG), das ebenfalls eine Gesamtschau der Sozialwerke verlangte (
a.a.O., S. 616 f.). Siehe dazu auch eine noch nicht behandelte Motion und eine weitere Interpellation der FDP-Fraktion (Geschäfte 02.3167 und 02.3230;
BZ, 27.3.02). Zu den beiden IDA-FiSo-Berichten siehe
SPJ 1996, S. 254 f. und
1997, S. 262.
[5]
AB SR, 2001, S. 252 f. Siehe
SPJ 2001, S. 190 f.
[7]
CHSS, 2002, S. 246. Mit Ausgaben von 27,4% des BIP für die soziale Sicherheit bewegt sich die Schweiz im europäischen Mittelfeld (
NZZ, 18.6.02).
[8] Presse vom 15.3.2003. Vgl
SPJ 2001, S. 190. Zu den Börsenverlusten siehe die Antwort des BR auf eine Interpellation Bignasca (lega, TI) in
AB NR, 2002, III, Beilagen, S. 283 ff.
[9]
AB NR, 2002, S. 2161.
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