Année politique Suisse 2002 : Politique sociale / Assurances sociales
Invalidenversicherung
Bei der Behandlung der 4. IV-Revision diskutierte der Ständerat vor allem über die Ausgestaltung der Assistenzentschädigung. Ständerätin Langenberger (fdp, VD) brachte ein neues Modell ein, das von vielen Behindertenorganisationen schon länger propagiert wird und nun auch die Unterstützung der Kantone fand. Dieser Vorschlag sah vor, die Existenzsicherung von Behinderten, die selbstbestimmt leben möchten, nicht über eine Verdoppelung der Hilflosenentschädigung resp. der Pflegebeiträge für Minderjährige und einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen (EL) bis zum Gesamtbetrag von jährlich 90 000 Fr. vorzunehmen, wie dies der Nationalrat beschlossen hatte, sondern die Hilflosenentschädigung auf dem heutigen Stand von 200 bis 800 Fr. pro Monat zu belassen, daneben aber den Anspruch auf ein individuelles Hilflosenbudget einzuführen, das je nach Bedarf an Pflege und Betreuung bis zu 8000 Fr. pro Monat betragen und selbständig verwaltet werden sollte. Langenberger begründete ihren Minderheitsantrag mit der noch grösseren Autonomie der Behinderten als in der Version des Nationalrates und damit, dass beim Modell des Nationalrates jene Behinderte benachteiligt würden, die trotz einer schweren Behinderung erwerbstätig sind.
Obgleich sich im Plenum alle überzeugt zeigten, dass der Vorschlag Langenberger das Modell der Zukunft sei, unterlag ihr Antrag nach längerer Debatte mit 21 zu 16 Stimmen. Die Mehrheit befand, die Sache sei noch nicht ausgereift. Da es für den Systemwechsel an verlässlichen statistischen Grundlagen fehle, seien dessen finanziellen Konsequenzen unkalkulierbar. Zudem, wurde gewarnt, mit dem Systemwechsel drohe eine Pflicht zum Export der Leistungen in die EU-Staaten; aus diesem Grund hatte der Rat bereits zu Beginn der Debatte den Begriff „Assistenzentschädigung“ wieder in „Hilflosenentschädigung“ umbenannt. Auch Bundesrätin Dreifuss sah im Minderheitsantrag mehr offene als gelöste Probleme. Eine Brücke zwischen den beiden Positionen schlug schliesslich Ständerat Pfisterer (fdp, AG). Er beantragte, den Bundesrat zu verpflichten, unverzüglich einen oder mehrere Pilotversuche mit dem neuen System zu veranlassen. Sein Antrag wurde ohne Gegenstimme angenommen. Pilotversuche sind auf Vorschlag des Bundesrates auch im Bereich der Erwerbstätigkeit vorgesehen; sie sollen zeigen, wie die Arbeitgeber dazu motiviert werden können, Personen mit Behinderungen anzustellen.
In den weiteren Punkten folgte der Ständerat weitgehend der Linie des Nationalrates. Er unterstützte die Einführung einer
Dreiviertelsrente, die dank einer besseren Abstufung gewisse Einspareffekte bringen soll, sowie die bereits im ersten Anlauf zu dieser Revision unbestrittene Aufhebung der Zusatzrente für Ehepartner. Bei der Verbesserung der Aufsicht über die ärztlichen Dienste, welche eine Vereinheitlichung der Anspruchberechtigung und damit ebenfalls Minderkosten anstrebt, nahm er allerdings gewisse Retouchen im Sinn einer stärkeren Steuerung vor. Nichts wissen wollte er von einem Zweckartikel im Gesetz, der deutlich machen soll, dass die Leistungen der IV zu einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebensführung von Personen mit Behinderungen beizutragen haben. Zur finanziellen Konsolidierung siehe oben (AHV)
[15].
In der
Differenzbereinigung beharrte der Nationalrat auf der Beibehaltung des Zweckartikels. Festhalten wollte eine Kommissionsmehrheit auch an der Bestimmung, dass die Geschäftsprüfung der IV-Stellen in der Hand des BSV bleibt; der Ständerat hatte beschlossen, dafür aussenstehende Revisoren zu bestimmen. Mit 82 zu 57 Stimmen setzte sich aber ein Antrag Widrig (cvp, SG) durch, hier dem Ständerat zu folgen. Nach Anhören eines externen Experten war auch die vorberatende Kommission zur Ansicht gelangt, dass der Begriff „Assistenzentschädigung“ zu Problemen mit der EU führen könnte, weshalb sie dem Plenum erfolgreich Rückkehr zum sprachlich allerdings nicht gerade als glücklich erachteten Begriff der
„Hilflosenentschädigung“ beantragte. Da auch der Nationalrat der Ansicht war, das Modell Langenberger sei längerfristig der richtige Weg, stimmte er den Pilotversuchen gemäss Antrag Pfisterer oppositionslos zu
[16].
Im Nachgang an die Beratung der 4. IV-Revision überwies der Ständerat eine Motion seiner SGK, die den Bundesrat beauftragt, dem Parlament eine neue Revisionsvorlage zu unterbreiten, wenn bis Ende 2006 die umgesetzten Massnahmen der Revision das Wachstum der
Invalidierungsquote nicht gebremst haben
[17].
[15]
AB SR, 2001, S. 750 ff. und 771 ff. Vgl.
SPJ 2001, S. 192.
[16]
AB NR, 2002, S. 1900 ff.
[17]
AB SR, 2001, S. 1033 f. Zu den zunehmenden Invalidierungen siehe auch oben, Teil I, 7b (Sozialhilfe).
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