Année politique Suisse 2002 : Politique sociale / Assurances sociales / Krankenversicherung
Anlässlich seiner Klausurtagung vom Mai stimmte der Bundesrat grundsätzlich dem Vorschlag des Ständerates zu, wonach im KVG ein
Sozialziel für die individuelle Prämienverbilligung verankert werden soll. Die von der kleinen Kammer beschlossene Prämienbelastungsquote von maximal 8% des Einkommens hielt er indessen für untauglich, da sie nach dem verpönten Giesskannenprinzip dazu führen würde, dass auch Personen mit hohem Einkommen entlastet würden. Einer starren Quote wollte er deshalb ein Modell gegenüber stellen, das gezielt
Mittelstandsfamilien mit Kindern unterstützt, ohne deshalb Personen, die heute vom Prämienverbilligungssystem profitieren, wieder vermehrt zur Kasse bitten zu müssen. Er beauftragte deshalb das EDI, in Zusammenarbeit mit den Kantonen und dem EFD Varianten zu erarbeiten und deren Finanzierungsmöglichkeit zu klären. Der Bundesrat schlug schliesslich ein Modell vor, das in ähnlicher Form bereits im Kanton Graubünden praktiziert wird. Im neuen System der Prämienverbilligung sehen die Kantone je mindestens vier Einkommenskategorien für Familien mit Kindern (inkl. Alleinerziehende) und für die übrigen Versicherten vor. Familien mit Kindern im untersten Einkommenssegment sollen künftig höchstens 2% des bundessteuerlichen Reineinkommens (korrigiert um einen Vermögensfaktor von 10%) für die Prämien der Grundversicherung ausgeben; im obersten Einkommenssegment soll der Eigenanteil 10% nicht übersteigen. Mit dem Modell würde schätzungsweise jede zweite Familie entlastet. Für die restlichen Versicherten (Alleinstehende, Paare ohne Kinder) gilt eine um je 2% höhere Bandbreite (4-12%). Der Gesetzesvorschlag sieht im Hinblick auf eine gesamtschweizerische Vereinheitlichung des Prämienverbilligungsanspruchs eine Bundeskompetenz zur Festlegung der für den Anspruch massgebenden Referenzprämie vor. Damit soll auch ein Anreiz dafür geschaffen werden, dass Prämienverbilligungsbezüger und -bezügerinnen zu günstigeren Krankenversicherern wechseln
[44].
Im Grundsatz stimmte der Nationalrat bei der 2. KVG-Revision, auf die er mit 123 zu 2 Stimmen eintrat, diesem Modell zu. Zu einem politischen Hickhack führte aber die Frage, wie viele zusätzliche Bundessubventionen für die Umsetzung nötig sind. Der Ständerat hatte die Kosten seines Modells (maximal 8% für alle Versicherten) auf 300 Mio Fr. veranschlagt. Die Ratslinke vertrat die Auffassung, es brauche mindestens diesen Betrag, damit die Neuregelung der Prämienverbilligung ihr Hauptziel – die Entlastung des Mittelstandes – erreichen könne. Die FDP wollte lediglich 150 Mio Fr. einschiessen. Sie begründete ihre Haltung damit, dass das Modell des Bundesrates mit den Bandbreiten keinen Giesskanneneffekt mehr habe und damit zwangsläufig kostengünstiger sei. Mit Unterstützung der CVP setzte sich der Antrag auf 300 Mio Fr. mit 97 zu 89 Stimmen durch. Zur absolut teuersten Lösung wurde diese Variante der Zusatzfinanzierung aber durch einen mit 134 zu 48 Stimmen angenommenen Antrag Borer (svp, SO), die Bundesleistungen fix an den Anstieg der Gesundheitskosten zu koppeln. Borer argumentierte, die Indexierung zwinge den Bund zur stärkeren Beteiligung an den Kosten, die er durch die von ihm bestimmten Ausweitungen der Krankenkassenleistungen verursache. Durch die kumulative Wirkung des Ausgangsbetrages und der Indexierung war das Fuder für die Bürgerlichen aber definitiv überladen. Mit dem Hinweis, der Rat habe in wechselnden Mehrheiten auf alle Vorschläge zur Kostendämpfung – Anhebung von Franchise und Selbstbehalt, Aufhebung des Vertragszwangs zwischen Kassen und Ärzten (siehe oben, Teil I, 7b, Medizinalpersonen) – verzichtet, erteilten sie der Vorlage, der letzten, welche die scheidende Bundesrätin Dreifuss im Parlament vertrat, eine Abfuhr: In der Gesamtabstimmung wurde die 2. KVG-Revision mit 93 zu 89 Stimmen (bei 5 Enthaltungen) verworfen. FDP und SVP stimmten fast geschlossen dagegen, SP und Grüne geschlossen dafür, ebenso eine knappe Mehrheit der CVP. Die Linke wertete den Eklat als abgekartetes Spiel der Bürgerlichen. Es sei darum gegangen, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, dass Dreifuss kein valables Gesetz zustande gebracht habe, weshalb jetzt Bundesrat Couchepin, der ab dem nächsten Jahr das EDI übernimmt, die Sache richten müsse. Die Vorlage geht zurück an den Ständerat.
Mit dem negativen Resultat in der Gesamtabstimmung wurden auch alle anderen vom Nationalrat gefällten Beschlüsse – zumindest vorderhand – hinfällig. Dies betrifft insbesondere die Entlastung der Familie bei den
Kinderprämien, die Einführung einer
Versichertenkarte, Massnahmen gegen die sogenannten
Billigkassen, die eine gezielte Risikoselektion betreiben, sowie die
Planungskompetenz des Bundes im Bereich der Spitzenmedizin. Diese Punkte wurden allesamt deutlich angenommen. Abgelehnt wurde hingegen eine freiwillige Hotellerieversicherung in der Grundversicherung, eine interkantonale Spitalplanung sowie eine kantonale Genehmigungspflicht für Hightech-Einrichtungen
[45]. Zur Förderung der Generika sowie zu den neben dem neuen Prämienverbilligungssystem wesentlichsten Elemente der Revision – Spitalfinanzierung und Aufhebung des Kontrahierungszwang im ambulanten Bereich – siehe oben, Teil I, 7b (Spitäler, Medizinalpersonen und Medikamente).
[44]
CHSS, 2002, S. 287-289;
NZZ, 18.8.02; Presse vom 22.8.02. Siehe dazu auch eine Interpellation der SP-Fraktion in
AB NR, 2002, S. 990 ff. Der SGB verlangte, der Bund solle jedes Jahr 1 Mia Fr. zur Verbilligung der Prämien für Kinder zur Verfügung stellen (Presse vom 17.5.02).
[45]
AB NR, 2002, S. 2003 ff., 2055 ff., 2072 ff., 2105 ff., 2123 ff. und 2144 ff.; Presse vom 14.12.02.
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