Année politique Suisse 2002 : Politique sociale / Assurances sociales
Mutterschaftsversicherung
Im Vorjahr hatte der Nationalrat einer parlamentarischen Initiative Triponez (fdp, BE) für einen über die Erwerbsersatzordnung (EO) finanzierten Mutterschaftsurlaub Folge gegeben und seine Fachkommission (SGK) mit der konkreten Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage beauftragt. Diese sprach sich für einen
vierzehnwöchigen Mutterschaftsurlaub für unselbständig und selbständig erwerbstätige Mütter aus, mit einem
Erwerbsersatz von 80% des vor der Geburt des Kindes erzielten durchschnittlichen Einkommens. Die Mutterschaftsentschädigung wird ins Bundesgesetz über die Erwerbsersatzordnung für Dienstleistende in Armee, Zivildienst und Zivilschutz aufgenommen. Parallel dazu schlug die Kommission vor, die Grundentschädigung für Dienstleistende – mit Ausnahme der Rekruten – von heute 65% auf 80% des entgehenden Verdienstes heraufzusetzen. Auch der Bundesrat unterstützte dieses Modell
[50].
Im Plenum bekämpften der Freisinnige Wasserfallen (BE) und die SVP-Mitglieder der Kommission die Vorlage erfolglos mit zwei Nichteintretensanträgen. Sie argumentierten mit der erst drei Jahre zuvor erfolgten Ablehnung einer Mutterschaftsversicherung in der Volksabstimmung und monierten, damit werde einmal mehr der Volkswille missachtet. Die Befürworter erinnerten daran, dass die Mutterschaftsversicherung 1999 vor allem deshalb verworfen worden war, weil auch ein Teil der nichterwerbstätigen Frauen einbezogen werden und die Finanzierung über die MWSt erfolgen sollte; mit der neuen Lösung würden nur erwerbstätige Frauen berücksichtigt, welche seit jeher Beiträge in die EO einbezahlen. Zudem seien die Kosten des Modells moderat. Die Kommission bezifferte sie auf 543 Mio jährlich, 483 Mio Fr. für die Mutterschaftsleistungen und 60 Mio Fr. für die Erhöhung der Entschädigung für die Dienstleistenden. Bis 2008 würden die Reserven des EO-Fonds für die Finanzierung ausreichen. Nachher müssten in zwei Schritten die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge von 0,3 auf 0,5 Promille angehoben werden. Um allfälligen Referendumsgelüsten gar nicht erst Nahrung zu geben, appellierte Nationalrätin Fehr (sp, ZH) – mit Triponez (fdp, BE),.Meyer (cvp, FR) und Haller (svp, BE) Mitinitiantin des neuerlichen Anlaufs – bereits in der Eintretensdebatte an den Rat, keinen weitergehenden Anträge zuzustimmen, da sie die Vorlage gefährden könnten.
In der
Detailberatung fand Fehr Gehör, allerdings nicht bei ihrer eigenen Partei. Diese unterstützte zusammen mit den Grünen zwei Anträge Maury Pasquier (sp, GE), die einen sechzehnwöchigen Mutterschaftsurlaub und den Einbezug von Adoptiveltern verlangten. Beide Anträge scheiterten mit 65 zu 57 resp. 84 zu 57 Stimmen. Abgelehnt (mit 91 zu 63 Stimmen) wurde auch ein Antrag Stahl (svp, ZH), der die Mutterschaftsversicherung auf Frauen ausweiten wollte, die im Betrieb des Ehemannes mitarbeiten. Wenig Verständnis fand ein Antrag Wasserfallen (fdp, BE), der dafür plädierte, auch den nichterwerbstätigen Müttern Leistungen der EO auszurichten. Da Wasserfallen 1999 die Ausdehnung auf die Nichterwerbstätigen an vorderster Front bekämpft hatte, wurde er verdächtigt, er wolle mit dem Antrag die ganze Vorlage zu Fall bringen. Nicht einmal die CVP, die dieses Anliegen 1995 in die Diskussion gebracht und wie eine Löwin dafür gekämpft hatte, mochte sich für den Antrag zu erwärmen, der mit 119 zu 33 Stimmen verworfen wurde. Engelberger (fdp, NW), der verlangte, auch die Entschädigungen für die Rekruten seien anzuheben, wurde auf eine in Zusammenhang mit „Armee XXI“ geplante EO-Revision vertröstet. Am Ende
passierte die Vorlage mit 129 zu 27 Stimmen. Die Nein-Stimmen stammten von einer Mehrheit der männlichen SVP-Abgeordneten sowie von den beiden Freisinnigen Wasserfallen (BE) und Bosshard (ZH)
[51].
Weil die Mutterschaftsversicherung noch nicht realisiert ist, verzichteten beide Kammern gemäss gängiger Praxis mangels gesetzlicher Grundlage auf die Ratifizierung des
ILO-Übereinkommens Nr. 183 über die Neufassung des Übereinkommens Nr. 103 über den
Mutterschutz. Wie zuvor schon der Ständerat gab auch der Nationalrat drei Standesinitiativen der Kantone Genf, Freiburg und Neuenburg, die 2000 eine Ratifizierung des inzwischen obsolet gewordenen Übereinkommens Nr. 103 verlangt hatten, keine Folge
[52].
[50]
BBl, 2002, S. 7522 ff. und 2003, S. 1112 ff. (BR). Siehe
SPJ 1995, S. 250 f. und
2001, S. 196 f.
[51]
AB NR, 2002, S. 1925 ff. Von der SVP stimmten die beiden Frauen Gadient (GR) und Haller (BE) sowie Hassler (GR), Siegrist (AG), Joder und Weyeneth (beide BE) dafür. Zur Volksabstimmung über die MSV siehe
SPJ 1999, S. 279 ff. Da eine Bundesreglung in greifbare Nähe gerückt ist, setzte der Freiburger Grosse Rat die Beratungen über eine Volksinitiative für eine kantonale Mutterschaftsversicherung für ein Jahr aus (
Lib., 14.11.02).
[52]
AB NR, 2002, S. 718 f.;
AB SR, 2001, S. 640 f. Siehe auch eine abgelehnte Motion Maury Pasquier (sp, GE) sowie eine Interpellation der SP-Fraktion in
AB NR, 2002, S. 219 f. Vgl.
SPJ 2000, S. 232.
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