Année politique Suisse 2002 : Politique sociale / Groupes sociaux / Flüchtlingspolitik
Im September leitete der Bundesrat dem Parlament seinen Entwurf für die
Revision des Asylgesetzes zu. Zentrales Element ist die sogenannte
Drittstaatenregelung. Grundsätzlich soll auf Gesuche von Asylsuchenden, die sich vor der Einreise in die Schweiz in einem sicheren Drittstaat aufgehalten haben und dorthin zurückkehren können, gar nicht eingetreten werden. Eine Ausnahme soll nur für Asylsuchende gemacht werden, die enge Familienangehörige in der Schweiz haben. Die von Experten als völkerrechtswidrig kritisierte bloss 24-stündige Beschwerdefrist im beschleunigten Asylverfahren und an den Flughäfen soll auf fünf Arbeitstage ausgedehnt werden. Als weitere wichtige Neuerung will die Regierung einen besonderen Rechtsstatus für vorläufig aufgenommene Bürgerkriegsflüchtlinge und Härtefälle einführen. Erscheint deren Wegweisung nach abschlägig beantwortetem Asylgesuch auf lange Sicht unzumutbar oder völkerrechtlich unzulässig, soll es künftig eine
„integrative Aufnahme“ geben. Der neue Status gewährt den Betroffenen einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt und stellt sie in Bezug auf den Familiennachzug Ausländern mit einer Aufenthaltsbewilligung grundsätzlich gleich. Zudem erhalten sie Unterstützung beim Erlernen einer Landessprache und eines Berufes. Ursprünglich hatte der Bundesrat vorgesehen, ihnen nach sechs Jahren eine reguläre Aufenthaltsbewilligung zu gewähren, doch hatten sich die Kantone quergestellt, weil sie damit für die Fürsorgekosten zuständig geworden wären. Um Druck auf die Kantone auszuüben, Wegweisungen von abgewiesenen Asylbewerbern konsequent zu vollziehen, erhalten die Kantone künftig vom Bund nur noch Globalpauschalen für die von den Asylsuchenden verursachten Fürsorgekosten. Nach einem Wegweisungsentscheid will der Bund die Kantone nur noch für eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer entschädigen; bleibt der Abgewiesene länger, muss der Kanton für die Kosten aufkommen. Bei der Präsentation der Botschaft bestritt Bundesrätin Metzler jeglichen Zusammenhang mit der abstimmungsreifen SVP-Initiative; dennoch wiesen fast alle Medien und Kommentatoren auf Parallelen hin
[19].
Am 24. November kam die 2000 von der SVP eingereichte
Volksinitiative „gegen Asylrechtsmissbrauch“ zur Abstimmung. Sie verlangte insbesondere, dass auf Asylgesuche von aus sogenannt sicheren Drittstaaten (zu denen alle die Schweiz umschliessenden Länder gehören) eingereisten Asylbewerbern nicht mehr eingetreten wird, und dass die Fürsorgeleistungen vom Bund einheitlich auf einem tiefen Niveau festgelegt und in der Regel nur als Sachleistung erbracht werden. Damit sollte nach Auffassung der SVP dem Umstand begegnet werden, dass immer mehr Arbeitssuchende und Kriminelle aus Südosteuropa oder der Dritten Welt das Asylrecht für eine illegale Einreise benutzen. Der
Bundesrat und die
Mehrheit des Parlaments empfahlen die Initiative zur
Ablehnung, da die Initiative überholt sei und die strikte Drittstaatenregelung nicht umsetzbar oder sogar kontraproduktiv wäre, weil bei mangelnder Kooperation der Nachbarstaaten die nicht ins Asylverfahren aufgenommenen Personen auf unbestimmte Zeit in der Schweiz verbleiben würden. Bei einer Annahme bestünde zudem das Risiko, dass auch wirklich Verfolgte kein Asyl mehr erhalten würden, weshalb sie völkerrechtsmässig bedenklich sei
[20].
In der Abstimmungskampagne wurde die Initiative nur gerade von der SVP und den kleinen Rechtsaussenparteien (Lega, SD, EDU) unterstützt. CVP, FDP (mit Ausnahme der Sektionen der Kantone SG, TG und AG), SP, GP, LP, EVP, alle Unternehmerverbände und Gewerkschaften, die kirchlichen Organisationen und die Hilfswerke lehnten sie ab. Selbst SVP-Bundesrat Schmid distanzierte sich deutlich von der Initiative. Zu Wort meldete sich auch das UNHCR: gemäss seinen Richtlinien sei es unakzeptabel, die Anträge von Asylsuchenden nur auf Grund ihres Fluchtwegs zurückzuweisen. Trotz dieser breiten Gegnerschaft geriet der Ausgang der Abstimmung zu einer absoluten Zitterpartie und zum
knappsten je registrierten Abstimmungsergebnis, seit es das Initiativrecht gibt: Erst die letzten Auszählungen im Kanton Zürich zeigten im Lauf des Abends, dass die Initiative trotz erreichtem Ständemehr von einer äusserst knappen Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger
abgelehnt wurde. Am deutlichsten war die Zustimmung in den Kantonen Glarus, Schwyz, Thurgau, St. Gallen und Appenzell-Innerrhoden, am schwächsten in den Kantonen Genf, Jura, Waadt, Wallis und Neuenburg
[21].
Volksinitiative „gegen Asylrechtsmissbrauch“
Abstimmung vom 24. November 2002
Beteiligung: 48,1%
Ja: 1 119 342 (49,9%) / 10 5/2 Stände
Nein: 1 123 550 (50,1%) / 10 1/2 Stände
Parolen:
– Ja: SVP, SD, EDU
– Nein: FDP (3*), CVP, SP, GP, LP, EVP, PdA, CSP; Economiesuisse, SAGV; SGB, CNG; SBK, SEK; Caritas, SFH, Amnesty international, HEKS; Eidg. Ausländerkommission
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die
Vox-Analyse des Urnengangs zeigte, dass sich in der Frage der Annahme oder Ablehnung der Volksinitiative die
Parteisympathien besonders stark auswirkten. Während die Anhängerschaft der SVP nahezu geschlossen (91%) hinter der Initiative ihrer Partei stand, wurde sie von den Sympathisanten der SP mit fast ebenso grosser Mehrheit abgelehnt (81%). Die Anhänger der beiden anderen Regierungsparteien folgten ebenfalls mehr (FDP, 66%) oder weniger deutlich (CVP, 54%) der Nein-Parole ihrer Partei. Die für Abstimmungen fast schon üblich gewordene Differenz zwischen Deutschschweiz und Romandie sowie die gesellschaftlichen Merkmale wirkten sich weniger aus als auch schon, obgleich die gesamte Romandie und das Tessin die Initiative verwarfen, während die Deutschschweiz (mit Ausnahme von Basel-Stadt, Bern, Luzern und Zug) ihr zustimmten. Einmal mehr zeigte sich aber in der
Deutschschweiz ein
Graben zwischen ländlichen Gebieten (59% Ja) und Grossagglomerationen (41%). Als Hauptmotiv für ihre Zustimmung zur Initiative nannten über 90% der Befragten die Unzufriedenheit mit der aktuellen Asylpolitik
und den zuständigen politischen Behörden. 80% der Nein-Stimmenden hielten die Initiative für undurchführbar oder unmenschlich
[22].
[19]
BBl, 2002, S. 6845 ff.; Presse vom 27.6. und 5.9.02. Interviews Metzler:
TA, 6.7.02;
NLZ, 5.9.02. Rechtsgutachten zur 24-Stunden-Frist: Presse vom 12.2.02. Das Bundesgericht entschied, dass sich ein Asylbewerber, der sich längere Zeit in einer Empfangsstelle aufhalten muss, gegen einzelne Anordnungen oder generell das Verhalten des Personals soll beschweren können, wenn er sich in gravierender Weise in seiner Freiheit beeinträchtigt fühlt (
NZZ, 19.4.02).
[20] Der NR lehnte die Initiative mit 121 zu 38 Stimmen ab; Unterstützung fand die Initiative bei der geschlossenen SVP sowie bei Bignasca und Maspoli (beide lega/TI), Hess (sd, BE) und Waber (edu, BE) (
AB NR, 2002, S. 352 ff. und 473;
AB SR, 2001, S. 266;
BBl, 2002, S. 2744); Presse vom 21.3.02. Siehe
SPJ 2001, S. 206.
[21] Abstimmungskampagne: Presse vom 27.9.-23.11.02. Interviews Metzler: Presse vom 16.10.02,
Bund , 28.10.02;
NZZ, 22.10.02;
NLZ, 28.10.02;
BZ, 2.11.02;
SGT, 13.11.02; Völkerrechtliche Aspekte:
Bund, 18.10.02. BR Schmid: Presse vom 2.11.02. UNHCR: Presse vom 6.11.02. Auffallend war, dass CVP, FDP und die Wirtschaft nur geringe Mittel für die Gegenkampagne einsetzten (Presse vom 24.10.02). Erst ganz spät warfen sie sich dezidiert gegen die Initiative ins Zeug (Presse vom 15.11.02). Abstimmungsresultat:
BBl, 2003, S.726 ff.; Presse vom 25.11.02.
[22] Hans Hirter / Wolf Linder,
Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 24. November 2002, Vox Nr. 79, Bern 2002.
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