Année politique Suisse 2003 : Eléments du système politique / Droits, ordre public et juridique
Politische Manifestationen
Die Zahl der
Grossdemonstrationen mit 1000 und mehr Beteiligten war mit 58 mehr als doppelt so hoch wie im Mittel der vergangenen Jahre (2002: 26). Hauptverantwortlich für diese stark angestiegene Demonstrationshäufigkeit war der Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak. An nicht weniger als 24 Grosskundgebungen wurde in den Monaten Februar und März gegen das Vorgehen der USA protestiert. Zweithäufigster Anlass für die Durchführung von Demonstrationen mit mindestens 1000 Beteiligten waren staatliche Sparmassnahmen, namentlich im Bildungsbereich (11 Kundgebungen). Am häufigsten kam es in der Bundesstadt Bern zu Grossdemonstrationen (14), gefolgt von Zürich mit 11 sowie Genf und Lausanne mit je 6
[24]. Die grösste Kundgebung des Jahres fand in Bern statt: am 15. Februar demonstrierten rund 40 000 Personen gegen den drohenden Einmarsch der Amerikaner und ihrer Verbündeten in den Irak. Aufgerufen zu dieser Demonstration, welche zeitgleich mit Manifestationen in der ganzen Welt stattfand, hatten rund 120 Organisationen aus dem linken Politiklager. Auffallend war, dass sich, ähnlich wie bei den Anti-Globalisierungskundgebungen, sehr viele Jugendliche an diesen Anti-USA-Demonstrationen beteiligten. Am Tag des Kriegsausbruchs kam es in fast allen Städten der Schweiz zu spontan organisierten Protestkundgebungen von Schülerinnen und Schülern, an denen sich insgesamt rund 40 000 Personen beteiligten. Weitere sehr grosse Manifestationen mit mehr als 25 000 Teilnehmenden fanden dreimal in Bern (4. Irakdemo; gegen Einschränkungen für Motorradfahrer; für sichere Renten) und einmal in Genf (gegen den G8-Gipfel) statt
[25].
Der Kongress des
Weltwirtschaftsforums (World Economic Forum, WEF) wurde nach einem Abstecher nach New York dieses Jahr wieder in Davos (GR) durchgeführt. Erwartet wurden an diesem mehrere Tage dauernden privaten Kongress mit über 2000 Politikern, Wirtschaftsführern und Wissenschaftern auch mehrere hohe Regierungsvertreter (u.a. US-Aussenminister Powell). Angesichts früherer Erfahrungen und der aggressiven Parolen eines Teils der zu Gegendemonstrationen aufrufenden Globalisierungsgegner („Wipe out WEF“, d.h. „fegt das WEF weg“) ergriffen die Behörden unter Federführung des Kantons Graubünden rigorose Schutzmassnahmen. Zur Sicherung des Kongresses und seiner Logistik standen auch rund 2000 Armeeangehörige im Einsatz. Demonstrationen in Davos selbst waren zwar nicht verboten, die Behörden beharrten allerdings auf einer strengen
Kontrolle der zureisenden Demonstranten und ihrer mitgeführten Rucksäcke. Damit sollte verhindert werden, dass gewaltbereite Demonstranten ihre Utensilien (Stöcke, Steinschleudern etc.) mitführen können. Die im so genannten Oltener Bündnis organisierten Gruppen, welche neben linksradikalen Organisationen auch Kirchen, Gewerkschaften und die GP umfassten, sahen darin eine Beeinträchtigung der demokratischen Rechte und waren nicht bereit, sich diesen auch bei Sportanlässen üblichen Kontrollen zu unterziehen. Diese unversöhnliche Haltung bewog die SP, und – nach den Ausschreitungen – auch die GP, sich vom Oltener Bündnis zu distanzieren. Nach langem Hin und Her an der Kontrollstation Fideris und beim Bahnhof Landquart (GR) passierte am 25. Januar nur eine Minderheit den Kontrollposten und führte in Davos eine Demonstration mit rund 1500 Beteiligten durch. In Landquart selbst war es zu einigen Scharmützeln zwischen Demonstranten, welche den Zugverkehr lahm legten und die Autobahn zu sperren versuchten, und der Polizei gekommen. Als Novum waren dabei die kantonalen Polizeitruppen durch deutsche Kollegen mit Wasserwerfern verstärkt worden. Zu
heftigen Auseinandersetzungen kam es dann am Abend
in Bern. Nachdem der harte Kern der aus Graubünden heimreisenden Manifestanten das Polizeidispositiv in Zürich als zu stark eingeschätzt hatte, reiste er im Zug weiter in die Bundesstadt, wo sich rund 1000 Personen mit der Polizei stundenlange Strassenschlachten lieferten. Der Sachschaden durch Zerstörungen und Plünderungen von Geschäften wurde auf über 600 000 Fr. geschätzt
[26].
Die vom französischen Staatspräsidenten Chirac auf den 1. bis 3. Juni einberufene Konferenz der Staatschefs der sieben wichtigsten Industriestaaten und Russlands
(G8-Gipfel) in Evian am französischen Ufer des Genfersees verlangte von der Schweiz umfangreiche Sicherheitsmassnahmen. Dies hatte seinen Grund einerseits in der potentiellen Gefährdung der prominenten Anwesenden durch Terroristen. Mangels geeigneter Unterkunftsmöglichkeiten in Frankreich mussten die meisten Politiker und ihre Delegationen in der Schweiz einquartiert werden. Andererseits hatten frühere Gipfeltreffen wie etwa dasjenige von Genua (I) im Jahre 2001 gezeigt, dass dabei nicht nur mit grossen Gegendemonstrationen von Globalisierungskritikern zu rechnen war. Ein Teil der aus ganz Europa anreisenden Demonstranten ist seit einigen Jahren bei derartigen Protestkundgebungen – geschützt von der Masse der friedlichen Manifestanten – vor allem auf Gewaltanwendung gegen als „Symbole des Kapitalismus“ bezeichnete Gebäude (Banken, amerikanische Restaurant- und Hotelketten) und die Ordnungskräfte aus, und sie kündigten dies auch für den Gipfel in Evian auf ihren Informationsseiten im Internet entsprechend an
[27]. Diese
Protestkundgebungen sollten nicht im hermetisch abgeriegelten französischen Kurort Evian, sondern
in den schweizerischen Grossstädten Genf und Lausanne durchgeführt werden. Die kantonalen und eidgenössischen Behörden bereiteten sich mit umfangreichen Massnahmen auf den G8-Gipfel und die Gegendemonstrationen vor. Neben einem grossen Aufgebot an Sicherheitskräften gehörten dazu auch Infrastrukturen für die aus ganz Europa anreisenden Demonstranten. So wurden für sie in Lausanne und Genf für je mehrere Hunderttausend Franken Zeltlager aufgebaut.
Auf Anfrage der betroffenen Kantone Genf, Waadt und Wallis hatte der Bundesrat den
subsidiären Einsatz der Armee zugesichert. Da das in Aussicht gestellte Kontingent mit rund 4500 Personen die in der Verfassung festgelegte Obergrenze von 2000 Personen überschritt, musste der Truppeneinsatz vom Parlament bewilligt werden. Der Nationalrat stimmte gegen den Widerstand der SP und der Grünen zu. Diese hatten als Ergänzung zum Militäraufgebot vergeblich zusätzliche organisatorische Hilfen für die Globalisierungskritiker und Massnahmen zum Schutz der Demonstrationsfreiheit gefordert. Das Dispositiv sah die Armee – wie bereits in Davos – nicht für den Einsatz gegen Demonstranten vor, sondern zur Bewachung und Sicherung (etwa des Luftraums und des Genfer Flughafens) sowie für Transport- und andere logistische Aufgaben
[28]. Ebenfalls vom Parlament gutgeheissen werden mussten zwei Staatsverträge mit Frankreich. Der eine betraf die militärische Zusammenarbeit namentlich zur Absicherung des Luftraums und des Schiffverkehrs auf dem Genfersee, der andere die generelle Zusammenarbeit und die Verpflichtung Frankreichs, einen Teil der der Schweiz erwachsenden Kosten zu übernehmen
[29].
Auf Ersuchen der Genfer Regierung gab der Bundesrat nach einigem Zögern die Erlaubnis, die von den schweizerischen Kantonen gestellten Polizisten durch ein namhaftes Kontingent deutscher Truppen zu verstärken. Dieser
Einsatz von deutschen Polizisten war gemäss Justizministerin Metzler rechtlich vom schweizerisch-deutschen Polizeivertrag von 1999 abgedeckt. Aufgeboten waren insgesamt 1000 deutsche und 5500 schweizerische Polizisten sowie 4500 Armeeangehörige. Auf französischem Gebiet waren rund 15 000 französische Polizisten engagiert
[30].
Die Zahl der Demonstranten war mit 30 000 in Genf und 4 000 in Lausanne um ein Mehrfaches geringer als ursprünglich angenommen. Die Kundgebungen verliefen zwar friedlich, aber in der vorangehenden und der folgenden Nacht kam es in Lausanne und vor allem in der Genfer Innenstadt zu Ausschreitungen mit zahlreichen eingeschlagenen Schaufenstern, zerstörten Geschäften und Plünderungen
[31]. Im Anschluss an diese
Ausschreitungen hatte die Polizei kritisiert, dass sie keine rechtliche Möglichkeit gehabt habe, präventiv gegen die gewaltbereiten Manifestanten einzuschreiten. Eine Motion Eggly (lp, GE) verlangte deshalb, dass in Zukunft die Planung von Vandalenakten strafrechtlich verfolgt werden kann. Nachdem der Bundesrat darauf hingewiesen hatte, dass die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen bisher vorwiegend für schwere Verbrechen eingeführt worden sei und die verlangte Strafrechtsverschärfung detaillierter abgeklärt werden müsse, überwies der Nationalrat die Motion als Postulat. Eine Motion Eberhard (cvp, SZ), welche für Chaoten und Vandalen Sperrzonen und Verbote, an bestimmten Demonstrationen teilzunehmen, verlangt, wurde von Menétry (gp, VD) bekämpft und deshalb vom Nationalrat noch nicht behandelt
[32].
[24] Kundgebungen mit mindestens 1000 Beteiligten (ohne 1. Mai-Demonstrationen): Bern:
Bund, 17.2. (40 000/gegen Irakkrieg), 3.3. (2000/gegen Faschismus), 17.3. (1000/gegen Verschärfung des Asylrechts), 19.3. (2000/gegen Irakkrieg), 21.3. (10 000/gegen Irakkrieg), 24.3. (30 000/gegen Irakkrieg), 28.4. (4 500/Behinderte für ihre Volksinitiative), 19.5. (30 000/Motorradfahrer gegen geplante neue Verkehrsvorschriften), 30.5. (1500/gegen Gewalt im Alltag);
NZZ, 22.9. (5000/Gewerkschafter für öffentlichen Verkehr);
Bund, 22.9. (25 000/für sichere Renten);
TA, 27.10. (1000/gegen USA und Israel);
Blick, 11.12. (1000/gegen die Wahl von BR Blocher);
TA, 15.12. (12 000/für mehr Frauen in den Bundesrat). Zürich:
TA, 24.2. (1000/gegen Irakkrieg), 6.3. (1500/gegen Irakkrieg);
NZZ, 15.3. (6000/gegen Irakkrieg);
TA, 21.3. (5000/gegen Irakkrieg), 24.3. (1000/Kurden gegen türkische Politik), 21.6. (2500/Lehrer gegen Sparmassnahmen im Bildungsbereich);
NZZ, 3.7. (5000/Staatsangestellte gegen Sparmassnahmen), 7.7. (8000/gegen Fluglärm);
TA, 25.9. (1500/Schüler gegen Sparmassnahmen im Bildungsbereich), 20.11. (9000/gegen Sparmassnahmen im Bildungsbereich);
Blick, 11.12. (1000/gegen die Wahl von BR Blocher). Genf:
NZZ, 1.2. (3000/gegen Irakkrieg);
TG, 21.3. (8000/gegen Irakkrieg), 31.3. (5000/gegen WTO und Irakkrieg), 8.4. (3000/Tamilen für Demokratie in Sri Lanka);
Lib., 31.5. (1500/gegen G8-Gipfel);
TA, 2.6. (30 000/gegen G8-Gipfel). Lausanne:
24h, 6.3. (2500/gegen Irakkrieg);
Bund, 21.3. (4000/gegen Irakkrieg);
LT, 30.5. (4000/gegen G8-Gipfel);
TA, 2.6. (1000/gegen G8-Gipfel);
LT, 28.11. (8000/Staatsangestellte gegen Sparmassnahmen);
NZZ, 10.12. (1000/Staatsangestellte gegen Sparmassnahmen). Bellinzona:
NZZ, 22.3. (2000/Schüler gegen Sparmassnahmen);
TA, 13.11. (4000/Schüler gegen Sparmassnahmen), 4.12. (10 000/gegen staatliche Sparmassnahmen). St. Gallen:
TA, 17.2. (2500/gegen Irakkrieg), 31.3. (1000/gegen Irakkrieg);
SGT, 13.11. (2000/ Staatsangestellte gegen Sparmassnahmen). Luzern:
NLZ, 21.3. (8000/gegen Irakkrieg);
TA, 31.3. (3000/gegen Irakkrieg). Aarau:
TA, 26.11. (5000/Staatsangestellte gegen Sparmassnahmen). Baden (AG):
AZ, 22.3. (1500/gegen Irakkrieg). Basel:
BaZ, 21.3. (5000/gegen Irakkrieg). Davos:
TA, 27.1. (1500/gegen WEF). Gösgen (SO):
Bund, 14.4. (4000/gegen Anti-AKW-Initiativen). Kloten:
TA, 24.3. (6000/gegen Fluglärm). La Chaux-de-Fonds:
NZZ am Sonntag, 15.6. (1500/gegen Gewalt im Alltag). Lugano:
SGT, 24.3. (2000/gegen Irakkrieg). Neuenburg:
Express, 21.3. (2000/gegen Irakkrieg). Sion:
NF, 20.3. (2000/gegen Irakkrieg). Thun:
Bund, 19.5. (1000/gegen Faschismus). Weinfelden (TG):
SGT, 21.3. (1500/gegen Irakkrieg). Winterthur:
TG, 21.3. (1000/gegen Irakkrieg).
[25] Presse vom 14.2., 17.2. und 21.3. Zur starken Mobilisierung von Jugendlichen siehe auch
AZ, 15.3.03;
WoZ, 27.3. und 3.4.03;
TA, 25.8.03.
[26]
BüZ, 18.1. und 23.1.03;
NLZ, 22.1.03 und
TA, 28.1.03 (SP und GP);
SoZ, 26.1.03; Presse vom 27.1. und 28.1.03;
LT, 20.2.03 (Schäden in Bern). Vgl. auch die Stellungnahme des BR in
AB NR, 2003, S. 1335 (Beilagen III, S. 328 ff.).
[27] Vgl. dazu
TA, 26.5.03.
[28]
BBl, 2003, S. 1517 ff.;
AB NR, 2003, S. 305 ff. und 334 ff.;
NZZ, 29.4.03.
[29]
BBl, 2003, S. 2550 ff. (Kosten);
AB SR, 2003, S. 287 ff.;
AB NR, 2003, S. 462 ff.;
BBl, 2003, S. 2889; Presse vom 4.3. und 8.3.03. Zur Beurteilung des G8-Sicherheitseinsatzes siehe auch die Antworten des BR auf die Interpellationen Favre (fdp, VD) und Fattebert (svp, VD) in
AB NR, 2003 (Beilagen IV), S. 458 ff. und 564 f.
[30] Presse vom 5.5. und 16.5.03;
NZZ, 15.5. und 22.5.03;
LT und
TG, 16.5.02. Namentlich zum Einsatz von deutschen Polizisten im Ordnungseinsatz in Genf siehe auch die Antworten des BR auf die Interpellationen Glur (svp, AG) in
AB NR, 2003 (Beilagen IV), S. 456 f., sowie Wicki (cvp, LU) in
AB SR, 2003, S. 1024 ff. und Beilagen IV, S. 88.
[31] Presse vom 2.6. und 3.6.03. Für die Vorbereitungen siehe auch die Presse (namentlich
Lib.,
LT,
TG und
24h) von April bis anfangs Juni.
[32]
AB NR, 2003, S. 2118 (Eggly) und 2119 (Eberhard).
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