Année politique Suisse 2003 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport / Gesundheitspolitik
Der Nationalrat nahm ein Postulat seiner SGK an, mit welchem der Bundesrat eingeladen wird, die Prozesse der Umsetzung komplexer Reformvorhaben im Gesundheitswesen zu analysieren und Vorschläge zu unterbreiten, wie künftig eine kohärentere
Vorbereitung und Umsetzung der Reformen unter Einbezug der Partner im Gesundheitswesen sichergestellt werden kann
[1].
Die nationalrätliche SGK vertrat die Auffassung, dass im Rahmen der Aufhebung des Kontrahierungszwangs und der kantonsweisen Festlegung des medizinischen Bedarfs (siehe unten, Medizinalpersonen) eine zuverlässige
Statistik zur medizinischen Demographie unerlässlich wird, die aber nicht auf kantonaler, sondern auf nationaler Ebene erfolgen sollte, weshalb sie den Bundesrat in einem überwiesenen Postulat ersuchte, eine entsprechende Studie in Auftrag zu geben
[2].
Bund und Kantone schlossen eine
Vereinbarung zur nationalen Gesundheitspolitik, die eine engere Zusammenarbeit aller involvierter Kreise anstrebt. Es soll ein regelmässiger Informationsaustausch stattfinden, die gemeinsamen gesundheitspolitischen Felder sollen abgesteckt, Grundlagen-, Vorbereitungs- und Entwicklungsarbeiten festgelegt und gemeinsame Stellungnahmen und Empfehlungen verabschiedet werden. An dem Dialog, der mehrmals jährlich stattfinden wird, beteiligen sich der Vorsteher des EDI und die Vertreter der verantwortlichen Bundesstellen sowie der Vorstand der Gesundheitsdirektorenkonferenz und deren Zentralsekretär
[3].
Im Dezember nahm die neu gegründete Stiftung für
Patientensicherheit ihre Arbeit auf. Sie versteht sich als Antwort auf die nationale und internationale Diskussion über die Patientensicherheit in der stationären und ambulanten medizinischen Versorgung. Die Tätigkeit der Stiftung stützt sich auf die Vorschläge der vom EDI eingesetzten Expertengruppe „Patientensicherheit“ ab. Diese hatte die folgenden Massnahmen empfohlen: Erarbeitung einer Datenbasis zu medizinischen Fehlern, Analyse der Ursachen und Risikofaktoren, Entwicklung von Sicherheitsstrategien und -instrumenten, Kommunikation sowie Wissenstransfer und Unterstützung der von schwerwiegenden Zwischenfällen betroffenen Patientinnen und Patienten und des beteiligten Personals
[4].
Wie eine Studie in mehreren europäischen Ländern zeigte, ist in der Schweiz die
Sterbehilfe ein weit verbreitetes Phänomen. Rund 50% aller hiesigen Todesfälle werden von Sterbehilfe-Entscheiden begleitet; bei einem Drittel kommt der Tod so plötzlich und unerwartet, dass sich die Frage nach Sterbehilfe gar nicht erst stellt, beim verbleibenden Sechstel wird der Tod zwar erwartet, doch ist Sterbehilfe kein Thema. Am häufigsten (28%) wird die passive Sterbehilfe praktiziert, bei der lebenserhaltende Massnahmen bei todkranken Patienten abgebrochen oder gar nicht erst eingeleitet werden. Indirekt aktive Sterbehilfe – darunter fallen Behandlungen, die das Leiden mildern, gleichzeitig aber auch die Überlebenszeit verkürzen können – fanden die Wissenschafter bei 22% der Todesfälle. Suizidbeihilfe führte in 0,4% zum Tod, und die einzige in der Schweiz strafbare Form der Sterbehilfe, die aktive Sterbehilfe, in 0,7% der Fälle. Eigentliche Sterbehilfeorganisationen, wie „Exit“ und „Dignitas“, scheint es lediglich in der Schweiz zu geben, was damit zusammenhängen mag, dass in anderen Ländern jede Sterbehilfe strafbar ist (insbesondere in Südeuropa), oder aber völlig straffrei (wie in den Niederlanden und Belgien), weshalb es dort keine Grauzone gibt
[5].
Ausgehend von mehreren Vorstössen hatte sich der Nationalrat bereits 2001 intensiv mit dem Thema der Sterbehilfe befasst, ohne allerdings eindeutig Stellung zu beziehen. Er hatte lediglich eine Motion überwiesen, die den Bundesrat beauftragte, Gesetzeslücken bei der passiven und der indirekt aktiven Sterbehilfe im Sinn der Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zu schliessen und zu prüfen, wie die Palliativmedizin speziell gefördert werden könne. Der Ständerat war der Ansicht, der Verweis auf die SAMW sei zu eng gefasst und die Aufforderung zur Unterstützung der palliativen Behandlungsmöglichkeiten zu wenig verbindlich formuliert, weshalb er die nationalrätliche Motion lediglich als Postulat beider Räte verabschiedete, stattdessen aber im Einverständnis mit dem Bundesrat eine analoge Motion seiner Rechtskommission guthiess; diese beauftragt die Regierung in einer offeneren Formulierung, Vorschläge für eine
gesetzliche Regelung der indirekten aktiven und passiven Sterbehilfe zu unterbreiten sowie Massnahmen zur Förderung der Palliativmedizin zu treffen
[6].
Mit 152 zu 9 Stimmen gab der Nationalrat klar einer parlamentarischen Initiative Gross (sp, TG) für die Einführung eines einheitlich ausgestalteten
Patiententestaments Folge. Der Persönlichkeitsschutz gemäss Zivilgesetzbuch soll durch eine Bestimmung ergänzt werden, wonach schriftlichen Weisungen von Patienten und Patientinnen bezüglich medizinischer Behandlungsmassnahmen und des Rechts auf einen würdevollen Tod gesetzlich verbindliche Wirkung zukommt, soweit diese nicht im Widerspruch mit der Rechtsordnung stehen und zum Zeitpunkt des Todes dem aktuellen oder mutmasslichen Willen der Betroffenen noch entsprechen
[7].
Erstmals wurden – wenn auch in mehr journalistischer denn wissenschaftlicher Form – die
Folgekosten des Suizidgeschehens in der Schweiz beziffert. Die rund 1300 Selbsttötungen des Jahres 1998 verursachten pro Fall rund 4000 Fr. Kosten bei Polizei und Rechtsmedizin. Die versicherungsrechtlichen Suizidfolgekosten (Witwen- und Waisenrenten sowie Leistungen aus Lebensversicherungen) wurden auf 65 Mio Fr. veranschlagt. Weit kostspieliger als erfolgreiche Selbsttötungen sind Suizidversuche mit gesundheitlichen Folgen (rund die Hälfte der geschätzten 30 000 Fälle). Die Untersuchung schätzte die jährlichen Kosten des gesamten Suizidgeschehens auf 2,3 Mia Fr., wovon ungefähr 2 Mia Fr. allein durch das Entstehen von rund 500 neuen lebenslangen Pflegefällen ausgelöst werden
[8].
[1]
AB NR, 2003, S. 1899. Zur Rochade der Abteilung Kranken- und Unfallversicherung vom BSV ins BAG, um ein eigentliches gesundheitspolitisches Kompetenzzentrum zu realisieren, siehe unten, Teil I, 7c (Allgemeine Fragen).
[2]
AB NR, 2003, S. 1139.
[4]
CHSS, 2004, S. 4. Unter den Gründern der Stiftung sind die SAMW, die Eidgenossenschaft (vertreten durch BAG und BaV) sowie die FMH. Siehe
SPJ 2001, S. 177.
[5] Presse vom 19.6.03. Die Studie beruhte lediglich auf Daten aus der Deutschschweiz, weshalb bei einer Extrapolation auf die Westschweiz und das Tessin Vorsicht geboten sein dürfte; aber auch in der Romandie wird das Thema zunehmend diskutiert:
LT, 9.2. und 6.3.03;
24h, 24.2.03. Zu Sterbehilfe und Palliativmedizin siehe auch
TA, 23.1.03;
NZZ, 18.6., 19.6., 12.7., 13.7. und 12.8.03. Vgl.
SPJ 2002, S. 193.
[6]
AB SR, 2003, S. 616 ff. Siehe dazu auch eine Interpellation Gross (sp, TG) in
AB NR, 2003, Beilagen V, S. 391 ff. Vgl.
SPJ 2001, S. 176 f.
[7]
AB NR, 2003, S. 171 ff.
[8]
Lit. Hollenstein; Presse vom 12.9.03. Siehe dazu auch eine vom SR dem BR zur Kenntnisnahme übermittelte Petition des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds und des Instituts für Sozialethik mit dem Titel „Für eine wirksame Suizidverhütung“ (
AB SR, 2003, S. 1242). Vgl.
SPJ 2002, S. 193 f.
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