Année politique Suisse 2003 : Politique sociale / Assurances sociales / Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)
print
11. AHV-Revision
In der Maisession hielt der Nationalrat vorerst an seinen 2001 gefällten Beschlüssen zur inhaltlichen Revision der AHV fest [16], allerdings mit bedeutend knapperen Mehrheiten als zwei Jahre zuvor. Während sich in der ersten Runde der Beratungen das vom Bundesrat vorgeschlagene Modell der Frühpensionierung für Personen mit niedrigem Einkommen, das zu Mehrkosten (resp. zu geringeren Einsparungen) von 400 Mio Fr. geführt hätte, nur mit Stichentscheid des Präsidenten gegen einen grosszügigeren Antrag auf 800 Mio Fr. hatte durchsetzen können, votierten jetzt nur noch 90 Abgeordnete für die zweckgebundene Verwendung der durch die Heraufsetzung des Frauenrentenalters eingesparten 400 Mio, während 83 dem Ständerat folgen wollten, der sich gegen jede soziale Abfederung des Rentenvorbezugs ausgesprochen hatte. Für die 400 Mio Fr. stimmten die geschlossenen Fraktionen der SP und der Grünen, eine Mehrheit der CVP und eine Hand voll Bauernvertreter aus der SVP. Auch bei der Witwenrente schwenkte der Nationalrat mit 91 zu 73 Stimmen – wieder Linke, Grüne und diesmal fast die ganze CVP gegen FDP und SVP – nicht auf den harten Sparkurs des Ständerates ein, der die Witwenrente für Frauen mit Kindern auf 60% einer vollen Rente hatte kürzen wollen, unter gleichzeitiger Anhebung der Waisenrenten von 40 auf 60% [17].
Im Ständerat wehrten sich die beiden Sozialdemokraten Brunner (GE) und Studer (NE) vergeblich für die sozialverträgliche Ausgestaltung des vorgezogenen Rentenbezugs. Sie wurden von Beerli (fdp, BE) unterstützt, die erklärte, wer behaupte, die 400 Mio würden ohne nennenswerten Nutzen für die Rentnerinnen und Rentner verpuffen, der argumentiere zynisch. Für Leute mit einer kleinen Rente seien 100 Fr. mehr oder weniger im Monat nicht nichts. Die Mehrheit hielt dem entgegen, es seien nicht die Leute mit den geringsten Einkommen, die am meisten profitieren würden, sondern der untere Mittelstand. Reduzierte Kürzungssätze wären das Eingangstor zur allgemeinen Frühpensionierung. Mit 29 zu 9 Stimmen wurde die soziale Abfederung noch deutlicher abgelehnt als im Vorjahr. Die Verschärfung bei der Witwenrente hatte hingegen einen schwereren Stand als 2002, wurde mit 21 zu 18 Stimmen aber dennoch angenommen [18].
In der Spezialkommission des Nationalrats, welche das EP 03 vorzuberaten hatte, brachte Blocher (svp, ZH) einen Antrag durch, der die SP und die CVP unter Druck setzte. Seine Formel lautete: entweder Verzicht auf die soziale Abfederung des Rentenvorbezugs oder Streichung des Mischindexes im Jahr 2006 (siehe oben, AHV). Beides sei nicht zu haben. Daraufhin schlug Dormann (cvp, LU) einen Mittelweg vor, damit die 11. AHV-Revision nicht allein den Frauen die Last der Sparopfer aufbürde. Im Gegenzug zur Erhöhung des Rentenalters auf 65 Jahre und der Verschlechterung bei der Witwenrente sollten für die Frauen der Jahrgänge 1948 bis 1957 bei einem Vorbezug von bis zu zwei Jahren die Renten nur zur Hälfte gekürzt werden. Mit 107 zu 71 Stimmen wurde dieser Antrag vom Rat angenommen. Bei der Witwenrente setzte sich mit 90 zu 78 Stimmen ein Minderheitsantrag Egerszegi (fdp, AG) durch, beim Status quo zu bleiben, d.h. allen Witwen mit Kindern bis zum Erreichen des Pensionsalters eine 80%-ige Witwenrente auszubezahlen. Egerszegi machte geltend, gerade in ländlichen Gebieten hätten Frauen mit mehreren Kindern kaum die Gelegenheit, nach der Familienpause wieder Tritt im Erwerbsleben zu finden, weshalb sie oft von der Witwenrente allein leben müssten [19].
Der Ständerat beharrte aber auf seinen Beschlüssen. Der CVP-Vorschlag für die Frauenrenten wurde als unbrauchbar erachtet, weil er mangels Definition einer oberen Einkommenslimite nach dem Giesskannen-Prinzip funktioniere. Gegen eine Schonung der Witwen machte Beerli (fdp, BE) geltend, dank der langen Übergangsfrist von 17 Jahren, in denen die Rente schrittweise an das neue Modell herangeführt würde, seien die heutigen älteren Witwen gar nicht betroffen. Die Einigungskonferenz übernahm im Wesentlichen die Positionen des Ständerates. Einzig beim Rentenvorbezug der Frauen machte er eine Geste in Richtung der grossen Kammer: während fünf Jahren nach Inkrafttreten der Revision können Frauen der Jahrgänge 1948 bis 1952 die Rente um ein Jahr mit dem halben Kürzungssatz vorbeziehen [20].
Vor der Zustimmung zum Ergebnis der Einigungskonferenz machten im Nationalrat Gewerkschaftsvertreter aus der SP, der GP und der CVP ihrem Ärger über die Bilanz dieser Revision Luft, die sie als reinen Sozialabbau resp. als Nichteinhalten des Versprechens auf eine echte Flexibilisierungsvorlage anprangerten. In der Schlussabstimmung wurde die 11. AHV-Revision von der grossen Kammer mit 109 zu 73 Stimmen angenommen. SP und Grüne stimmten dagegen, ebenso eine kleine Minderheit der CVP. Der Ständerat hiess die Vorlage mit 34 zu 9 Stimmen gut [21].
An ihrer Delegiertenversammlung von Anfang Oktober beschloss die SP geschlossen, das Referendum gegen die 11. AHV-Revision zu ergreifen. Begründet wurde dieser Entscheid zwar auch mit der Erhöhung des Rentenalters der Frauen und den Abstrichen bei der Witwenrente, wodurch die Frauen gleich doppelt zur Kasse gebeten würden. Im Zentrum stand aber der Verzicht der bürgerlichen Parlamentsmehrheit auf eine soziale Abfederung des flexiblen Rentenalters. In einer koordinierten Aktion machte der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) zwischen dem 20. und dem 22. November an 200 Standorten für das Referendum gegen die 11. AHV-Revision mobil. In 48 Stunden kam die Rekordzahl von über 80 000 Unterschriften zusammen. Da auch weitere Organisationen (SP, GP, Travail.Suisse) zur Sammlung beitrugen, kam das Referendum mit 152 031 Unterschriften zustande [22].
Im Anschluss an die Beratungen reichte Nationalrat Studer (evp, AG) eine Motion ein, welche verlangte, in die nächste AHV-Revision sei eine sozial abgefederte Flexibilisierung des Rentenalters für tiefere Einkommen wieder aufzunehmen. Zudem sei zu prüfen, ob die AHV-Rente bereits nach einer zu bestimmenden Zahl von Beitragsjahren bezogen werden kann. Der Bundesrat erklärte, er wolle sich im jetzigen Zeitpunkt nicht festlegen, er werde aber ganz unterschiedliche Modelle verfolgen, weshalb er erfolgreich Umwandlung in ein Postulat beantragte [23].
 
[16] Zum zweiten „Flügel“ der 11. AHV-Revision, der Erhöhung der Mehrwertsteuersätze für AHV und IV, siehe oben (AHV).
[17] AB NR, 2003, S. 592 ff. und 609 ff. Siehe SPJ 2001, S. 191 f.
[18] AB SR, 2003, S. 428 ff. und 441 ff. Siehe SPJ 2002, S. 214 f.
[19] AB NR, 2003, S. 1324 ff., 1510 ff. und 1743 f.; Presse vom 3.9. (Blocher) und 6.9.03 (Dormann).
[20] AB SR, 2003, S. 836 ff.; Presse vom 24.9.03. Während die parlamentarischen Beratungen in den Endspurt gingen, folgten rund 25 000 Personen dem Aufruf der Gewerkschaften und demonstrierten vor dem Bundeshaus gegen die Verschlechterungen bei der Altersvorsorge (Presse vom 22.9.03).
[21] AB NR, 2003, S. 1510 ff. und 1743 ff.; AB SR, 2003, S. 952 ff. und 1030; BBl, 2003, S. 6629 ff.
[22] BBl, 2004, S. 740 f.; Presse vom 26.9., 6.10., 20.11. und 24.11.03.
[23] AB NR, 2003, S. 2118.