Année politique Suisse 2003 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Invalidenversicherung (IV)
In der Frühjahrssession konnten die Beratungen der 4. IV-Revision abgeschlossen werden. Die gewichtigste noch bestehende Differenz zwischen National- und Ständerat betraf die Form und Ausgestaltung der Geschäftsprüfung der IV-Stellen. Der Nationalrat hatte die Prüfung externen Organen übertragen wollen, während der Ständerat die Notwendigkeit betont hatte, dass die materielle Prüfung beim BSV bleiben müsse. Nachdem der Nationalrat in der Differenzbereinigung an seiner Auffassung festgehalten hatte, schlug der Ständerat eine Kompromisslösung vor: Die Überprüfung des Leistungsanspruchs, d.h. die Bemessung der Invalidität und des Assistenzbedarfs wird weiter vom BSV vorgenommen, die Rechnungsprüfung hingegen durch private, spezialisierte Treuhandgesellschaften. Diesem Mittelweg konnte die grosse Kammer folgen. In der Schlussabstimmung passierte die Vorlage im Nationalrat mit 178 zu 5 Stimmen und im Ständerat oppositionslos [24].
Im Rahmen der Beratungen der 4. IV-Revision hatte der Ständerat im Vorjahr eine Motion seiner SGK angenommen, welche den Bundesrat beauftragte, dem Parlament 2006 eine neue Revisionsvorlage zu unterbreiten, wenn bis dahin die eingeleiteten Massnahmen nicht zu einem Rückgang der Invalidisierungsquote führen. Da er den Auftrag als zu kurzfristig erachtete – die 4. IV-Revision tritt frühestens auf den 1.1.2004 in Kraft –, verlängerte der Nationalrat mit einer Motion seiner SGK die Frist stillschweigend bis 2008 und lehnte sinngemäss (wenn auch knapp mit 73 zu 67 Stimmen) den ständerätlichen Vorstoss ab. Da sie dringenden Handlungsbedarf ausmachte, beantragte die SGK des Ständerates erfolgreich, diese zweite Motion abzulehnen. Weil der Bundesrat ohnehin für 2005 die 5. IV-Revision in Aussicht stellte, verzichtete die Kommission aber darauf, ihre ursprüngliche Motion wieder aufzunehmen [25].
In der Wintersession überwies der Ständerat mit 21 zu 10 Stimmen eine Motion seiner SGK, welche eine Trennung des IV- vom AHV-Fonds verlangt. Damit soll die IV-Rechnung transparent gemacht und eine Grundlage gelegt werden, um die heutige Verschuldung der IV zulasten des AHV-Ausgleichsfonds zu beseitigen. Der Bundesrat war nicht grundsätzlich gegen eine Ausscheidung, stellte aber die Frage, wie denn ein Fonds mit einem Defizit von 5,5 Mia Fr. verselbständigt werden könne. Der AHV-/IV-Fonds müsse zuerst saniert werden. Um vor einer definitiven Weichenstellung die Fragen vertiefter prüfen zu können, beantragte er erfolglos Umwandlung in ein Postulat [26].
Stillschweigend gab der Nationalrat einer parlamentarischen Initiative Suter (fdp, BE) Folge, die verlangte, bei der Berechnung des Rentenanspruchs einer Person, die vor Eintritt der Invalidität nur teilzeitlich erwerbstätig war, sei von einem vollen Arbeitspensum auszugehen. Suter wollte damit vor allem Frauen besser stellen, die neben einer Teilzeitstelle unentgeltlich im Betrieb des Ehemannes mitarbeiten [27].
 
[24] AB NR, 2003, S. 65, 256 f. und 517; AB SR, 2003, S. 102 ff. und 369; CHSS, 2003, S. 28 f. Zur Umsetzung der 4. IV-Revision siehe die Antwort des BR auf eine Interpellation im NR: AB NR, 2003, Beilagen III, S. 473 f. Vgl. SPJ 2002, S. 215 f. Für die Auswirkungen des NFA auf die Invalidenhilfe siehe oben, Teil I, 1d (Beziehungen zwischen Bund und Kantonen) sowie Valterio, Michel, „Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung“ in CHSS, 2003, S. 263-264.
[25] AB NR, 2003, S. 616 und 634; AB SR, 2003, S. 1117 f. Siehe SPJ 2002, S. 216. Der NR verabschiedete drei Postulate, die zum Ziel haben, dass die IV die Kostenbeteiligung nach KVG für schwere Geburtsgebrechen und langjährige schwere Krankheiten übernimmt (AB NR, 2003, S. 1722 und 1904). Zu der von NR Blocher (svp, ZH) losgetretenen Polemik um den Missbrauch der IV durch „Scheininvalide“ siehe Presse vom 13.6. und 14.6.03; NZZ, 16.6.03; SHZ, 25.6.03; SoZ, 14.9.03. Eine Motion der SVP-Fraktion zur „Bekämpfung der „Scheininvalidität“ wurde von Gross (sp, TG) und Polla (lp, GE) bekämpft und deshalb vom NR noch nicht behandelt (AB NR, 2003, S. 1723 und Beilagen IV, S. 595 f.). Siehe dazu auch die Antworten des BR auf zwei Interpellationen im NR: a.a.O., Beilagen IV, S. 443 ff. und 586 f.
[26] AB SR, 2003, S. 1118 ff.
[27] AB NR, 2003, S. 1717.