Année politique Suisse 2004 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport / Suchtmittel
Aufgrund von Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz werden in der Schweiz jährlich rund 45 000 Personen verzeigt, ein Fünftel wegen Drogenhandels, vier Fünftel wegen des Konsums, zwei Drittel von letzteren wegen Cannabis. Das zeigte eine Anfang Jahr publizierte Mehrjahresstudie des Bundesamtes für Statistik. Danach hat sich die Zahl der Verzeigungen in der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts von 20 000 auf über 40 000 verdoppelt; seit fünf Jahren liegt sie relativ stabil bei 45 000. Während polizeiliche Verzeigungen wegen des Konsums von Cannabis stark zugenommen haben, vor allem bei Minderjährigen, ist die Zahl der Strafverfolgungen wegen des Konsums anderer Betäubungsmittel seit Mitte der 90er Jahre rückläufig
[27].
Im Vorjahr hatte der Nationalrat in einer sehr emotionalen, wahlkampfgefärbten Debatte entschieden, auf die
Revision des Betäubungsmittelgesetzes (BetMG) nicht einzutreten, womit der Ball wieder beim Ständerat lag, welcher die Revision bereits 2001 nach gelassener Diskussion einstimmig verabschiedet hatte. Die kleine Kammer liess sich von der nationalrätlichen Verweigerung nicht beeindrucken. Mit 28 zu 12 Stimmen beschloss sie erneut, auf das Gesetz einzutreten; angesichts der unsicheren Entwicklung im Nationalrat wurde keine Detailberatung durchgeführt, doch wurde in einzelnen Punkten (Opportunitätsprinzip anstatt völlige Entkriminalisierung des Konsums, Lenkungsabgabe) ein mögliches Entgegenkommen signalisiert
[28].
Das erneute
Scheitern im Nationalrat zeichnete sich bereits in der Kommission ab. Hatte sie 2003 noch mehrheitlich beantragt, auf die Revision einzutreten, sprach sie sich nun, wenn auch ganz knapp, dagegen aus. Da klar war, dass vor allem FDP und CVP das Zünglein an der Waage spielen würden, setzten sich FDP-Präsident und Ständerat Schweiger (SZ) sowie die Jungparteien von FDP und CVP vehement für Eintreten ein. Die Diskussion drehte sich nicht um die Revision als Ganzes (so etwa die Überführung der kontrollierten Heroinabgabe in ordentliches Recht), sondern ausschliesslich um die Frage der Entkriminalisierung des Cannabis-Konsums. Erneut standen sich zwei unversöhnliche Lager von Befürwortern und Gegnern gegenüber. Mit 102 zu 92 Stimmen wurde
Eintreten abgelehnt, womit die Revision definitiv gescheitert ist. Für Eintreten sprachen sich SP und Grüne geschlossen aus, dagegen die SVP (ohne Siegrist, AG, und Gadient, GR), die CVP (mit Ausnahme von Interimspräsidentin Leuthard, AG, und den beiden Zürcherinnen Zapfl und Ricklin) sowie eine knappe Mehrheit der FDP
[29].
Wenige Tage darauf lancierte ein Komitee „Pro Jugendschutz – gegen Drogenkriminalität“ die Volksinitiative „Für eine vernünftige Hanf-Politik mit wirksamem Jugendschutz“. Diese
„Hanfinitiative“ verlangt die Straffreiheit für den Konsum, Besitz und Erwerb von psychoaktivem Hanf zum Eigenbedarf sowie eine staatliche Kontrolle von Anbau und Handel. Letzteres könnte in Konflikt stehen mit einer UNO-Vereinbarung, die seit 1970 auch für die Schweiz gilt. Der Entwurf zur BetMG-Revision hatte ebenfalls ein behördliches Toleranzregime für Anbau und Handel vorgesehen, dieses aber mit einer Kann-Formulierung versehen, was jederzeit eine Aufhebung ermöglicht hätte. Trotz dieser völkerrechtlichen Unklarheit nahmen im Initiativkomitee neben Vertretern der SP – Cavalli (TI), Fetz (BS), Garbani (NE), Janiak (BL) und Wyss (BE) – und der Grünen (Lang, ZG und Müller, AG) – auch Abgeordnete aus den bürgerlichen Bundesratsparteien – Kleiner (AR), Markwalder-Bär (BE) und Noser (ZH) für die FDP sowie Frick (SZ) und Maissen (GR) für die CVP – bis hin zur SVP (Jenny, GL) Einsitz
[30].
Noch schärfer formuliert als die Vereinbarung von 1970 ist die
UNO-Konvention von 1989, welche die Schweiz unterschrieben aber bisher nicht ratifiziert hatte, da vorerst grundlegende drogenpolitische Weichenstellungen (Volksabstimmungen, allfällige BetMG-Revision) abgewartet wurden. Sie verbietet explizit Anbau, Erwerb und Besitz von Drogen. Als Vorbedingung für den Beitritt zum Schengener Abkommen, welches auf diese UNO-Konvention verweist, drängte der Bundesrat nun auf eine Ratifizierung, allerdings mit dem Vorbehalt, dass die Schweiz Anbau, Erwerb und Besitz zum Eigenkonsum straffrei erklären kann. Der Nationalrat wies einen Antrag aus den Reihen der SVP, welche der Konvention vorbehaltlos zustimmen wollte, mit 90 zu 70 Stimmen zurück. Das Übereinkommen wurde klar angenommen
[31].
Die Stimmbevölkerung der
Stadt Zürich sprach sich Ende September mit rund 75% Ja sehr deutlich für die unbefristete Weiterführung der medizinisch indizierten Heroinabgabe aus
[32].
[27] Presse vom 14.1.04. Fachleute befassten sich Anfang Juni an einer nationalen Drogenkonferenz mit dem auch unter Jugendlichen zunehmenden Konsum von Kokain und sogenannten Designer-Drogen (Presse vom 4.6.04). Zur Möglichkeit eines Pilotversuchs mit der ärztlich kontrollierten Abgabe von Kokain siehe die Antwort des BR auf eine Ip. im NR (
AB NR, 2004, Beilagen IV, S. 374 ff.);
SoZ, 18.4.04. Für die Verwendung beschlagnahmter Drogengelder für die Suchtrehabilitation siehe oben, Teil I, 1b, Strafrecht.
[28]
AB SR, 2004, S. 17 ff.;
TA, 24.1.04; Presse vom 27.1. (Kommission) und 3.3.04 (Plenum); Siehe
SPJ 2003, S. 216 f.
[29]
AB NR, 2004, S. 1038 ff.;
NZZ, 2.4. (Kommission) und 9.6.04 (Fraktionen);
Bund, 28.5.04; Presse vom 15.6.04. Im Nachgang an das Scheitern der Revision wurde eine Reihe von parlamentarischen Vorstössen mit ganz verschiedener Stossrichtung eingereicht (Geschäfte 04.3376, 04.443, 04.439, 04.459, 04.3582). Die Kammern nahmen mehrere Petitionen mit unterschiedlichen Forderungen zur Kenntnis, ohne ihnen Folge zu geben. (
AB SR, 2004, S. 647 f.;
AB NR, 2004, S. 1738 f.).
[30]
BBl, 2004, S.
4223 ff.;
TA, 23.6.04;
NZZ, 25.6.04;
BZ, 7.7.04;
BaZ, 21.7.04.
[31]
AB NR, 2004, S. 1897 ff.
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