Année politique Suisse 2004 : Politique sociale / Assurances sociales
Allgemeine Fragen
Wie eine im Auftrag des Nationalfonds erstellte Studie zeigte, hilft der Sozialstaat in der Schweiz den Ärmsten im Lande ziemlich wirksam, insbesondere über die Sozialhilfe. Er bringt aber kaum eine Umverteilung der Einkommen von oben nach unten. Die
geringe Umverteilungswirkung der Sozialversicherungen führte die Studie darauf zurück, dass die einzelnen Sozialversicherungen gegensätzliche Effekte haben. So mindern die einen Sozialwerke wohl die Einkommensunterschiede, andere dagegen vergrössern sie. Unter dem Strich präsentiere sich die Schweiz damit nicht so sozial, wie viele meinen, kamen die Autoren zum Schluss. Vor allem die Finanzierung des Systems müsse als wenig sozial bezeichnet werden. Die AHV wirkt ausgleichend, weil sie von reich zu arm umverteilt, da die Bezüger hoher Einkommen mehr in den AHV-Topf einzahlen als sie als Pensionierte mit der Maximalrente erhalten. Ähnlich funktioniert auch die IV. Keinen Umverteilungsprozess gibt es hingegen in der beruflichen Vorsorge, da sie trotz Obligatorium einen privatrechtlichen Charakter hat. Wenig sozial ausgestaltet ist auch die obligatorische Krankenversicherung, die über einkommensunabhängige Prämien (Kopfprämien) finanziert wird; korrigiert wird dies allerdings durch die Prämienverbilligungen, die einen gezielten Umverteilungseffekt haben
[1].
Praktisch sang- und klanglos entsorgte der Nationalrat einen über 10- resp. fast 30-jährigen Ladenhüter. 1976 hatte der Bundesrat die
Europäische Sozialcharta unterzeichnet, eine Konvention des Europarats zur Harmonisierung der sozialen Grundrechte und zur Förderung des sozialstaatlichen Ausbaus. Ein erster Anlauf zu deren Ratifizierung war 1984 bzw. 1987 im Parlament gescheitert. Die SP-Fraktion hatte daraufhin 1991 eine entsprechende parlamentarische Initiative eingereicht, welcher 1993 mit einem Zufallsmehr Folge gegeben wurde. Die konkrete Umsetzung der Konvention, das heisst die Anpassung der schweizerischen Gesetzgebung dort, wo sie nicht mindestens fünf von sieben Kernpunkten der Charta entspricht, erwies sich dann allerdings als politisch nicht machbar. Auf bürgerlicher Seite stiess der Grundgedanke einer steten Weiterentwicklung der sozialen Sicherheit zunehmend auf Widerstand. Die Frist für die Weiterbehandlung der Initiative wurde viermal ergebnislos erstreckt. Die zuständige Kommission des Nationalrats ersuchte nun den Rat um eine neuerliche Verlängerung. Dagegen setzte sich jedoch mit 104 zu 84 Stimmen ein Minderheitsantrag Triponez (fdp, BE) durch, die Übung definitiv abzubrechen und die Initiative
abzuschreiben [2].
Der Ständerat nahm stillschweigend eine Motion des Nationalrats an, welche den Bundesrat auffordert, die rechtlichen Grundlagen anzupassen, damit
Abrechnungen mit den einzelnen Sozialversicherungen in einem einzigen Schritt und nach einheitlichem Muster abgewickelt werden können. Dadurch sollen vor allem kleinere Unternehmen entlastet werden
[3].
Die beiden Sozialwerke
AHV und
EO schlossen 2004 mit
positiven Betriebsergebnissen ab. Die AHV verzeichnete ein Plus von 1,964 Mia Fr., die EO ein solches von 406 Mio Fr. Die
IV lag hingegen mit 1,585 Mia Fr.
im Minus. Die AHV nahm 31 111 (2003: 30 498) Mia Fr. an Beiträgen und Regress ein, der Aufwand betrug 30 423 (29 981) Mia. Fr. Das Umlageergebnis verbesserte sich dank stärker angestiegener Erträge aus Mehrwert- und Spielbankensteuern. Bei der EO standen Beiträge von 818 Mio Fr. einem Aufwand von 550 Mio Fr. gegenüber; sie profitierte von der geringeren Anzahl Dienstleistender bei der Armee XXI und beim Bevölkerungsschutz. Bei der IV stiegen die Beiträge auf 9 511 (2003: 9 210) und der Aufwand auf 10 995 (10 588) Mia Fr. Der Fehlbetrag wuchs zudem um die Zahlung von 101 Mio Fr. Schuldzinsen an den AHV-Fonds. Die positiven AHV- und EO-Abschlüsse erklärte der Ausgleichsfonds mit Kapitalmarktgewinnen von 1 313 Mia Fr. (Performance 6,7%)
[4].
[1]
Lit. Künzi / Schärrer; Presse vom 19.5.04.
[2]
AB NR, 2004, S. 2178 ff.;
NZZ, 18.12.04. Siehe
SPJ 1993, S. 215.
[3]
AB SR, 2004, S. 138. Siehe
SPJ 2003, S. 222 f.
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