Année politique Suisse 2004 : Politique sociale / Assurances sociales
Invalidenversicherung
Ende April legte der Bundesrat die
Grundzüge der 5. IV-Revision fest. Ziel der Revision ist es, die laufend steigende Zahl von neuen IV-Rentenfällen als eine wesentliche Ursache der zunehmenden Defizite der IV nachhaltig anzugehen. Mittelfristig wird eine Senkung der Anzahl Neurenten um 10% angestrebt. Dazu sind zwei neue Instrumente vorgesehen. Einerseits ein System der
Früherkennung und Begleitung von krankheitsbedingt arbeitsunfähigen Personen mit dem Zweck, Betroffene rechtzeitig zu betreuen und im Erwerbsprozess zu halten. Wenn dagegen eine länger dauernde Arbeitsunfähigkeit von grösserem Ausmass droht oder wenn kein Arbeitsverhältnis mehr besteht, soll andererseits mit gezielten Massnahmen in einem möglichst frühen Stadium versucht werden, die Betroffenen wieder zu integrieren. Die Wirksamkeit dieser Vorkehrungen wird unterstützt durch die Konzentration der Kompetenz zur ärztlichen Beurteilung der Arbeits(un)fähigkeit bei der IV. Hinzu kommen Massnahmen zur Korrektur von Anreizen, die der Integration zuwiderlaufen. Auf der Einnahmenseite schlug der Bundesrat eine Erhöhung des IV-Beitragssatzes um ein Promille vor, was sich seiner Meinung nach als Kompensation einer namhaften Entlastung bei der 2. Säule rechtfertigt
[13].
Wenige Tage nach Ablehnung der MwSt-Vorlage zugunsten von AHV und IV in der Volksabstimmung (siehe oben) beauftragte der Bundesrat das EDI, parallel zur Vernehmlassung über die 5. IV-Revision eine weitere über eine
zusätzliche Finanzierung der IV durchzuführen. Dabei steht ab 2007 die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,8 Prozentpunkte im Vordergrund, und zwar allein für die IV und unter Verzicht auf den Bundesanteil. Dieser Teil der MwSt-Vorlage war im Vorfeld der Abstimmung unbestritten gewesen. Alternativ schlug der Bundesrat vor, den IV-Beitrag auf den Löhnen von derzeit 1,4 auf 2,1% zu erhöhen, was für Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Mehrbelastung von je 0,35 Prozentpunkten ergäbe. Bei der Präsentation der Vorlage machte Bundesrat Couchepin deutlich, dass ohne Massnahmen der gemeinsame Fonds von AHV und IV 2011 leer wäre; mit der 5. IV-Revision allein wäre dies 2012 der Fall. Man habe im Bundesrat auch eine Kürzung der IV-Renten diskutiert, führte Couchepin aus. Doch das entspreche nicht dem Volkswillen. Um die IV-Defizite zu decken, müssten die Renten laut Berechnungen um rund 10 bis 20% gesenkt werden
[14].
Ende September präsentierte der Bundesrat seinen Vernehmlassungsentwurf für die 5. IV-Revision, in welchem er die beiden Elemente koppelte. Neben dem bereits im April skizzierten Vorgehen mit Früherfassung und Reintegrationsbegleitung schlug er vor, die Lohnbeiträge um 1 Promille auf 1,5% zu erhöhen. Dies brächte Mehreinnahmen von 300 Mio Fr. pro Jahr. Die Arbeitgeber und Arbeitnehmer tröstete der Bundesrat mit der Aussicht, dass die Reduktion der Zahl neuer Renten bei der 2. Säule zu einer Entlastung von jährlich 450 Mio Fr. führen werde. Da dies aber noch nicht genügt, um den Schuldenberg der IV zu tilgen, verlangte der Bundesrat in einer separaten Vorlage noch andere Massnahmen. Als Varianten präsentierte er eine Erhöhung der Mehrwertsteuer bzw. der Lohnbeiträge um 0,8 Prozentpunkte, wobei er die Konsumsteuer favorisierte. Beide Lösungen brächten der IV in den Jahren 2007 bis 2025 im Schnitt rund 2,4 Mia Fr. Mehreinnahmen pro Jahr. Nach den Vorstellungen der Landesregierung sollen die 5. IV-Revision und die Zusatzfinanzierung Mitte 2006 oder Anfang 2007 in Kraft treten, das neue gestraffte Verfahren zur Beurteilung von Rentenansprüchen bereits Anfang 2006. Dazu gehört, dass die Beitragsdauer für einen Rentenanspruch von heute einem Jahr auf drei Jahre erhöht und der Karrierezuschlag gestrichen werden soll. Die Zahl der Einsprachen gegen Rentenentscheide will der Bundesrat mit der Wiedereinführung des so genannten Vorbescheidverfahrens (anstelle des im Sozialversicherungsbereich allgemein geltenden Einspracheverfahrens) eindämmen.
Die Vorschläge des Bundesrates stiessen bei den
bürgerlichen Parteien auf wenig Begeisterung. Am lautesten protestierte die SVP. Sie warf Couchepin vor, zu wenig konkrete Vorschläge vorzulegen. Eine Sanierung sei zwar dringend notwendig, doch dürfe diese nicht mit einer Erhöhung der Lohnprozente, höheren Mehrwertsteuern oder bloss kosmetischen Anpassungen erfolgen. Statt neue Abgaben zu fordern, solle der Bundesrat in erster Linie Missbräuche und die „Scheininvalidität“ bekämpfen. Vorbehalte zum Finanzierungsteil hatte auch die FDP. Die Neuauflage der 0,8%-igen MwSt-Erhöhung wurde so kurz nach der Ablehnung in der Volksabstimmung als wenig kreativ bezeichnet. Auf gar keinen Fall komme eine Anhebung der Lohnprozente in Frage. Gegen eine Erhöhung der Lohnprozente sprach sich auch die CVP aus; jene bei der MwSt genüge, um den Schuldenberg in der IV zu dämpfen. Die SP, die sich im Mai noch vehement für eine Anhebung der MwSt eingesetzt hatte, erachtete nun die Erhöhung der Lohnprozente als geeigneter
[15].
Viertelsrenten der IV müssen dem Empfänger auch nach einem Wegzug in ein EU-Land ausgerichtet werden. Laut Eidg. Versicherungsgericht unterliegen sie wie ausserordentliche AHV-Renten der Exportpflicht. Das IVG bestimmte bisher, dass Invalidenrenten, die einem Invaliditätsgrad von weniger als 50% entsprechen, nur an Versicherte ausgerichtet werden, die ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz haben. Die Luzerner Richter verwiesen in ihrem Grundsatzentscheid auf das Freizügigkeitsabkommen mit der EU, welches auf den 1. Juni 2002 in Kraft trat. Dieses verbietet eine Rentenkürzung, wenn sich ein Anspruchsberechtigter im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates niedergelassen hat
[16].
Die namentlich aus Kreisen der SVP immer wieder kolportierte Behauptung, die IV-Bezüger seien in erster Linie
Ausländer, vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien, welche ihren Wohnsitz in den meisten Fällen gar nicht mehr in der Schweiz hätten, wurde durch eine Übersicht des BSV deutlich widerlegt. Diese wies nach, dass bei Personen, die Beiträge an die IV geleistet haben, die Wahrscheinlichkeit, eine IV-Rente zu beziehen, für Schweizerinnen und Schweizer klar höher ist als für Ausländer, obwohl diese wesentlich häufiger in Branchen mit einem erhöhtem Invaliditätsrisiko arbeiten
[17].
[13]
TA, 20.4.04; Presse vom 29.4.04;
CHSS, 2004, S. 270-272. Da er im Rahmen der 5. IV-Revision ganz gezielt auf den Grundsatz „Wiedereingliederung vor Rente“ setzen will, unterstützte der BR eine Motion der SP-Fraktion, die eine vermehrte Ausrichtung von an Integrationsleistungen gekoppelten Taggeldern anstatt einer provisorischen Rente verlangt. Beide Kammern überwiesen die Motion stillschweigend, der NR nahm zudem ein SP-Postulat mit der gleichen Stossrichtung an (
AB NR, 2004, S. 1224 und 1225;
AB SR, 2004, S. 896). Ebenfalls im Einverständnis mit dem BR hiess der SR eine Motion seiner SGK für eine frühzeitige Invaliditätsvorbeugung sowie ein Postulat Ory (sp, NE) für eine flexible IV-Rente gut (
AB SR, 2004, S. 208). Zu den Forderungen der Bundesratsparteien nach einer raschen Einführung von Pilotprojekten zur Früherkennung siehe Presse vom 3.9.04.
[15] Presse vom 25.9.04;
NZZ, 4.11.04. Die SVP prellte wenige Tage nach der Eröffnung der Vernehmlassung mit eigenen Vorschlägen vor und lancierte erneut einen Angriff auf die angeblichen „Scheininvaliden“. Sie ortete dieses Problem vor allem bei den psychisch Kranken, die 40% der Neurentner ausmachen, sowie bei Personen mit Schleudertrauma und Rückenleiden (
SGT, 30.10.04). Eine im Rahmen des NFP 45 („Probleme des Sozialstaates Schweiz“) durchgeführte Studie fand wenig Anzeichen für die Behauptung, dass es sehr viele Missbräuche gebe (Presse vom 27.8.04).
[17]
Lit. Breitenmoser / Buri; Presse vom 16.1.04;
SGT, 19.1.04;
NZZ, 28.1.04. Siehe dazu auch eine Anfrage und eine Ip. im NR (
AB NR, 2004, Beilagen I, S. 155 ff. und 406 f.). Für kantonale Unterschiede in der IV vgl.
CHSS, 2004, S. 103-108. Zu den Gründen für den Anstieg der Zahl der IV-Renten siehe auch eine weitere Ip. im NR (
a.a.O., Beilagen I, S. 273 ff.).
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