Année politique Suisse 2004 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Ausländerpolitik
Das Bundesamt für Zuwanderung, Integration und Auswanderung (IMES) und das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) werden Anfang 2005 zusammengelegt. Der Bundesrat billigte Mitte Jahr entsprechende Pläne von EJPD-Vorsteher Blocher, der sich davon in erster Linie eine kohärentere Politik im Ausländerbereich und nur in zweiter Linie Einsparungen erhofft. Die Bundesratsparteien standen der Fusion zumindest wohlwollend gegenüber, doch stellte man sich auch die Frage, ob ein „Superamt“ mit über 1000 Mitarbeitenden noch effizient handeln könne. Neuer Leiter des Bundesamtes für Migration (BFM) wird der bisherige IMES-Chef Eduard Gnesa [1].
Die Volksinitiative der SD für eine „Begrenzung der Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten“ („Wanderungsbilanzinitiative“) scheiterte bereits im Unterschriftenstadium. Sie hatte erreichen wollen, dass die Zahl der in einem Jahr aus einem Nicht-EU-Land einwandernden Personen nicht höher sein darf als die Zahl der im Vorjahr definitiv ausgereisten [2].
Im Januar des Berichtsjahres erteilte der neue Vorsteher des EJPD, Bundesrat Blocher, den Auftrag, den Ist-Zustand im Bereich der illegalen Migration zu erheben sowie erste Massnahmen vorzuschlagen. Der Bericht wurde vom IMES, dem BFF, dem Bundesamt für Polizei sowie dem Grenzwachtkorps erstellt und Ende Juni publiziert. Ausgehend von der Schätzung, dass zwischen 30 000 und 50 000 Illegale in der Schweiz leben, wurden vier Bereiche als besonders problematisch erachtet, nämlich Kriminalität, Schwarzarbeit, Asylbereich sowie Vollzug im Inland und bei der internationalen Zusammenarbeit. Als Massnahmen wurden verstärkte Personenkontrollen an den Grenzen vorgeschlagen, eine Vereinheitlichung der kantonalen Praxis beim Vollzug des Asyl- und des Ausländergesetzes, Programme zur Kriminalitäts- und Gewaltbekämpfung als Schwerpunkt der Integrationsförderung des Bundes, Aufnahme biometrischer Daten in Reisedokumente, Verbesserung der polizeilichen Kriminalstatistik, verstärkte Terrorbekämpfung durch präventive Kontrollen und Überwachung sowie Vollzug von Strafen im Herkunftsland [3].
Nach dem Ständerat 2003 genehmigte auch der Nationalrat diskussionslos den Beitritt der Schweiz zum Zentrum der internationalen Migrationspolitik (International Center for Migration Policy Development, ICMPD), an dessen Gründung 1993 die Schweiz massgeblich beteiligt gewesen war. Das Zentrum entwickelt und fördert mit Hilfe seiner asyl- und migrationsspezifischen Sachkenntnis Langzeitstrategien in Migrationsfragen und stellt dazu einen wirkungsvollen Konsultationsmechanismus bereit. Des Weiteren bietet das ICMPD den europäischen Regierungen und Organisationen Dienstleistungen in den Bereichen Asyl und Migration an und setzt sich für die Bekämpfung der irregulären Migration ein. Zudem befasst es sich im Rahmen seiner Arbeit für den so genannten Stabilitätspakt und die Budapester Gruppe speziell mit der Migrationsproblematik in Mittel- und Südosteuropa mit dem Ziel, diverse Staaten dieser Region bei der Integration in die europäischen Strukturen zu unterstützen und damit zur verbesserten Steuerung unkontrollierter Migrationsbewegungen beizutragen [4].
An einer zweiten internationalen Konferenz der „Berner Initiative“, an der Vertreter von rund 120 Staaten teilnahmen, wurde im Dezember eine (explizit unverbindliche) Agenda für Migrationsmanagement erörtert. Aus dem 2001 vom BFF lancierten Konsultationsprozess ist eine Sammlung von Prinzipien („common understandings“) und praktischen Massnahmen („effective practices“) hervorgegangen, die zeigen sollen, wie die Aus- und Einwanderung zum Nutzen aller Beteiligten erleichtert und geregelt werden kann. Durch die Papiere der „Berner Initiative“ zieht sich der Grundgedanke, dass eine geordnete Migration nicht allein für die in ein anderes Land ziehenden Menschen, sondern auch für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Zielstaaten sowie für den kulturellen Austausch von Nutzen sein können [5].
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Ausländische Bevölkerung
Im Jahr 2004 ist die Zahl der dauerhaft in der Schweiz lebenden Ausländer (Asylsuchende, Kurzaufenthalter und internationale Funktionäre nicht mitgerechnet) nochmals um 1,6% auf total knapp 1,5 Millionen Personen angestiegen, was 20,2% der Gesamtbevölkerung entspricht (Vorjahr 20,1%). Rund 40% der Zunahme betrafen den Familiennachzug. Dieser Zuwachs ist zum grössten Teil auf eine Zuwanderung aus EU-Ländern zurückzuführen und eine Auswirkung der bilateralen Abkommen über den freien Personenverkehr mit der EU. Wahrend der Zuwachs bei den EU-Staatsangehörigen 2,4% betrug, belief er sich bei den anderen Nationalitäten lediglich auf 0,6%. Am stärksten zugenommen hat dabei erneut die Zahl der Deutschen und der Portugiesen; die Bevölkerungszahl von Staatsangehörigen aus Italien, Spanien, der Türkei und den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens war rückläufig, was dem Trend der letzten drei Jahre entspricht. Leicht zurück auf 36 957 (-0,3%) ging auch die Zahl der Einbürgerungen [6]
Auf den 1. Juni trat die zweite Stufe der Bilateralen I in Kraft. Ab diesem Zeitpunkt haben Schweizer Bürger freien Zugang zum EU-Arbeitsmarkt und gilt in der Schweiz kein Inländervorrang mehr. Aufgrund der bisher mit dem Freizügigkeitsabkommen gemachten Erfahrungen wurde mit keinem Massenzulauf ausländischer Arbeitskräfte gerechnet [7].
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Zulassung
In seiner Mai- und der Sommersession behandelte der Nationalrat als erster das neue Ausländergesetz (AuG), welches das aus dem Jahr 1931 stammende ANAG ersetzen soll. Es betrifft in erster Linie jene Ausländerinnen und Ausländer, die aus Staaten ausserhalb der EU und der EFTA stammen. Gemäss bundesrätlichem Vorschlag sollen sie für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nur noch zugelassen werden, wenn sie von der Wirtschaft dringend gebraucht werden und besonders qualifiziert sind (duales System). Für jene, welche die „Einstiegshürde“ überwunden haben, soll es im Gegenzug administrative Erleichterungen geben, so etwa beim Familiennachzug und beim Wechsel einer Arbeitsstelle. Die Verpflichtung zur Integration wird im Gesetz festgeschrieben. Strenger als bisher ahnden will das Gesetz Umgehungen und Missbräuche des Ausländerrechts etwa durch „Scheinehen“ oder kriminelle Aktivitäten [8].
In der Eintretensdebatte äusserten die Linke und die Rechtsbürgerlichen ihre allgemeine Unzufriedenheit mit dem neuen Gesetz, die in drei Anträgen auf Nichteintreten, drei Anträgen auf Rückweisung an den Bundesrat und zwei Anträgen auf Rückweisung an die Kommission zum Ausdruck kam. Die Linke verlangte eine neue Gesetzesvorlage mit gleichen Rechten für alle Ausländer. Für die Rechtsbürgerlichen war die Regelung des Familiennachzugs zu grosszügig und die Missbrauchsbekämpfung zu lasch angelegt. Da sich die CVP und die FDP einigermassen geschlossen hinter die Vorlage stellten, trat der Rat schliesslich mit 115 zu 51 Stimmen auf die Vorlage ein. Die Rückweisungsanträge wurden mit ähnlichem Stimmenmehr abgelehnt.
In der Detailberatung, für die rund 200 Minderheits- oder Einzelanträge vorlagen, verschärfte der Nationalrat das Gesetz, für das Bundesrat Blocher bereits im Vorfeld im Hinblick auf die Beratungen im Ständerat eine restriktivere Version ankündigt hatte, in verschiedenen Punkten. So sprach sich die grosse Kammer mit 92 zu 82 Stimmen für einen Artikel aus, der die Vorbereitungshaft, während der die Behörden über das weitere Vorgehen entscheiden, auf höchstens sechs statt drei Monate festsetzt. Des Weiteren nahm der Rat, wenn auch knapp, einen Antrag Müller (fdp, AG) an, der die Ausschaffungshaft nach Vorliegen eines vollstreckbaren Entscheides um 40 Tage verlängert.
Im Kapitel über die künftige Ausgestaltung der vorläufigen Aufnahme beschloss der Nationalrat, dem Antrag seiner Kommission zu folgen, die Beratung auszusetzen und die neuen Vorschläge des Bundesrates abzuwarten. Der Antrag der Linken, welche verlangte, dass vorläufig aufgenommene Personen nach vier Jahren Aufenthalt Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung haben, wurde abgelehnt. Hingegen wurde ganz knapp eine Sonderregelung für Sans-papiers beschlossen: Bewilligungsgesuche von Ausländern, die sich seit mehr als vier Jahren illegal in der Schweiz aufhalten, sollen vertieft geprüft werden. Dem dualen System stimmte der Rat mit 108 zu 65 Stimmen zu, erweiterte aber mit der Annahme des Antrags Bäumle (gp, ZH) den Kreis um jene Personen, die in der Schweiz ein Hochschulstudium abgeschlossen haben. Ebenfalls angenommen wurde mit 79 zu 75 Stimmen ein Antrag Schibli (svp, ZH), der verlangte, dass dem Bedarf an unqualifizierten Arbeitskräften in der Landwirtschaft, im Tourismus und in der Baubranche Rechnung getragen wird. Der Antrag der SVP, für Branchen mit starken saisonalen Schwankungen wieder ein 6-monatiges Saisonnierstatut einzuführen, wurde dagegen mit 98 zu 60 Stimmen verworfen. Auf Antrag seiner Kommission beschloss der Nationalrat, dass die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung an den Besuch eines Integrationskurses geknüpft werden kann, wobei die Integrationsprojekte gegen den Willen der SVP weiterhin durch den Bund finanziert werden.
Entgegen der Ratslinken, die diese Massnahme für fragwürdig hielt, nahm die grosse Kammer eine Bestimmung an, die von den Zivilstandsbehörden verlangt, keine Trauung vorzunehmen, wenn der Verdacht auf eine Scheinehe besteht. Solche Ehen sollen für ungültig erklärt werden. Überdies sollen an den Flughäfen schärfere Kontrollen durchgeführt werden. Fluggesellschaften, die Passagiere ohne Identitätspapiere transportieren, werden mit einer Busse von bis zu 5'000 Franken für jede beförderte Person bestraft. Auch Schlepper sollen härter angefasst werden. Auf Antrag der Mehrheit seiner Kommission und entgegen jenem von Bundesrat Christoph Blocher nahm der Nationalrat in die Vorlage auf, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, welche ihre Sorgfaltspflicht gegenüber ausländischen Mitarbeitenden mindestens zweimal verletzen, für ein bis fünf Jahre von der Vergabe von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden können.
Nach 30-stündigen Beratungen passierte das Gesetz mit 64 zu 48 Stimmen bei 55 Enthaltungen. Einzig die CVP- und die EVP-EDU-Fraktion stellten sich geschlossen hinter die Vorlage. Die FDP manifestierte ihre Unzufriedenheit mit Enthaltung. Die SP stimmte mehrheitlich zu, vordergründig, um die Verhandlungen nicht zu blockieren, nach Ansicht von Beobachtern wohl eher, um nicht mit einer neuen Version des Gesetzes eine weitere Verschärfung zu riskieren. Die Grünen lehnten das Gesetz einstimmig ab, die SVP mit grosser Mehrheit [9].
 
[1] LT, 21.2.04; TA, 28.2., 13.3. und 13.7.04; Presse vom 8.6.04 und 4.11.04. Jean-Daniel Gerber, seit 1997 Direktor des BFF, wechselte in der gleichen Eigenschaft an die Spitze des Seco (Presse vom 10.1.04); bis zum Amtsantritt Gnesas wurde das BFF vom bisherigen stellvertretenden Direktor, Urs Hadorn geleitet, der Ende Jahr in den Ruhestand trat (NZZ, 13.3.04).
[2] BBl, 2004, S. 5266.
[3] Presse vom 30.6.04.
[4] AB NR, 2004, S. 673 und 1237; AB SR, 2004, S. 438.
[5] NZZ, 15.12., 17.12. und 18.12.04. Siehe SPJ 2003, S. 245. Mitte Oktober fand das vom UNHCR und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, der Dachorganisation der im Asylbereich tätigen Organisationen, initiierte erste Berner Asylsymposium zwecks Diskussion des Flüchtlingsschutzes statt. Aus „Spargründen“ untersagte BR Blocher dem Kader des BFF, an der Tagung teilzunehmen (LT, 10.10.04; SGT, 12.10.04; NZZ, 14.10.04).
[6] Presse vom 8.3.05. Zur erleichterten Einbürgerung junger Ausländerinnen und Ausländer siehe oben, Teil I, 1b (Bürgerrecht und Stimmrecht).
[7] Presse vom 1.6.04. Im ersten Halbjahr seit Inkrafttreten der 2. Phase des Freizügigkeitsabkommens waren knapp 40 000 EU-Erwerbstätige für Kurzeinsätze in der Schweiz; seit Juni ist für maximal 90-tägige Einsätze keine Bewilligung mehr nötig, sondern lediglich eine Meldung (Presse vom 24.12.04). Für die Ausdehnung des Personenfreizügigkeitsabkommens auf die neuen EU-Mitglieder siehe oben, Teil I, 2 (Europe UE) und 7a (Kollektive Arbeitsbeziehungen).
[8] Siehe SPJ 2002, S. 234 f.
[9] AB NR, 2004, S. 633 ff., 648 ff., 673 ff., 708 ff., 739 ff., 1060 ff., 1112 ff. und 1134 ff.; Presse vom 3.5.-8.5., 16.6. und 17.6.04. Da das Anliegen einer pa.Iv. Hess (fdp, OW), welcher der SR 2001 in zwei Punkten (Verschärfung der Vorbereitungshaft und Bekämpfung der Scheinehen) Folge gegeben hatte, mit dieser Revision weitgehend erfüllt wurde, trat der NR auf die pa.Iv. nicht ein (AB NR, 2004, S. 1196). Siehe SPJ 2001, S. 200 f.