Année politique Suisse 2005 : Politique sociale / Assurances sociales / Krankenversicherung
Die SGK des Nationalrats beantragte dem Plenum, grundsätzlich dem Modell des Ständerates für eine
Prämienverbilligung für Familien mit niedrigem oder mittlerem Einkommen zu folgen (Halbierung der Prämien für Kinder und Jugendliche in Ausbildung), wobei es den Kantonen überlassen sein soll, die Einkommensgrenzen zu bestimmen. Der Rat hatte aufgrund eines Nichteintretensantrags Zisyadis (pda, VD) vorerst über das Eintreten auf die Vorlage zu entscheiden. Zisyadis kritisierte das vorgeschlagene Modell und wollte die Prämien für Kinder und Jugendliche gänzlich abschaffen. Der Rat beschloss mit 141 zu 3 Stimmen Eintreten. Erfolglos mit 137 zu 14 Stimmen blieb auch ein Antrag der grünen Fraktion, der die Kinderprämien ganz streichen und die Prämie für Jugendliche zwischen 18 bis 25 Jahren auf höchstens 50% der Erwachsenenprämie beschränken wollte. Zur
Finanzierung der zusätzlichen Prämienverbilligung beschritt die grosse Kammer einen anderen Weg als der Ständerat. Demnach sollten die Bundesbeiträge an die Kantone für 2006 um 80 Mio Fr. erhöht werden (auf 2,5 Mia Fr.) und dann jährlich dem Kostenanstieg der grundversicherten Leistungen angepasst werden. Die Vorlage wurde in der Gesamtabstimmung mit 124 zu 24 Stimmen angenommen. In der
Differenzbereinigung hielt der Ständerat ohne Opposition an seiner Haltung beim Finanzierungsbeschluss fest. Die Kommissionssprecherin erläuterte, dass mit dem Ständeratsmodell in den Jahren 2006 und 2007 mehr Bundesbeiträge bereitgestellt werden als mit dem Vorschlag des Nationalrates. Mit dem Inkrafttreten der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA), frühestens 2008, sei dann so oder so eine andere Lösung zu finden. Der Nationalrat schloss sich daraufhin diskussionslos dem Ständerat an
[32].
Zur Verlängerung des auslaufenden Zulassungsstopps für Ärzte, die über die obligatorische Krankenpflegeversicherung abrechnen können, siehe oben, Teil I, 7b (Medizinalpersonen).
Bei der Vorlage über die Spitalfinanzierung war das Ziel des Bundesrates, den dringlichen Bundesbeschluss von 2002 (Leistung des Sockelbeitrages durch die Kantone auch an Zusatzversicherte) in ordentliches Recht zu überführen und generell eine
dual-fixe Spitalfinanzierung vorzuschreiben, bei der Kantone und Krankenversicherung je die Hälfte der Betriebs- und Investitionskosten der auf der Spitalliste eines Kantons aufgelisteten Spitäler und Kliniken übernehmen. Der vorberatenden
Kommission des Ständerates ging dies zu wenig weit. Sie erarbeitete einen eigenen Vorschlag, der sich in wichtigen Punkten vom Entwurf des Bundesrates unterschied. Danach sollen alle Leistungen, ob ambulant oder stationär, ob in einem öffentlichen oder einem privaten Spital erbracht, nach dem gleichen Schlüssel finanziert werden: Grundsätzlich hätten die Krankenversicherungen 70% der Leistungen, die Kantone 30% zu bezahlen, wobei die Beiträge der Kantone via Krankenversicherungen an die Leistungserbringer flössen (
monistisches System). Wie beim Vorschlag des Bundesrates sollen künftig nicht mehr die Spitalkosten, sondern Leistungen (Fallpauschalen) bezahlt werden. Das von der Ständeratskommission ohne Gegenstimme vorgeschlagene Modell beanspruchte, kostenneutral zu sein und keine Prämienerhöhungen zur Folge zu haben
[33].
Die
Kantone wehrten sich mit Händen und Füssen sowohl gegen das Modell des Bundesrates als noch viel mehr gegen jenes der Ständeratskommission, bei dessen Annahme sie sogar mit dem Referendum drohten. Einzig der ohnehin für die kommenden Jahre geplante Übergang zur Abgeltung nach Fallpauschalen anstatt nach Einzelleistungen fand Gnade in ihren Augen. Gegen das dual-fixe Modell des Bundesrates traten sie an, weil es den dringlichen Bundesbeschluss zementiere, den die Kantone nie wirklich akzeptiert haben. Noch bedrohlicher erschien ihnen das monistische System, das sie im Namen der fiskalischen Äquivalenz bekämpften: Es sei nicht akzeptabel, dass Steuergelder ohne Steuerungs- und Kontrollmöglichkeit an gewinnorientiert arbeitende Leistungserbringer gezahlt würden. Aber auch der
Bundesrat sprach sich gegen das ständerätliche Modell aus: Es sei intransparent, ausserdem erhielten die Akteure keine weiteren Instrumente, um die Leistungen zu steuern und damit die Kosten einzudämmen
[34].
Im
Plenum des Ständerates war Eintreten unbestritten. Auch in der Diskussion war sich der Rat einig, dass die Finanzierung der Spitäler besser geregelt werden muss. Dabei wurden die Vorschläge der Kommission von den Ratsmitgliedern mehrheitlich gut aufgenommen. Es lagen jedoch drei Anträge auf
Rückweisung an die Kommission vor. Leuenberger (sp, SO) und Hess (fdp, OW) forderten, dass die Kommission mit den Kantonen eine tragfähige Lösung für die Spitalfinanzierung finden solle; Wicki (cvp, LU) verlangte lediglich eine geeignete Vernehmlassung bei den Kantonen zum Kommissionsvorschlag. Der Antrag Wicki obsiegte gegenüber den beiden anderen Anträgen. Die Rückweisung erfolgte schliesslich mit 36 zu 1 Stimmen
[35].
Nach einer Anhörung von Kantonsvertretern, bei der klar wurde, dass sie mit ihrem ursprünglichen Konzept definitiv auf Granit beissen würde, rückte die Ständeratskommission von ihrem Modell ab und wandte sich der Beratung eines
überarbeiteten Projekts des EDI zu. Das neue Konsensmodell enthält neben dem Verzicht auf den Einbezug der ambulanten Spitalbehandlungen die folgenden Elemente: leistungsbezogene Abgeltung durch Fallpauschalen, Planungspflicht der Kantone im Spitalbereich sowie Beitragspflicht der Kantone für alle Leistungen, die der Planung entsprechen. Mit einer Übergangsfrist soll den Kantonen Zeit für die Umstellung eingeräumt werden. Sie müssen die vollen Beiträge an sämtliche Leistungen der Grundversicherung in allen Spitälern, die der Planung entsprechen, erst bezahlen, wenn die Bemessungsstrukturen für die leistungsbezogenen Pauschalen (mit Einbezug der Investitionen) vorhanden sind. Angesichts der neuen Ausgangslage beschloss die Kommission, dem Plenum den neuen Entwurf nicht, wie ursprünglich geplant, in der Wintersession vorzulegen, sondern erst in der Frühjahrssession 2006
[36].
Als letztes Reformpaket der in Teilschritten vorgenommenen 2. KVG-Revision präsentierte der Bundesrat im Februar seine Vorschläge zur Finanzierung der Langzeitpflege, welche vor allem bei älteren Seniorinnen und Senioren zum Tragen kommt. Die Neuordnung der Pflegefinanzierung verfolgt zwei Reformziele, die sich teilweise widersprechen. Zum einen soll die schwierige finanzielle Situation von minderbemittelten Pflegebedürftigen entschärft werden, zum anderen geht es darum, die Krankenversicherungen nicht mit den Folgen der demographisch bedingten Explosion der Pflegekosten zu strapazieren. Langfristig dürfte das neue Finanzierungsmodell eine stärkere Belastung der privaten Haushalte und der kantonalen Ergänzungsleistungen bringen, andererseits aber eine Entlastung der Sozialhilfe zur Folge haben. Die Krankenversicherung soll deutlicher auf ihre eigentliche Kernaufgabe, die Vergütung medizinischer Leistungen, konzentriert werden; an die etwas „medizinfernere“ Grundpflege hätten die Krankenkassen bloss noch einen Pauschalbetrag auszurichten. Damit sollen die Kosten der Versicherer auf die etwa 1,4 Mia Fr. begrenzt werden, die sie heute über die noch bis Ende 2006 geltenden Rahmentarife für die Pflegeleistungen in Heimen sowie im Rahmen der Spitex aufwenden. Als sozialpolitische Kompensation dieser Mehrbelastung der Pflegebedürftigen schlug der Bundesrat neu die Einführung einer AHV-Hilflosenentschädigung bereits bei einer leichten Einschränkung der Selbständigkeit sowie einen erleichterten Zugang zu den Ergänzungsleistungen vor.
Die Vorschläge des Bundesrates
stiessen in den Kantonen weitgehend auf Ablehnung. Sie kritisierten die Unterscheidung zwischen Grund- und Behandlungspflege. Diese Trennung sei sinnlos und in der Praxis nicht umsetzbar. Sie sprachen sich für eine Unterscheidung in Akut- und Langzeitpflege aus. Zudem möchten sie zwischen der Pflege in Heimen und der Pflege zu Hause differenzieren. Die Krankenversicherungen sollen nach der Vorstellung der Kantone etwa die Hälfte der Kosten für die Pflege in Heimen übernehmen; der Rest würde von der öffentlichen Hand über die Ergänzungsleistungen sowie durch Eigenleistungen der besser situierten Versicherten getragen. Die Kosten für die Betreuung zu Hause (Spitex) müssten die Versicherer nach dem Willen der Kantone vollständig vergüten
[37].
[32]
AB NR, 2005, S. 118 ff., 287 f. und 471;
AB SR, 2005, S. 115 f. und 393. Siehe
SPJ 2004, S. 196 f. Mit einem überwiesenen Postulat beauftragte Rossini (sp, VS) den BR, so rasch wie möglich ein wissenschaftlich fundiertes Monitoring- und Evaluationsmodell einzuführen, mit dem sich beurteilen lässt, wie sich die Prämienverbilligung im Rahmen der sozialen Krankenversicherung für Versicherte mit bescheidenem Einkommen auswirkt (
AB NR, 2005, S. 1975). Die Kantone befürchteten, dass die vom Parlament bewilligten zusätzlichen 200 Mio Fr. nicht ausreichen könnten, um das Vorhaben zu finanzieren (
NZZ, 2.4.05). An ihrer Delegiertenversammlung sprach sich die CVP einmal mehr für Gratis-Kinderprämien aus (Presse vom 24.10.05).
[33] Presse vom 30.6.05. Siehe
SPJ 2002, S. 194 f. und
2004, S. 197. Im Vorjahr hatte der SR eine Motion Heberlein (fdp, ZH) für dringende Reformen im Gesundheitsbereich angenommen. Da die dort aufgeführten Punkte weitgehend in den Vorlagen zur KVG-Revision enthalten sind, lehnte der NR den Vorstoss ab; eine gleichlautende Motion der FDP-Fraktion wurde daraufhin zurückgezogen (
AB NR, 2005, S. 144 f.). Siehe
SPJ 2004, S. 193 (FN 33).
[34] Presse vom 31.5., 31.8. und 8.9.05.
[35]
AB SR, 2005, S. 679 ff.
[36] Presse vom 22.11. und 23.11.05. Bei den Von-Wattenwyl-Gesprächen verlangten alle Bundesratsparteien, das Parlament solle seine Gangart bei der KVG-Revision markant beschleunigen und nicht weiter Einzelprojekte in den Kommissionen blockieren (
NZZ, 12.11.05).
[37]
BBl, 2005, S.
2033 ff.; Presse vom 17.2. und 31.5.05.
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