Année politique Suisse 2006 : Politique sociale / Assurances sociales / Invalidenversicherung
Der Nationalrat behandelte als Erstrat die neue IV-Revision in seiner Frühjahrssession. Angesichts des von allen Rednern und Rednerinnen anerkannten Revisionsbedarfs bei der IV fand der Antrag Huguenin (pda, VD), nicht auf die Vorlage einzutreten oder sie an den Bundesrat zurückzuweisen, kein grosses Echo; mit 167 zu 3 Stimmen wurde Eintreten beschlossen. Während der Rat sich über die Reform im Grundsatz einig war, gingen die Meinungen in Bezug auf die Mittel beträchtlich auseinander. In den meisten Fällen nahm der Nationalrat an der Vorlage des Bundesrates aber nur geringfügige Änderungen vor.
Gleich zu Beginn der Detailberatung wurde auf Antrag der Kommission diskussionslos beschlossen, die Vorlage über die Zusatzfinanzierung abzuspalten und zu einem späteren Zeitpunkt zu behandeln. Bei den Bestimmungen über die Früherfassung einigte sich der Rat auf das Prinzip, die verschiedenen Akteure nicht zur Meldung zu verpflichten. Wie von der Kommissionsmehrheit empfohlen, strich der Rat mit 102 zu 76 Stimmen den Vorschlag des Bundesrates, wonach ein Arzt der IV beim behandelnden Arzt die notwendigen Auskünfte der versicherten Person ohne deren Einwilligung einholen kann.
Immer nach dem Prinzip, dass Eingliederung vor Rente kommen muss, distanzierte sich die grosse Kammer auf Antrag ihrer Kommission vom Entwurf des Bundesrates, wonach die medizinischen Massnahmen im Rahmen der beruflichen Eingliederung aus dem IV-Gesetz auszulagern seien. Mit dem Argument, das Fundament für eine erfolgreiche Integration ins Erwerbsleben werde schon im Kindes- und Jugendalter gelegt, votierte sie mit 106 zu 71 Stimmen, dass die IV weiterhin bis zum 20. Altersjahr des Versicherten dafür aufkommen muss. Bei der FDP-Fraktion war man sich in dieser Frage nicht einig, immerhin die Hälfte unterstützte den Vorschlag des Bundesrates.
Als vorrangiges Ziel für bereits im Arbeitsprozess stehende Personen wurde deren Verbleib im Betrieb postuliert. Intensive Debatten wurden dabei zur Frage der Verpflichtung der Arbeitgeber geführt. Ein Antrag aus der SP, wonach ein Unternehmen alles daran setzen muss, um den Arbeitsplatz neben dem Gesundheitszustand auch dem Alter oder den persönlichen Verhältnissen der versicherten Person anzupassen, wurde nach regen Diskussionen mit 110 zu 62 Stimmen abgelehnt. Generell gab der Rat bei der Förderung der Eingliederung finanziellen Anreizen den Vorzug gegenüber Zwangsmassnahmen. So führte er auf Antrag der Kommission eine Gewährung von Einarbeitungszuschüssen während 180 Tagen ein, bei welchen die IV zur Lohnergänzung weiterhin ihre Taggelder entrichtet und die Arbeitnehmerbeiträge an die Sozialversicherungen übernimmt; ein Antrag Robbiani (cvp, TI), der mit Unterstützung aus der SP und der GP verlangte, diese Einarbeitungshilfen seien auf ein Jahr auszudehnen, wurde mit 93 zu 71 Stimmen verworfen. Mit dem Argument, Quotenarbeitsplätze könnten kontraproduktive Auswirkungen haben, lehnte der Rat mit 109 zu 63 Stimmen auch einen Antrag aus dem links-grünen Lager ab, die privaten und öffentlichen Arbeitgeber mit mehr als 100 Mitarbeitenden zu verpflichten, in ihren Betrieben einen bestimmten Anteil behinderter Personen (mindestens 1%) zu beschäftigen; ebenso verwarf er jegliche Quotenverpflichtung (mindestens 4%) für den Bund als Arbeitgeber sowie für Unternehmen mit öffentlichem Auftrag. Eine Mehrheit der Kommission wollte in den Übergangsbestimmungen gleichwohl eine zwingende Bestimmung einführen für den Fall, dass vier Jahre nach Annahme der Revision die Invalidenquote immer noch über 4,5% liegen sollte, doch lehnte der Rat auch diesen Antrag mit 92 zu 78 Stimmen ab.
Lange wurde über die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug einer IV-Rente diskutiert. Der Bundesrat beantragte, dass der Anspruch erst entsteht, wenn sämtliche Eingliederungsmassnahmen und medizinischen Behandlungen sich als erfolglos erwiesen haben. Das links-grüne Lager bezeichnete die Bestimmung als eigentlichen Stolperstein des gesamten Entwurfs und kritisierte, damit würden Versicherte mit schwankenden Krankheitsverläufen wie etwa psychische Erkrankungen oder schubartig auftretenden wie etwa Multiple Sklerose in einem Schwebezustand gehalten und in andere Sozialversicherungsgefässe abgeschoben. Wenn aus medizinischen Gründen keine Eingliederungsmassnahmen möglich seien, würden die Betroffenen zwischen Stuhl und Bank fallen, da dann keine Taggelder der IV flössen und die meisten Arbeitnehmer nur über zeitlich beschränkte Lohnfortzahlungen und ein Teil auch über keine Taggeldversicherung verfügten. Die Mehrheit machte geltend, die Kommission habe bereits den rechtlich unklaren Begriff der „vermeintlichen“ Verbesserung der zukünftigen Erwerbsfähigkeit ausgemerzt. Es gehe hier aber um einen Paradigmenwechsel, im Vordergrund stehe nicht mehr der Nachweis von Defiziten, damit daraus eine Rente resultiert, sondern von Restmöglichkeiten, damit die Eingliederung möglichst optimal ist. Gegen die geschlossene Opposition von SP und GP sprach sich der Rat mit 110 zu 62 Stimmen für die Version der Kommission aus.
Ebenfalls hatte das links-grüne Lager keine Chance mit seinen Anträgen, den Zugang zu einer IV-Rente wie bisher nach bereits einem Jahr der Beitragszahlung anstatt wie neu vorgeschlagen erst nach drei Jahren zu gewähren und den so genannten Karrierezuschlag beizubehalten. Im Namen dieser Minderheit machte Teuscher (gp, BE) geltend, die Verlängerung der Beitragszeit führe nur zu minimalen Einsparungen (rund 1 Mio Fr. pro Jahr), erhöhe aber den administrativen Aufwand um rund 1,5 Mio Fr. Im Namen einer Minderheit II schlug Schenker (sp, BS) vor, den Karrierezuschlag, der ja nur die Lohnentwicklung vollziehe, die ein nicht behinderter Mensch im Lauf seines Erwerbslebens in den meisten Fällen erreiche, zwar aus Gründen der Einsparung nicht wie bis anhin jährlich, sondern nur stufenweise zu gewähren, wie dies auch die Eidg. AHV/IV-Kommission suggeriert habe. Die Vertreter der bürgerlichen Parteien bekämpften beide Anträge mit dem Argument, heute sei eben nicht mehr finanzierbar, was allenfalls wünschbar wäre; die überschuldete IV müsse dringend Abstriche bei den Leistungen machen. Die Verlängerung der Beitragszeit wurde mit 105 zu 65 Stimmen angenommen, die Aufhebung des Karrierezuschlags mit 110 zu 64.
In der Folge der Diskussionen ging es dann um eher nebensächliche Fragen. Eine von Wehrli (cvp, SZ) angeführte Minderheit beantragte, Rentenauszahlungen an
Personen im Ausland an die dortige Kaufkraft anzupassen. Entgegen dem Bundesrat und der Kommissionsmehrheit hiess der Nationalrat diese Bestimmung gut
[11].
Im Ständerat anerkannten die Vertreterinnen und Vertreter aller Parteien den Revisionsbedarf bei der Invalidenversicherung, wenn auch ebenfalls mit gewissen Vorbehalten in Bezug auf die Mittel. Insbesondere die Vertreter der SP bemängelten den ihrer Ansicht nach ungenügenden Einbezug der Arbeitgeber sowie den Aufschub der Zusatzfinanzierung. In dieser Frage zeigte sich die CVP gespalten. Stähelin (TG) erinnerte an das Scheitern der „Paketlösung“ in der Volksabstimmung 2004, weshalb er die Aufteilung begrüsste; Schwaller (FR) bedauerte sie und verlangte, dass die Zusatzfinanzierung umgehend an die Hand genommen werde. Eintreten wurde ohne Gegenstimme beschlossen.
In den grundsätzlichen Punkten der Revision wich die kleine Kammer kaum vom Nationalrat ab. So sprach sie sich mit 23 zu 11 Stimmen wie der Nationalrat für den Verzicht auf die Zusatzrenten für heutige oder künftige Ehegatten von IV-Empfängern aus und strich den Karrierezuschlag mit 21 zu 7 Stimmen. Vergeblich mahnte Ory (NE) als Vertreterin der SP, diese Massnahmen würden zu einer Verschiebung in die EL und damit zu einer Verlagerung der Kosten vom Bund auf die Kantone führen.
Der Ständerat schuf allerdings
einige Differenzen zum Erstrat. In einem von der Kommission beantragten neuen Artikel präzisiert er, dass der Arbeitgeber aktiv mit der IV-Stelle zusammenarbeiten und bei der Herbeiführung einer angemessenen Lösung mitwirken muss. Zudem stimmte er mit 20 zu 15 Stimmen einem Antrag von Vertretern und Vertreterinnen von SP und CVP zu, wonach die Versicherung dem Arbeitgeber, der einen in seiner Arbeitskraft eingeschränkten Arbeitnehmer weiterbeschäftigt, einen Beitrag leisten kann. Die Gegner dieser Bestimmung, darunter Bundesrat Couchepin, wiesen vergeblich auf die nachteiligen Folgen hin, die diese Regelung mit sich bringen könnte, nämlich hohe Kosten sowie die künstliche Erhaltung des Arbeitsplatzes anstatt die Integration mit entsprechenden Eingliederungsmassnahmen. Die Befürworter argumentierten demgegenüber, die Unterbringung von Invaliden in speziell dafür eingerichteten Werkstätten würde ebenfalls bedeutende Kosten verursachen und nur in den seltensten Fällen zu einer Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt führen. Die im Nationalrat ohne weitere Diskussion angenommene
Kapitalhilfe wurde diskussionslos gestrichen, da es nicht Aufgabe der IV sein könne, Risikokapital für die Gründung einer neuen Firma bereit zu stellen. Die vom Nationalrat angenommene Bestimmung über die Kaufkraftbereinigung von im Ausland ausbezahlten Renten lehnte der Ständerat ab mit der Begründung, dass diese Regelung nicht durchführbar sei
[12].
Der
Nationalrat hielt an einigen Differenzen fest. Mit 121 zu 57 Stimmen sprach er sich erneut für die vom Ständerat gestrichene
Kapitalhilfe aus und lehnte einen gegenteiligen Minderheitsantrag aus der SVP ab. Mit 96 zu 73 Stimmen gegen die Vertreter von SP und GP sowie von Teilen der CVP verwarf der Nationalrat die vom Ständerat eingeführte Bestimmung, wonach jenen Betrieben ein Beitrag entrichtet werden kann, die einen Angestellten weiterbeschäftigen, der seit mehreren Monaten in seiner Arbeitskraft eingeschränkt ist. Das links-grüne Lager wollte zum Schluss der Debatte mit einem
Ordnungsantrag Fehr (sp, SH) auf die
Finanzierungsfrage zurückkommen. Allerdings hatte das Ansinnen, die beiden Teile der Revision – Massnahmen zur Senkung der Anzahl der Neurenten und Sanierung durch eine Zusatzfinanzierung – gleichzeitig in Kraft zu setzen, keinen Erfolg: Der Rat lehnte es ab, die Abstimmung über den ersten Teil der Revision zu verschieben. Nach den Worten der Kommissionssprecher festigen die vorgeschlagenen Änderungen das Konzept der IV und richten deren Tätigkeit auf die Hauptziele aus. Es wäre deshalb unverantwortlich, auf die für die Früherfassung potenzieller Invaliditätsfälle und die berufliche Wiedereingliederung der Betroffenen äusserst wichtigen Massnahmen noch länger zu verzichten; die Revision müsse deshalb so rasch als möglich in Kraft gesetzt werden
[13].
In der Folge schloss sich der
Ständerat den meisten Beschlüssen des Nationalrats an, so nahm er die Kapitalhilfe wieder in die Vorlage auf. Bei der Bestimmung über die Beiträge an die Arbeitgeber näherte er sich dem Nationalrat an, indem er den Artikel in seinem Inhalt zwar wahrte, aber die Formulierung änderte und die Unterstützungsdauer befristete. Da die vorgesehene Hilfe nur im Rahmen von Wiedereingliederungsmassnahmen und auf diese Zeit befristet gewährt werden kann, erklärte der Bundesrat sich bereit, diese Massnahmen zu unterstützen. Dieser Variante stimmte auch der Nationalrat zu. Vor der Schlussabstimmung des Nationalrates sprach sich das links-grüne Lager erneut gegen einen Aufschub der Finanzierungsfrage aus; es bekräftigte seine ablehnende Haltung gegen ein Gesetz, das ein eigentliches Sozialabbauprogramm darstelle und verwarf die Vorlage einstimmig; die bürgerlichen Parteien stimmten ebenso geschlossen dafür. Die Revision passierte im Nationalrat mit 118 zu 63, im Ständerat mit 35 zu 7 Stimmen bei zwei Enthaltungen
[14].
Wegen der Aufhebung der Zusatzrente für Ehepartner und des Karrierezuschlags ergriffen mehrere kleinere Behindertenorganisationen, allen voran die Behinderten-Selbsthilfeorganisation „Zentrum für Selbstbestimmtes Leben“, das
Referendum gegen die Revision, die sie als Sozialabbau auf dem Buckel der Schwächsten bezeichneten. Ihnen schloss sich Agile, der Dachverband der Behinderten-Selbsthilfe an. Die grossen Organisationen, so etwa Pro Infirmis und die Dachorganisationenkonferenz der privaten Behindertenhilfe (DOK) werteten die Sanierung der Versicherung und die verstärkten Möglichkeiten zur beruflichen Eingliederung höher und sprachen sich gegen das Referendum aus. Relativ rasch sprang die Grüne Partei auf den Referendumszug auf. Die SP und die Gewerkschaften zeigten sich hingegen gespalten. Während sich der SGB trotz Kritik an der Revision ablehnend verhielt, unterstützten seine Dachorganisationen in den Kantonen Bern und Freiburg das Referendum. Gegen die SP Frauen und die Junge SP erklärte die SP-Parteileitung ihren Verzicht: Eine breit geführte Referendums- und Abstimmungskampagne würde nur die von der SVP lancierte Polemik über die „Scheininvaliden“ anheizen und der SP im Wahljahr eine sichere Abstimmungsniederlage bescheren. Die Parteileitung wurde jedoch von der Delegiertenversammlung überstimmt und musste das Referendum unterstützen
[15].
Lob mit Vorbehalten erhielt die 5. IV-Revision von der
OECD. Mit der vorgesehenen Früherfassung und den niederschwelligen Integrationsmassnahmen könne die Schweiz
Vorbildfunktion für andere Staaten übernehmen, sich so „vom Nachzügler zum Reformvorreiter“ entwickeln. Die Anreize insbesondere beim Krankheitsmanagement seien aber nicht ausreichend, um die Wiedereingliederung der IV-Bezüger tatsächlich zu verbessern. Die Krankentaggeldversicherer sollten zu einem Krankheitsmonitoring verpflichtet werden, um so die IV rechtzeitig über längere Absenzen zu informieren. Zudem sei die obligatorische Taggeldversicherung unbedingt auf alle Erwerbstätige auszudehnen; heute bleibt etwa ein Drittel davon ausgeschlossen. Die Arbeitgeber müssten ebenfalls zu einem strikten Absenzenmanagement und zur stärkeren Zusammenarbeit mit der IV verpflichtet werden; sie hätten „einen Teil der durch das Nichtangehen der Krankheitsproblematik verursachten Kosten“ zu tragen. Die berufliche Rehabilitation dürfe sich zudem nicht auf IV-Rentner beschränken, sondern müsse ausgeweitet werden, zum Beispiel auf Personen mit schlechter Gesundheit und niedrigem Einkommen. Insbesondere Frauen und Männer, deren Rentengesuch abgewiesen wird, immerhin 40%, seien auf dem Arbeitsmarkt stark gefährdet. Auch Personen mit psychischen Erkrankungen, die heute bei der beruflichen Rehabilitation benachteiligt sind, seien stärker zu fördern. Das wäre umso wichtiger, als psychisch Kranke 40% der Neurentner ausmachen – und oft jünger sind als 35 Jahre. Im Vergleich zu anderen Ländern ist nämlich die Zahl der jungen IV-Rentner in der Schweiz mit 12% ausserordentlich hoch. Abschliessend hielt der Bericht fest, ohne Zusatzfinanzierung könne die IV keinesfalls gesunden
[16].
[11]
AB NR, 2006, S. 317 ff., 339 ff., 376 ff., 397 ff. und 410 ff.
[12]
AB SR, 2006, S. 590 ff. Siehe auch „Die 5. IV-Revision vor der Differenzbereinigung“ in
CHSS, 2006, S. 208-212.
[13]
AB NR, 2006, S. 1172 ff. Da am ersten Tag der Session in Flims die elektronische Abstimmungsanlage noch nicht problemlos funktionierte, konnte der Präsident lediglich mitteilen, der Ordnungsantrag Fehr sei mit ca. 111:63 Stimmen abgelehnt worden.
[14]
AB NR, 2006, S. 1420 f. und 1601 f.;
AB SR, 2006, S. 714 f. und 922;
BBl, 2006, S. 8313 ff.
[15] Presse vom 4.10., 9.10., 10.10., 11.10., 23.10., 28.10., 3.11., 13.11., 14.11., 5.12. und 3.12.06.
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