Année politique Suisse 2006 : Politique sociale / Assurances sociales / Krankenversicherung
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KVG-Revision
Bei der Spitalfinanzierung hatte die Ständeratskommission im Vorjahr schliesslich auf ihr alternatives Modell, dem sich die Kantone mit allen Mitteln widersetzten, verzichtet und war auf eine von der Verwaltung ausgearbeitete Version des ursprünglichen Vorschlags des Bundesrates mit den folgenden Elementen eingeschwenkt: leistungsbezogene Abgeltung durch Fallpauschalen, in welche auch die Investitionskosten einbezogen sind, Planungspflicht der Kantone im Spitalbereich sowie Beitragspflicht der Kantone (in der Regel 60%, bei unterdurchschnittlicher Prämie mindestens 45%) für alle Leistungen, die der Planung entsprechen, wobei neben den öffentlichen auch die privaten Spitäler zu berücksichtigen sind und Zusatzversicherte ebenfalls den Kantonsbeitrag erhalten; Privatkliniken, die nicht auf der Spitalliste stehen, können mit den Versicherern Verträge abschliessen, erhalten jedoch keine Kantonsbeiträge. Stähelin (cvp, TG), Beirat der Groupe Mutuel-Versicherungen, beantragte, dem ursprünglichen Kommissionsentwurf zu folgen, der die Krankenversicherer weiter entlastet hätte, unterlag jedoch mit 21 zu 14 Stimmen. In der Gesamtabstimmung nahm die kleine Kammer mit 25 zu einer Stimme bei neun Enthaltungen das neue Modell an. Der zuständigen Kommission des Nationalrates gelang es nicht, die Vorlage noch im Berichtsjahr ins Plenum zu bringen.
Gleichzeitig ergänzte der Ständerat in einer von ihm hinzugefügten Vorlage 2 den Risikoausgleich unter den Versicherern durch das Kriterium des „erhöhten Krankheitsrisikos“, d.h. dass beim Risikoausgleich neben Alter und Geschlecht auch eine im Vorjahr erfolgte Hospitalisierung oder ein Aufenthalt im Pflegeheim zu berücksichtigen sind. Escher (cvp, VS) befürchtete, mit einer Ausweitung werde die Anspruchsmentalität der Versicherten gefördert, was zu einer weiteren Kostensteigerung führe; sein Nichteintretensantrag unterlag jedoch mit 24 zu 4 Stimmen. Die Kommissionssprecherin erläuterte, dass mit der Verfeinerung des Risikoausgleichs die praktizierte Risikoselektion der Kassen eingedämmt werden soll. Der geänderte Risikoausgleich wurde mit 23 zu 7 Stimmen angenommen [35].
Im Vorjahr hatte die Kommission des Ständerates ein Modell ausgearbeitet, das eine einheitliche Finanzierung aller in einem Spital erbrachten Leistungen vorsah, also auch den ambulanten Bereich, der in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat, mit einbeziehen wollte. Sie war damit aber am erbitterten Widerstand der Kantone gescheitert, da die ambulant erbrachten Leistungen vollumfänglich zu Lasten der Krankenversicherer abgerechnet werden. Die Kommission nahm den Gedanken mit einer Motion wieder auf, die den Bundesrat beauftragt, dem Parlament bis Ende 2008 eine Vorlage für eine einheitliche Finanzierung von Spital- und ambulanten Leistungen auf der Grundlage der ursprünglichen Vorlage der SGK vorzulegen. Dabei soll auch geprüft werden, ob und mit welchen Kompetenzen und Konsequenzen eine Zahl- oder Clearingstelle eingeführt werden soll. Der Bundesrat verwies auf die geringe Akzeptanz des Vorschlags und erachtete zudem den Zeitrahmen als zu eng gefasst, weshalb er Ablehnung des Vorstosses beantragte. Sommaruga (sp, BE) war mit der Stossrichtung der Motion grundsätzlich einverstanden, fand aber, man könne nicht eine Spitalfinanzierung beschliessen, die frühestens 2007 in Kraft treten könne, und gleichzeitig bereits signalisieren, dass man eigentlich ein ganz anderes Modell anvisiere, weshalb sie den Bundesrat unterstützte. Eine Mehrheit im Rat war aber der Ansicht, dass man bereits jetzt die Weichen für die Zukunft stellen müsse. Die Motion wurde mit 22 zu 15 Stimmen angenommen [36].
Die Kostensteigerungen und die mangelnde Kostentransparenz im Pflegebereich hatten 1998 dazu geführt, dass als Übergangslösung zeitlich befristete Rahmentarife für Pflegeleistungen eingeführt worden waren. Um diese Zwischenlösung durch eine definitive Regelung zu ersetzen, hatte der Bundesrat 2005 eine Neuordnung der Pflegefinanzierung vorgeschlagen. Demnach sollten medizinisch bedingte Leistungen vollumfänglich von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen werden; im Gegenzug sollten die Versicherer nur noch einen Beitrag an die Grundpflege zu leisten haben. Die dadurch längerfristig resultierende finanzielle Mehrbelastung der Pflegebedürftigen sollte durch einen erleichterten Zugang zur Hilflosenentschädigung der AHV und zu den EL kompensiert werden [37].
Gleich wie schon bei der Spitalfinanzierung erarbeitete die SGK-S auch hier eine alternative Lösung. Anstatt zwischen Grund- und Behandlungspflege zu unterscheiden, sollen die von der obligatorischen Grundversicherung zu vergütenden Pflegekosten vom Bundesrat bezeichnet und gestützt darauf nach Pflegebedarf abgestufte Frankenbeträge festgelegt werden. Insgesamt soll die Gesamtbelastung der Krankenversicherer von heute 1,4 Mia Fr. dadurch nicht verändert werden. Wie die Restbeträge finanziert werden, sollen die Kantone entscheiden. Zustimmung fand der Vorschlag des Bundesrates, bereits bei einer Hilflosigkeit leichten Grades eine Hilflosenentschädigung auszurichten sowie die Aufhebung des Höchstbetrages für den Bezug von EL im Fall der Pflegebedürftigkeit.
Im Plenum wurde in der Herbstsession weiter am Entwurf gefeilt. Eine Kommissionsmehrheit wollte die Freibeträge bei Einkommen und Liegenschaftswert für den Bezug von Ergänzungsleistungen erhöhen; die EL-Bezüger sollten ihr Vermögen nicht derart verzehren müssen, dass sie im Extremfall zu Sozialhilfebezügern werden und auch ihr Haus verkaufen müssen. Mit Rücksicht auf die Globalbilanz des NFA votierte eine Minderheit erfolgreich für ein Verbleiben bei den heutigen Ansätzen und setzte sich mit 24 zu 19 Stimmen durch. Mit einem Minderheitsantrag verlangte Leuenberger (sp, SO), den Beitrag der Versicherten gesetzlich auf höchstens 20% zu begrenzen. Forster (fdp, SG) erklärte namens der Kommissionsmehrheit, dass man nicht von Bundesseite her festlegen wolle, wer wie viel der Restkosten zu bezahlen habe; dies sei Sache der Kantone und Gemeinden. Mit 28 zu 10 Stimmen wurde der Antrag der Minderheit abgelehnt. In der Gesamtabstimmung hiess der Rat das Gesetz mit 28 zu 7 Stimmen bei 2 Enthaltungen gut [38].
Wegen der vielen Verzögerungen bei den Beratungen der KVG-Revision beschloss die SGK-S, das dringliche Bundesgesetz zum Einfrieren der Pflegetarife von 2004, welches Ende 2006 auslief, bis Ende 2008 zu verlängern und reichte eine entsprechende parlamentarische Initiative ein, welche vom Plenum in einem ersten Umgang oppositionslos, allerdings bei acht Enthaltungen, angenommen wurde. In der Kommission des Nationalrates entbrannte dann aber eine Diskussion darüber, ob die Verlängerung wie bis anhin oder mit einer Anpassung der Tarife an die mittlerweile gestiegenen Kosten vorgenommen werden soll. Die von der Mehrheit der Kommission beantragte Anpassung an die Teuerung setzte sich durch. Um im Pflegebereich einen vertragslosen Zustand ab Januar 2007 zu vermeiden, schloss sich der Ständerat an [39].
Als weiteres Teilpaket der Neuauflage der 2. KVG-Revision hatte der Bundesrat 2004 dem Parlament seine Botschaft zu Managed Care, also zu integrierten Versorgungsnetzen mit Budgetverantwortung vorgelegt, da sich gezeigt hat, dass eine medizinische Versorgung, die von der Diagnose bis zur letzten Therapie von einer Hand gesteuert wird, aus qualitativen und wirtschaftlichen Gründen Sinn macht. Die unter den beteiligten Parteien (Versicherer und Leistungserbringer) getroffenen Vereinbarungen sollen soweit möglich nicht gestützt auf gesetzliche Verpflichtungen, sondern auf der Basis von Freiwilligkeit und Wettbewerb zustande kommen. Im Rahmen dieser Revision schlug der Bundesrat ausserdem Massnahmen im Medikamentenbereich vor. Zur Eindämmung der Kosten soll der Leistungserbringer verpflichtet werden, sowohl bei der Verordnung eines bestimmten Arzneimittels wie auch bei der Abgabe eines Medikaments mittels Wirkstoffverschreibung ein preisgünstiges Produkt abzugeben [40].
Obgleich allgemein anerkannt wurde, dass integrierte Netzwerke zu Einsparungen bis 30% führen können, verpasste es der Ständerat, hier ein wirkliches Signal zu setzen. Insbesondere wurde darauf verzichtet, die Versicherer zu verpflichten, derartige Modelle (Hausarztmodelle oder HMO) anzubieten resp. die Leistungserbringer in die Budgetverantwortung einzubinden. Mit einer Reduktion des Selbstbehaltes wollte Sommaruga (sp, BE) einen Anreiz für die Versicherten schaffen, diesen Netzwerken beizutreten, unterlag jedoch mit 20 zu 16 Stimmen. Dagegen wehrten sich die Krankenkassenvertreter im Rat, insbesondere Brändli (svp, GR) und David (cvp, SG), weil dies für die Versicherer zu wenig rentabel sei. Mit 20 zu 14 Stimmen wurde auch ein Antrag Frick (cvp, SZ) abgelehnt, die mit Managed-Care erzielten Einsparungen den alternativ Versicherten gutzuschreiben. Die Kassen wurden zudem noch dadurch gestärkt, dass sie Netzwerke mit einer Mindestvertragsdauer von drei Jahren anbieten können. Damit soll sichergestellt werden, dass bis anhin gesunde Versicherte, welche diese wegen der Prämienreduktion besonders oft wählen, beim Auftreten einer schweren Krankheit im Folgejahr in die reguläre Versicherung mit freier Arztwahl wechseln. Der Medikamentenbereich wurde aus der Vorlage ausgekoppelt. Am Rande der Diskussionen schuf der Rat aber eine gesetzliche Grundlage für den Bundesrat, in zeitlich befristeten Pilotprojekten eine Kostenübernahme von KVG-Leistungen im preisgünstigeren grenznahen Ausland vorzusehen; dabei soll er mit den betreffenden ausländischen Staaten ein Gegenrecht anstreben [41].
 
[35] AB SR, 2006, S. 39 ff., 46 ff. und 70 ff. Siehe SPJ 2005, S. 198 f. Die Neuregelung der Spitalfinanzierung soll den seit 2002 geltenden dringlichen Bundesbeschluss über die Anpassung der kantonalen Beiträge für die innerkantonalen stationären Behandlungen ablösen, der ursprünglich bis Ende 2004 befristet gewesen war. Nach dem Scheitern der ersten Auflage der 2. KVG-Revision war er dann bis Ende 2006 verlängert worden (vgl. SPJ 2004, S. 193). Nun beantragte die SGK-S angesichts der weiteren Verzögerungen mit einer Pa.Iv. eine von beiden Kammern gutgeheissene erneute Verlängerung bis Ende 2007 (AB SR, 2006, S. 939 f. und 1267; AB NR, 2006, S. 1849 f. und 2047; AS, 2006, S. 5785).
[36] AB SR, 2006, S. 67 ff.
[37] Siehe SPJ 2005, S. 199 f.
[38] AB SR, 2006, S. 642 ff.
[39] BBl, 2006, S. 7555 ff. und 7563 ff. (BR); AB SR, 2006, S. 661, 1196 f. und 1267; AB NR, 2006, S. 1852 ff. und 2047; AS, 2006, S. 5767.
[40] SPJ 2004, S. 197.
[41] AB SR, 2006, S. 941 ff.