Année politique Suisse 2006 : Politique sociale / Groupes sociaux
Flüchtlingspolitik
Die
Zahl der Asylgesuche ist im Jahr 2006 im Vergleich zum Vorjahr
um rund 5% gestiegen. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 10 537 Asylgesuche gestellt, 4,7% mehr als im Jahr zuvor. Von 2004 auf 2005 war die Zahl der Gesuche noch um rund 30 Prozent zurückgegangen. Am meisten, nämlich 1225 Asylsuchende (2005: 1506) stammten aus Serbien (inkl. Kosovo). Markant zugenommen haben die Asylsuchenden aus Eritrea. Mit 1201 Gesuchen (2005: 159) lag das Land neu auf Rang zwei der am stärksten vertretenen Herkunftsländer. Laut BFM verlassen aufgrund der schwierigen Lage seit zwei Jahren viele Eritreer ihr Land. Im Dezember 2005 hatte die Asylrekurskommission (ARK) in einem Grundsatzentscheid festgehalten, dass Deserteuren und Dienstverweigerern aus Eritrea in der Regel Asyl zu gewähren ist – eine Änderung der Praxis, die grosse Auswirkung auf die Anzahl Gesuchsteller im vergangenen Jahr gehabt habe. Mit 816 Gesuchen (2005: 468) lag der Irak auf Rang drei. Dahinter folgten die Türkei mit 693 Gesuchen und die Volksrepublik China mit 475. Die grosse Zahl der chinesischen Asylsuchenden war laut BFM ebenfalls durch einen Entscheid der ARK beeinflusst: Diese war der Ansicht, dass Tibetern bei ihrer Rückkehr nach China die Hinrichtung drohe, weil sie das Land illegal verlassen hätten
[6].
Im April wurden die
Referenden gegen die
Revision des Asylgesetzes und gegen das neue
Ausländergesetz eingereicht. Diese waren von den Grünen, von Solidarité sans frontières und dem Forum für die Integration der Migrantinnen und Migranten lanciert worden und wurde auch von der SP und den Gewerkschaften unterstützt. Das Volk stimmte im Herbst über die beiden Gesetze ab
[7].
Inhaltlich ging es in den beiden Erlassen um eine
Verschärfung der Asyl- und Ausländerpolitik. Gemäss dem revidierten Asylgesetz wird auf Gesuche nicht mehr eingetreten, wenn die Asylsuchenden nicht innerhalb von 48 Stunden nach Einreichung des Gesuchs gültige Identitätspapiere vorlegen bzw. ihre Papierlosigkeit glaubhaft begründen können. Asylsuchende mit einem Nichteintretensentscheid erhalten anstelle der Sozial- nur noch Nothilfe. Verbessert wird die Rechtsstellung der vorläufig aufgenommenen Personen. Sie dürfen neu arbeiten und erhalten nach 3 Jahren das Recht auf Familiennachzug. Das neue Ausländergesetz sieht vor, dass Ausländerinnen und Ausländer von ausserhalb der EU und der EFTA nur noch bei besonderer beruflicher Qualifikation zum schweizerischen Arbeitsmarkt zugelassen werden. Zudem werden die Zwangsmassnahmen im Vollzug verschärft; abgewiesene Asylbewerber die das Land verlassen müssen und sich nicht kooperativ verhalten, können bis zu 18 Monaten in Beugehaft genommen werden
[8].
Im Abstimmungskampf dominierte klar die Debatte um das Asylgesetz. Die Gegner, neben den
Grünen und der SP auch Gewerkschaften, kirchliche Organisationen, Hilfswerke, Kulturschaffende sowie ein
bürgerliches Nein-Komitee, machten geltend, die Verschärfungen im Asyl- und Ausländerrecht bedeuteten einen Bruch mit der humanitären Tradition der Schweiz und verstiessen gegen das Völkerrecht. Sie kritisierten insbesondere die neue Bestimmung zu den Identitätspapieren und den Sozialhilfestopp. Das
Abstimmungsbüchlein des Bundesrates wurde als irreführend beanstandet. Vier Nationalräte aus dem bürgerlichen Nein-Komitee, Marty (fdp, TI), Ruey (lp, VD), Simoneschi (cvp, TI) und Zapfl (cvp, ZH) verlangten in einem Schreiben eine öffentliche Stellungnahme und eine inhaltliche Präzisierung der Landesregierung. Diese wies die Kritik zurück
[9].
Auf der Seite der Befürworter machten sich vor allem
die
SVP, die FDP und
die CVP für ein Ja zu den beiden Vorlagen stark. Allerdings führten die drei Bundesratsparteien getrennte Kampagnen und setzten eigene Akzente. Die FDP und die CVP distanzierten sich dabei von der aggressiven Rhetorik der SVP
[10].
Mit einem
Ja-Anteil von 67,8% (Asylgesetz) und 68% (Ausländergesetz) fiel das Verdikt des Volks deutlich aus. Kein einziger Kanton votierte gegen die beiden Vorlagen. Beim Asylgesetz war die Zustimmung mit 80,1% im Kanton Schwyz am deutlichsten, das Ausländergesetz fand mit 79,7% in Nidwalden den grössten Zuspruch. Am knappsten wurden die beiden Vorlagen mit 52,5% bzw. mit 51,3% im Kanton Genf angenommen. Zwei Hauptelemente prägten das Abstimmungsverhalten beim Asyl- und Ausländergesetz: Erstens differierten die Resultate kaum, die beiden Vorlagen wurden als ein Gesamtpaket gesehen. Zweitens fiel das Ja in der französischsprachigen Schweiz und in den Deutschschweizer Grossstädten knapper aus. Der Entscheid wurde vom UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge bedauert, besonders besorgt war es darüber, dass Asylsuchende künftig einen gültigen Pass vorlegen müssen
[11].
Asylgesetz
Abstimmung vom 24. September 2006
Beteiligung: 48,9%
Ja: 1 598 399 (67,8%)
Nein: 760 787 (32,2%)
Parolen:
– Ja: CVP (6*), FDP (1*), SVP, LP, SD, EDU, FPS, Lega; Economiesuisse, SGV, SBV.
– Nein: SP, EVP, CSP, PdA, GP; SGB, Travail.Suisse, ev. und kath. Landeskirchen, Hilfswerke, Schweizerische Flüchtlingshilfe.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Bundesgesetz über die Ausländer und Ausländerinnen
Abstimmung vom 24. September 2006
Beteiligung: 48,9%
Ja: 1 602 134 (68,0%)
Nein: 755 119 (32,0%)
Parolen:
– Ja: CVP (6*), FDP (1*), SVP, LP, SD, EDU, FPS, Lega; Economiesuisse, SGV, SBV.
– Nein: SP, EVP (1*), CSP, PdA, GP; SGB, Travail.Suisse, ev. und kath. Landeskirchen, Hilfswerke, Schweizerische Flüchtlingshilfe.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Gemäss den Ergebnissen der Vox-Analyse standen beim Abstimmungsentscheid zu den beiden Migrationsvorlagen die Einordnung auf der Links-Rechts-Achse und die Parteisympathie im Vordergrund. Allerdings wurden die Parolen der Bundesratsparteien unterschiedlich befolgt. Während zwischen 84% und 96% der FDP- und SVP-Anhängerschaft den Ja-Parolen ihrer Parteien folgte, stimmten nur 73% bzw. 75% der SP-Sympathisanten gegen die Vorlagen. Bei der Einordnung auf der Links-Rechts-Achse zeigte sich ein deutlicher Gegensatz zwischen Links und Mitte-Rechts. Diese Polarisierung war beim Asylgesetz etwas stärker als beim Ausländergesetz. Beim Asylgesetz – und etwas schwächer auch beim Ausländergesetz – wurde der Entscheid zudem durch die Haltung gegenüber Blocher, der die Vorlage als zuständiger Bundesrat vertreten hatte, beeinflusst. Bei den Befragten, die die Glaubwürdigkeit des Justizministers als hoch einschätzten, fiel die Zustimmung unabhängig von anderen untersuchten Merkmalen wie Parteisympathie, Einordnung auf der Links-Rechts-Achse und Einstellungen gegenüber der ausländischen Bevölkerung deutlich höher aus.
Als Motive für den Stimmentscheid standen bei den Befürwortern der beiden Vorlagen klar die
Gesetzesverschärfung und die Bekämpfung von Missbräuchen im Vordergrund. Wer die Vorlage ablehnte, tat dies vor allem weil ihm die Massnahmen zu weit gingen und er sie als
unmenschlich einschätzte
[12].
Bereits bevor das Volk dem neuen Asylgesetz zugestimmt hatte, einigten sich Bund und Kantone über die künftige
Nothilfepauschale für abgewiesene Asylbewerber. Der Bund richtet ab 2008 einen Betrag von 6000 Fr. pro abgewiesenen Asylbewerber aus. 4000 Fr. fliessen in die Kasse des betroffenen Kantons und 2000 Fr. in einen Ausgleichsfond. Davon profitieren unter anderem die Städte, bei denen aufgrund attraktiverer Strukturen für abgewiesene Asylbewerber höhere Kosten anfallen
[13].
Im November entschied der Bundesrat, den ersten Teil des revidierten
Asylgesetzes bereits im Januar 2007 in Kraft zu setzen. Zu den Neuerungen die im ersten Schritt umgesetzt werden, gehören die Verschärfung der Vorschrift über die Abgabe von Identitätspapieren und die Ausdehnung der Zwangsmassnahmen gegen Weggewiesene sowie die Härtefallregelung und die Verbesserungen für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge. Erst 2008 wird der Sozialhilfestopp für abgewiesene Asylsuchende in Kraft treten
[14].
Im Januar verabschiedete die Landesregierung die
Botschaft zum Zwangsanwendungsgesetz. Mit dieser Vorlage soll die Anwendung von Zwangsmassnahmen bei Rückführungen von Asylbewerbern und illegalen Ausländern für die ganze Schweiz einheitlich geregelt werden. Der Einsatz von Gewalt bei Ausschaffungen hatte in den letzten Jahren immer wieder zu Problemen und sogar zu zwei Todesfällen geführt. Gemäss dem Entwurf ist der Einsatz von Mitteln wie Integralhelme oder Mundknebel, die die Atemwege beeinträchtigen können, verboten, ebenfalls untersagt wird die Verabreichung von Medikamenten und der Gebrauch von elektrischen Destabilisierungsgeräten, so genannten Teasern. In der Vernehmlassung war insbesondere die Zulassung von Teasern umstritten gewesen. Die Gegner machten geltend, dass noch keine zuverlässigen Daten über die medizinischen Spätfolgen dieser Waffen existieren
[15].
Die Vorlage wurde vom
Ständerat in der Sommersession behandelt. Dabei scheiterten die Versuche der Ratslinken, die erlaubten Hilfsmittel einzuschränken. Sowohl das Anliegen, die zulässige Fesselung auf die Hände zu beschränken, als auch der Antrag, auf Diensthunde zu verzichten, wurden von der Ratsmehrheit abgelehnt. Ebenfalls verworfen wurde die Schaffung eines unabhängigen Kontrollorgans. In der Gesamtabstimmung hiess die kleine Kammer das Gesetz mit 22 Ja-Stimmen und 7 Enthaltungen gut
[16].
Der Bundesrat verabschiedete im Juni ein
Abkommen mit Österreich und Liechtenstein über den gegenseitigen Austausch von Daten im Asylwesen. Das Abkommen muss vom Parlament genehmigt werden. Die Landesregierung betonte, dass sich durch den internationalen Datenaustausch langwierige und kostspielige Abklärungen vermeiden liessen und die Schweiz dies über bilaterale Verträge regeln müsse, solange sie nicht Zugang zum Informationssystem habe, das den Mitgliedstaaten des Dublinabkommens zur Verfügung steht
[17].
Der Bundesrat reagierte auf den markanten Rückgang der Zahl neuer Asylgesuche in den beiden vorangegangenen Jahren und
reduzierte die Infrastruktur im Asylbereich. Statt wie bisher auf 20 000 ist sie nur noch auf 10 000 Gesuche ausgerichtet. Für den Fall, dass die Gesuchszahlen durch Krisen markant ansteigen sollten, wurde ein Notfallplan erarbeitet. Als weitere Massnahme wurde die Aufenthaltsdauer in den Empfangsstellen von 30 auf 60 Tage verdoppelt, dadurch kann ein Grossteil der Asylgesuche bereits dort behandelt werden. Die Entschädigung der Kantone für die Nothilfe an Asylbewerber auf deren Gesuche nicht eingetreten worden war, wurde unmittelbar von 600 Fr. auf 1800 Fr. erhöht. Mit dem Ziel, die freiwillige Rückkehr zu fördern und die Infrastruktur für Asylsuchende weiter zu entlasten wurden schliesslich die Programme zur Rückkehrhilfe ausgedehnt. Neu können auch Personen mit noch nicht rechtskräftigem Nichteintretensentscheid sowie solche, deren Ausreisefrist abgelaufen ist, profitieren
[18].
Im Juni unterzeichnete der Bundesrat ein
Rückübernahmeabkommen mit Algerien. Es ist die erste derartige Vereinbarung mit einem Maghrebstaat. Das Abkommen muss noch vom Parlament genehmigt werden
[19].
Im Berichtsjahr anerkannte die Asylrekurskommission (ARK) in zwei Grundsatzurteilen die
nicht-staatliche Verfolgung als Asylgrund. Das erste Urteil betraf einen Somalier, der in seiner Heimat unter gezielter ethnischer Verfolgung gelitten hatte, und das zweite eine Äthiopierin, die vor einer Zwangsheirat geflüchtet war. In beiden Fällen ging die Verfolgung nicht von einer staatlichen Instanz aus, und daher hatte das Bundesamt für Migration die Asylgesuche in Übereinstimmung mit der bisherigen schweizerischen Praxis abgelehnt. Indem die ARK die beiden Rekurse guthiess und den Betroffenen Asyl gewährte, stellte sie die Schutztheorie in den Vordergrund. Gemäss dieser ist nicht massgeblich, ob die Verfolgung dem Staat zugerechnet werden kann, sondern ob das Opfer vom Staat Schutz erhält oder nicht. Damit passte die Schweiz ihre Praxis den internationalen Standards an und bekannte sich wie die meisten europäischen Länder zu dieser grosszügigeren Auslegung der Flüchtlingskonvention
[20].
In einem weiteren Grundsatzurteil der Asylrekurskommission (ARK) wurde festgehalten, dass Flüchtlinge unter gewissen Umständen in der Schweiz
auch dann noch ein Asylgesuch stellen können, wenn sie in einem EU-Staat bereits erfolglos um Asyl ersucht haben. Gemäss Art. 32 des schweizerischen Asylgesetzes ist auf ein Gesuch nicht einzutreten, wenn ein Gesuchsteller in einem EU-Land bereits einen ablehnenden Entscheid erhalten hat. Damit sollen unbegründete Gesuche verhindert werden. Gemäss der ARK schliesst dieser Artikel allerdings nicht aus, dass auf ein Asylgesuch dennoch eingetreten wird, wenn trotz des ausländischen Entscheids die Vermutung besteht, dass die Person ein Flüchtling sein könnte
[21].
Auf Asylgesuche aus Benin, Kroatien, Mali, Moldawien (ohne Transnistrien), Montenegro und der Ukraine wird künftig nicht mehr eingetreten. Der Bundesrat setzte diese Länder Ende Jahr auf die Liste der verfolgungssicheren Staaten. Bis anhin galten Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Gambia, Ghana, Indien, Mazedonien, die Mongolei, Rumänien, Senegal sowie alle EU- und EFTA-Staaten als so genannte
Safe Countries. Auf Asylgesuche oder Beschwerden von Personen aus diesen wird nur eingetreten, falls Hinweise auf eine Verfolgung vorliegen. Massgebliche Kriterien für die Bezeichnung eines Staates als verfolgungssicher sind die Einhaltung der Menschenrechte sowie die Anwendung internationaler Menschenrechts- und Flüchtlingskonventionen. Neu können jedoch Regionen innerhalb eines Safe Country als nicht verfolgungssicher erklärt werden
[22].
Zur Debatte um die „Albisgüetlirede“ von Justizminister Blocher siehe oben, Teil 1, 1c (Regierung).
[7]
BBl, 2006, S. 4075 f. (Ausländergesetz) und S. 4077 f. (Asylgesetz);
TA, 30.3.06;
LT, 31.3.06. Vgl. auch
SPJ 2005, S. 203 f.
[9]
SGT und
NZZ, 7.4.06; Vgl. zur Kritik am Abstimmungsbüchlein des Bundesrats
SoZ, 27.8.06,
NZZ, 28.8. und 8.9.06;
Lib. 7.9.06.
[10]
BaZ, 27.6.06;
Bund, 5.7.06;
NZZ, 5.7. und 28.7.06. Zur Abstimmungskampagne siehe Presse vom 29.4.-23.9.06.
[11]
BBl, 2006, S. 9455 ff.; Presse vom 25.9.06.
[12] Milic, Thomas / Scheuss, Urs,
Vox – Analyse der eidgenössischen Volksabstimmung vom 24. Sept. 2006, Bern und Zürich (IPW und gfs-Bern) 2006.
[14]
Bund und
LT, 9.11.06;
NZZ, 27.12.06.
[16]
AB SR, 2006, S. 383 ff.
[17]
LT und
NZZ, 13.6.06.
[18]
AZ, NZZ und
TA, 2.3.06. Vgl
. SPJ 2004, S. 205 und
2005, S. 205.
[19]
BBl 2006, S. 7797 ff.
[20]
BaZ und
NZZ, 16.6.06 (Urteil gegen den Somalier);
Bund und
NZZ, 27.10.06 (Urteil gegen die Äthiopierin).
[21]
Bund,
LT und
NZZ, 17.11.07.
[22] Presse vom 8.12.06. Mit einer abgewiesenen Motion versuchte NR Müller-Hemmi (sp, ZH) zu erreichen, Bosnien-Herzegowina wieder von der Liste der safe countries zu streichen, da es auch nach Ansicht des UNHCR nach wie vor nicht verfolgungssicher sei (
AB NR, 2006, S. 241 ff.).
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