Année politique Suisse 2007 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires / Gerichte
Der im Sommer 2006 erfolgte
Rücktritt von Bundesanwalt Valentin Roschacher hatte die GPK des Nationalrats veranlasst, eine Untersuchung über die Umstände dieser Demission durchzuführen. Der am 5. September des Berichtsjahres präsentierte Bericht stellte fest, dass Bundesrat Blocher bei der Auflösung des Arbeitsverhältnisses seine Kompetenzen überschritten habe, namentlich was die Ausrichtung einer Abgangsentschädigung betreffe. Indem er sich mit einem Vertreter des Bundesstrafgerichts, das die fachliche Aufsicht über den Bundesanwalt ausübt, über die Durchführung einer Überprüfung von Roschachers Amtstätigkeit abgesprochen habe, habe er überdies die Gewaltentrennung nicht beachtet. Und drittens habe Blocher unzulässig in die Kompetenzen des Bundesanwalts eingegriffen, als er ihm in einem Fall die Durchführung einer Medienkonferenz untersagte. Viel mehr Aufsehen als diese Vorwürfe erregten aber die Äusserungen von Lucrezia Meier-Schatz (cvp, SG), Präsidentin einer von der GPK gebildeten Subkommission. Sie stellte Dokumente vor, die beweisen sollten, dass der Abgang von Roschacher von langer Hand geplant gewesen sei. Neben einem Bankier namens Oskar Holenweger, gegen den die Bundesanwaltschaft ermittelte, seien daran Journalisten und Politiker und eventuell sogar Bundesrat Blocher selbst beteiligt gewesen. Die Subkommission schloss dies aus Notizen und der Skizze eines Terminplans, welche bei Holenweger von der Polizei beschlagnahmt worden waren, und die den zeitlichen Ablauf der Untersuchungen, politischen Interventionen, Medienenartikel und Massnahmen gegen den Bundesanwalt enthielten. Gemäss Holenweger handelte es sich dabei allerdings nicht um einen im voraus erstellten Aktionsplan, sondern um private Aufzeichnungen, deren Einträge er als persönliche Gedächtnisstütze jeweils nach den Ereignissen gemacht habe
[39].
Die SVP bezeichnete diesen GPK-Subkommissions-Bericht als „
Putschversuch gegen Bundesrat Blocher“ (so lautete der Titel der dazu im Nationalrat eingereichten Interpellation). Die Originale der von der GPK-Subkommission als kompromittierend beurteilten Dokumente hatte sich die SVP bei Holenweger beschafft, veröffentlicht und als irrelevant bezeichnet. Die SVP integrierte ihren Protest sofort in ihre kurz vorher gestartete, auf Bundesrat Blocher zentrierte neue Inseratekampagne zu den Nationalratswahlen
[40].
Am 19. September reichten die Fraktionen der SVP, der SP und der GP im
Nationalrat Dringliche Interpellationen dazu ein, mit der Absicht, die
Diskussion über diese Affäre noch in der laufenden Herbstsession, das heisst vor den Nationalratswahlen durchführen zu können. Das Ratsbüro, die CVP und die FDP lehnten die Dringlichkeit dieser Vorstösse ab, und unterstellten der Linken und der SVP, diese Debatte für Wahlkampfzwecke instrumentalisieren zu wollen. Sie konnten sich aber nicht durchsetzen. Die Diskussion fand am 3. Oktober statt und wurde
direkt vom Fernsehen übertragen. An der neunzig Minuten dauernden Debatte nahmen von Seiten des Bundesrates der direkt involvierte Justizminister Blocher und Bundespräsidentin Calmy-Rey teil. Bundesrat Blocher bezog in einem sehr ausführlichen Votum zu den Vorwürfen der GPK Stellung und rechtfertigte sich für das, was die GPK als Verstösse gegen die Gewaltenteilung und die Kompetenzordnung gerügt hatte. Die Diskussion im Plenum wurde wie erwartet voll in den Dienst des Wahlkampfs gestellt. So stellte die CVP kleine Plakate mit ihren Wahlkampfslogans auf ihre Pulte und SVP-Präsident Maurer (ZH) schloss seine Rede mit einem direkten Aufruf an das Fernsehpublikum, die SVP zu wählen. Als Replik darauf befasste sich SP-Präsident Fehr (SH) in seiner Rede statt mit dem GPK-Bericht mit allen bisherigen „Fehlleistungen“ von Bundesrat Blocher und rief das Parlament auf, ihn als Sanktion im nächsten Dezember nicht wieder zu wählen
[41].
Der
Bundesrat nahm Ende November Stellung zu den Vorwürfen der GPK (nicht aber zu den Verdächtigungen der Subkommission) und stellte sich hinter den Justizminister. Er stützte sich dabei nur teilweise auf das von ihm eingeholte Rechtsgutachten eines aussenstehenden Experten, der einige, allerdings nicht gravierende Kompetenzüberschreitungen Blochers moniert hatte
[42].
Kurz nach der Publikation des Berichts der GPK-NR über den Abgang von Roschacher gab der Bundesrat einen neuen Vorschlag zur Reorganisation der
Aufsicht über die Bundesanwaltschaft in die Vernehmlassung. Er schlug darin vor, wieder zum Zustand der bis zum Jahr 2002 geherrscht hatte, zurück zu kehren und den Bundesrat zum alleinigen Aufsichtsorgan über die Bundesanwaltschaft zu machen. Er vertrat dabei die Auffassung, dass sich die Aufteilung der Aufsicht zwischen dem Bundesstrafgericht für fachliche und dem EJPD für administrative Belange nicht bewährt habe. Er rückte aber auch von seinem 2005 in die Vernehmlassung gegebenen Vorhaben ab, die Kontrolle vollständig dem EJPD zu übertragen. Wie bereits damals sprach sich auch jetzt eine Mehrheit der Parteien gegen die Absicht des Bundesrates aus und wünschte eine von der Exekutive unabhängige Stellung der Bundesanwaltschaft. Diese Unabhängigkeit könnte beispielsweise durch die Unterstellung unter einen Justizrat, der sich aus Personen aus dem Parlament, der Justiz und der Verwaltung zusammensetzt, garantiert werden
[43].
Anfang Juni hatte der Bundesrat den bisherigen ersten Staatsanwalt des Kantons St. Gallen,
Erwin Beyeler, zum Nachfolger Roschachers als Bundesanwalt gewählt
[44].
[39] Presse vom 6.9. und 7.9.07;
BaZ, 12.9.07 (Holenweger). Vgl.
SPJ 2006, S. 37.
[40]
Blick und
TA, 4.9. und 5.9.07; Presse vom 6.9., 7.9., 12.9. und 9.11.07. Siehe auch oben (Regierung) und unten, Teil I, 1e (Wahlkampagne).
[41] Dringlichkeitserklärung:
AB NR, 2007, S. 1385 ff. Debatte:
AB NR, 2007, S. 1594 ff.; Presse vom 4.10.07. Zur Position der CVP siehe
Bund, 4.10.07.
[42]
TA, 26.11.07; Presse vom 30.11.07.
[43] Presse vom 22.9. und 24.12.07. Vgl.
SPJ 2005, S. 36 ff. und
2006, S. 37.
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