Année politique Suisse 2008 : Eléments du système politique / Droits, ordre public et juridique / Strafrecht
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Sexuelle Straftaten an Kindern
Das Parlament stimmte dem Vorschlag des Bundesrats zu, der Volksinitiative „für die Unverjährbarkeit von pornografischen Straftaten an Kindern“ einen indirekten Gegenvorschlag entgegen zu stellen. Dieser bestimmt, dass bei schweren Sexualtaten an Kindern die 15 Jahre dauernde Verjährungsfrist nicht ab der Tat, sondern erst ab der Volljährigkeit des Opfers zu laufen beginnt.
Beide Ratskammern empfahlen die Volksinitiative zur Ablehnung. Sie zeigten zwar Verständnis für das Anliegen, betrachteten aber den Initiativtext aus den gleichen Gründen wie der Bundesrat als ungeeignet. Er sei nicht nur unpräzise was den Tatbestand und den Kreis der Betroffenen angehe (pornographische Straftaten begangen an Kindern vor der Pubertät), sondern überfordere auch die Justiz, wenn sie mehrere Jahrzehnte nach einer Straftat noch Ermittlungen durchführen soll. Im Nationalrat unterstützten alle Fraktionen den indirekten Gegenvorschlag. Da aber ein Antrag der SVP, den Beginn der Laufzeit der Verjährungsfrist nicht auf das 18., sondern auf das 25. Altersjahr zu verschieben, mit 109 zu 58 Stimmen abgelehnt wurde, stimmten eine Mehrheit der SVP und eine Minderheit der CVP in der Gesamtabstimmung auch für die Volksinitiative. In der Schlussabstimmung in der Sommersession schloss sich dann doch eine deutliche Mehrheit der SVP-Fraktion der Ablehnungsempfehlung an (42 zu 15 bei einer Enthaltung). Im Ständerat fielen die Entscheide gegen die Volksinitiative und für den Gegenvorschlag einstimmig aus.
In der Debatte über die Volksinitiative und den Gegenvorschlag befasste sich der Nationalrat auch mit drei im Jahre 2004 eingereichten parlamentarischen Initiativen, welche das Ziel verfolgten, Kinder besser vor Übergriffen durch Pädophile zu schützen. Chiara Simoneschi-Cortesi (cvp, TI) verlangte, dass Personen, die mit Kindern arbeiten, bei ihrer Anstellung einen Strafregisterauszug vorlegen müssen. Oskar Freysinger (svp, VS) forderte, dass Verurteilungen wegen Pädokriminalität nie aus dem Strafregister gelöscht werden. CVP-Präsident Darbellay (VS) beantragte in seinem Vorstoss für Personen, die mit unter 16jährigen sexuelle Handlungen begangen haben, ein mindestens zehnjähriges Verbot von beruflichen und ausserberuflichen Aktivitäten mit regelmässigem Kontakt zu Kindern. Die CVP unterstützte alle drei Initiativen, da es trotz allen juristischen Einwänden darum gehe, hier ein Zeichen zugunsten des Schutzes der Kinder zu setzen. Die SVP stellte sich aus denselben Gründen hinter die Anträge von Simoneschi-Cortesi und Freysinger. Die FDP, die SP und die GP anerkannten zwar, dass im Bereich der Prävention der Pädokriminalität ein Handlungsbedarf bestehe, lehnten jedoch alle drei Vorstösse wegen ihrer juristischen Mängel ab. Der Nationalrat entschied sich knapp für die Initiativen von Simoneschi-Cortesi und Darbellay, die von deutlichen Mehrheiten der SVP und der CVP und jeweils kleinen Minderheiten der SP, der FDP und der GP unterstützt wurden. Der Ständerat gab ihnen hingegen keine Folge. Die grosse Kammer überwies in der Herbstsession oppositionslos auch noch eine Motion Sommaruga (sp, GE), welche diese Forderungen zum Schutz von Kindern vor rückfallgefährdeten Sexualtätern in allgemeiner Form aufnimmt, die Ausarbeitung der konkreten Massnahmen und strafrechtlichen Bestimmungen aber der Regierung überlässt [39].
Die Volksabstimmung über die Volksinitiative fand am 30. November statt und endete mit einem knappen Sieg der Initiantinnen. Die Kampagne war praktisch inexistent gewesen. In den Medien erklärten zwar Politiker und Juristen die Unzulänglichkeiten des Volksbegehrens. Befürworter, die ihre Argumente vortrugen, liessen sich aber kaum finden. Inserate und Plakate waren fast keine auszumachen. Etwas intensiver verlief die Diskussion in der Westschweiz, wo die Initiantinnen und ihre 2001 nach belgischem Vorbild gegründete Organisation „Marche blanche“ und deren Präsidentin Christine Bussat zu Hause sind, und wo sie am Fernsehen auftraten. Von den Parteien stellten sich nur die SVP und die kleinen Rechtsparteien EDU, Lega und SD hinter das Volksbegehren, ohne aber dafür viel Werbung zu machen [40].
VI „für die Unverjährbarkeit von pornografischen Straftaten an Kindern“
Abstimmung vom 30. November 2008

Beteiligung: 47,5%
Ja: 1 206 323 (51,9%) / 16 4/2 Stände
Nein: 1 119 119 (48,1%) / 4 2/2 Stände

Parolen:
Ja: SVP (3)*, EDU, SD, Lega.
Nein: FDP (2)*, CVP (2)*, SP, GP, BDP, GLP, EVP, LP, CSP, PdA, FPS.

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Ähnlich wie 2004 bei der Volksinitiative für die lebenslängliche Verwahrung von Sexual- und Gewalttätern gab es wieder eine Überraschung: Das Volk stimmte der Initiative mit 1 206 323 Ja gegen 1 119 119 Nein zu, und bei den Ständen waren die Befürworter mit 16 4/2 Ja gegen 4 2/2 Nein in der Mehrheit. Die Beteiligung lag mit 47,5% leicht über dem Mittel. Abgelehnt hatten einzig die Westschweizer Kantone Genf, Waadt, Neuenburg und Bern, sowie Obwalden und Appenzell Innerrhoden. Am deutlichsten Ja sagten die Westschweizer Kantone Freiburg und Wallis sowie Tessin, Schwyz, St. Gallen und Schaffhausen. In der Presse wurde dieses Ergebnis als ein Bekenntnis zugunsten der Opfer von Gewalttaten und für härtere Strafen interpretiert. Die Vox-Analyse zeigte, dass trotz der unterschiedlichen Parolen die Parteisympathie keine Rolle für den Abstimmungsentscheid gespielt hatte. Eine gewisse Rolle kam hingegen der formalen Bildung zu, indem Personen mit einem Hochschulabschluss die Vorlage ablehnten, allerdings mit einem Neinanteil von 56% auch nicht überwältigend. Das Hauptargument der Befürwortenden war, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern eine derart schwere Straftat sei, dass sie nie verjähren dürfe [41].
 
[39] AB NR, 2008, S. 123 ff. und 1025 (Schlussabstimmung) sowie 143 f. (Entscheid über die drei pa.Iv.) und 1553 (Mo. Sommaruga); AB SR, 2008, S. 349 f., 352 (pa.Iv. Darbellay und Simoneschi-Cortesi) und 533 f.; BBl, 2008, S. 5261 f. (Gegenvorschlag) und 5245 (Initiative). Siehe SPJ 2007, S. 25 f.
[40] Presse vom 1.10.-29.11.08; LT, 24.11.08 (zum Fehlen einer Kampagne).
[41] BBl, 2009, S. 605 ff.; Presse vom 1.12.08; Krömler, Oliver / Milic, Thomas / Rousselot, Bianca, Vox – Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 30. November 2008, Zürich und Bern 2009.