Année politique Suisse 2009 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
 
Regierung
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Wahlen
Im Berichtsjahr kam es erneut zu einer Ersatzwahl für den Bundesrat. Der Vorsteher des EDI, der 67jährige freisinnige Welschwalliser Pascal Couchepin, erklärte am 12. Juni seinen Rücktritt auf Ende Oktober nach elf Jahren Regierungstätigkeit. In den Medien wurde er als Staatsmann gewürdigt, dem allerdings die Erfolge bei der Durchsetzung von Reformen oft versagt blieben. Dass Letzteres nicht allein an ihm lag, sondern auch mit den in seine Zuständigkeit fallenden komplexen Bereichen der Sozial- und Gesundheitspolitik zu tun hatte, wurde allerdings auch konzediert [1].
CVP-Präsident Darbellay (VS) hatte bereits im Februar angekündigt, dass seine Partei der FDP bei der nächsten Vakanz einen ihrer beiden Sitze streitig machen werde. Dabei rechtfertigte die CVP ihren Anspruch sowohl politisch als auch rechnerisch. Politisch sei die CVP zu bevorzugen, weil die FDP nach rechts in die Näher der SVP gerutscht sei und nur die CVP die wahre Mitte verkörpere. Rechnerisch gesehen habe die FDP zwar bei den letzten Wahlen den grösseren Wähleranteil erreicht, die Fraktionsgemeinschaft aus CVP, GLP und EVP verfüge aber über die grössere Nationalratsfraktion. Nachdem sich zuerst Darbellay selbst ins Spiel gebracht hatte, kristallisierte sich bald Ständerat und Fraktionschef Urs Schwaller (FR) als aussichtsreichster Kandidat heraus. Sein Manko bestand allerdings darin, dass er deutscher Muttersprache ist und zudem auch im deutschsprachigen Teil des mehrheitlich französischsprachigen Kantons wohnt. Von der FDP und auch von einem Teil der französischsprachigen Presse wurde sofort moniert, dass er deshalb nicht als Vertreter der Romandie gelten könne. Seine Kantonalpartei nominierte nicht nur ihn, sondern auch den französischsprachigen Freiburger Nationalrat de Buman. Die CVP-Fraktion entschied sich für eine Einerkandidatur und portierte Schwaller [2].
Die Medien spekulierten bereits vor der Rücktrittserklärung Couchepins über erfolgversprechende freisinnige Kandidaturen aus der Romandie und dem Tessin. Im Vordergrund standen dabei Nationalrat und Parteipräsident Fulvio Pelli (TI), Ständerat Didier Burkhalter (NE), die beiden Genfer Nationalräte Martine Brunschwig Graf und Christian Lüscher, welche ursprünglich zu den Liberalen gehört hatten, sowie der Waadtländer Regierungsrat Pascal Broulis. Von ihren respektiven Kantonalparteien zuhanden der FDP-Fraktion nominiert wurden Burkhalter, Brunschwig Graf und Lüscher; Pelli wurde von seiner Kantonalpartei empfohlen, aber nicht als offizieller Kandidat angemeldet. Die freisinnig-liberale Fraktion entschied sich Ende August für ein Zweierticket und schickte Burkhalter und Lüscher ins Rennen [3].
Am 16. September wählte die Vereinigte Bundesversammlung den Nachfolger von Pascal Couchepin. Es standen sich die beiden Kandidaten der FDP-Fraktion, Didier Burkhalter und Christian Lüscher und der Kandidat der CVP, Urs Schwaller, gegenüber. Die SP und die GP unterstützten Schwaller, wobei eine Minderheit der SP erklärte, aus gesellschafts- und aussenpolitischen Gründen [4] Burkhalter zu bevorzugen. Die SVP sprach sich für Lüscher aus und die BDP für beide Freisinnige. Im ersten Wahlgang lag Schwaller mit 79 Stimmen vor Lüscher mit 73 und Burkhalter mit 58; der Tessiner freisinnige Ständerat Dick Marty [5] erhielt 34 Stimmen. Im zweiten Wahlgang konnte Schwaller auf Kosten von Marty auf 89 Stimmen zulegen, Lüscher und Burkhalter kamen auf je 72. In der dritten Runde kam Schwaller auf 95 Stimmen und Burkhalter überholte mit 80 Stimmen Lüscher (63), worauf sich letzterer zugunsten von Burkhalter zurückzog. Im vierten Wahlgang fiel die Entscheidung: Bei einem absoluten Mehr von 120 wählte das Parlament mit 129 Stimmen Didier Burkhalter zum neuen Bundesrat; Schwaller hatte 106 und Lüscher 4 Stimmen erhalten. Da kein anderes Regierungsmitglied Wechselgelüste hatte, übernahm der 49jährige Burkhalter von Couchepin das EDI [6].
Als Nachfolger für Bundesratssprecher und Vizebundeskanzler Oswald Sigg (sp) trat anfangs April der SP-nahe André Simonazzisein Amt an [7].
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Wahlverfahren
Der Nationalrat sprach sich auf Antrag seiner SPK deutlich gegen die Volkswahl des Bundesrates aus. Er beschloss mit 140 zu 23 Stimmen, einer entsprechenden parlamentarischen Initiative Zisyadis (pda, VD) keine Folge zu geben. Neben der Volkswahl wollte der Initiant auch noch Mindestquoten für die Sprachgruppen und die Geschlechter einführen. Auch eine Mehrheit der SVP-Fraktion lehnte den Vorstoss ab. Auf Antrag der Zürcher SVP beschloss die Delegiertenkonferenz der nationalen SVP im August, die von ihr seit langem angekündigte Volksinitiative für die Volkswahl des Bundesrates definitiv zu lancieren. Diese verlangt die Volkswahl nach Majorzprinzip, wobei mindestens zwei Gewählte ihren Wohnsitz in der lateinischen Schweiz, d.h. in einem französisch- resp. italienischsprachigen Kanton oder im nichtdeutschen Teil eines mehrsprachigen Kantons haben müssen [8].
Als Reaktion auf die Nichtwiederwahl von Christoph Blocher und seine Ersetzung durch Eveline Widmer-Schlumpf hatte die SVP einen neuen Paragrafen in ihre Parteistatuten aufgenommen. Dieser besagt, dass Parteimitglieder, die eine Wahl in den Bundesrat annehmen und nicht von der Fraktion nominiert worden sind, automatisch aus der Partei ausgeschlossen werden. Nationalrat Lustenberger (cvp, LU) sah darin eine unzulässige Einschränkung der Wahlfreiheit der Bundesversammlung und reichte eine parlamentarische Initiative ein mit dem Ziel, derartige Bestimmungen in Parteistatuten zu untersagen. Auf Antrag seiner SPK lehnte der Nationalrat dieses Ansinnen mit 136 zu 30 Stimmen ab. Die SPK argumentierte, dass dieser Paragraph eine privatrechtliche Vereinbarung zwischen einer Partei und ihren Mitgliedern darstelle und die Mitglieder der Bundesversammlung davon in ihrer Entscheidungsfreiheit eine bestimmte Person zu wählen nicht beeinträchtigt seien [9].
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Regierungsreform
Der Nationalrat bekräftigte einmal mehr seinen Wunsch nach der Umgestaltung der Departemente. Er überwies gegen den Antrag des Bundesrates, der argumentierte, er habe dies alles schon überprüft und für nicht sinnvoll gehalten, ein Postulat Burkhalter (fdp, NE) für eine grundsätzliche Neuorganisation der Departemente. Diese solle sich sowohl bei der Zuordnung der Ämter als auch bei der Benennung konsequent an den langfristigen Aufgaben und Prioritäten der Politik orientieren. Konkret nannte Burkhalter beispielsweise ein Departement für Sicherheit, das sich mit der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Justiz und der Landesverteidigung befassen würde. Eine Motion Lustenberger (cvp, LU) für die Schaffung eines Bildungsdepartementes konnte hingegen noch nicht behandelt werden, da sie Nationalrat Baader (svp, BL) bekämpfte [10].
Der Bundesrat beauftragte am 26. August das EJPD, in Zusammenarbeit mit der Bundeskanzlei bis zum Frühjahr 2010 Vorschläge für eine Regierungsreform auszuarbeiten. Dabei soll der Fokus einerseits auf primär organisatorische Reformen zur Verbesserung der Funktionsweise des Bundesratskollegiums gerichtet sein. Als zweiter Schwerpunkt soll die Option einer Verlängerung der Amtsdauer des Bundespräsidenten abgeklärt werden. Gegen den Willen des Bundesrates überwies der Nationalrat auch ein Postulat Burkhalter (fdp, NE), das eine Verlängerung der bisher auf ein Jahr beschränkten Amtsdauer des Bundespräsidenten auf zwei oder vier Jahre anregt. Ziel dieser Reform soll eine Stärkung dieses Postens und eine Verbesserung seiner Koordinations- und Führungsfunktion sein. Ohne Gegenstimme überwiesen beide Ratskammern auch noch eine vom Bundesrat unterstützte Motion Burkhalter, die verlangt, dass die Regierungsreform zu einem zentralen Thema der nächsten Legislaturplanung werden muss [11].
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Regierungspolitik
Die parlamentarische Beratung der Legislaturziele hatte sowohl 2004 als auch 2008 im Nationalrat zu tagelangen Debatten und Schaukämpfen zwischen der SVP und der Linken geführt. Daran hatte auch die 2008 erstmals praktizierte vereinfachte Differenzbereinigung zwischen den beiden Ratskammern nichts geändert. Die SVP-Fraktion forderte nun mit einer parlamentarischen Initiative, auf eine Detailberatung dieser Regierungsziele ganz zu verzichten und sie nicht mehr als Bundesbeschluss zu verabschieden, sondern nur noch zur Kenntnis zu nehmen. Die SPK-NR sprach sich dagegen aus, da gemäss Bundesverfassung das Parlament bei den wichtigen politischen Planungen mitzuwirken hat und sich nicht mit einer blossen Zurkenntnisnahme der Absichten der Regierung begnügen darf. Der Nationalrat schloss sich dieser Ansicht an und gab dieser auch von den Grünen und einer Minderheit der SP unterstützten parlamentarischen Initiative mit 87 zu 86 Stimmen keine Folge [12].
Der Ständerat sprach sich dagegen aus, ein Veto des Parlaments gegen Verordnungen des Bundesrates einzuführen. Im Gegensatz zur grossen Kammer im Vorjahr gab er einer entsprechenden parlamentarischen Initiative der SVP-Fraktion mit 27 zu 6 Stimmen keine Folge. Nach Ansicht seiner SPK würde diese Neuerung die Kompetenzen von Regierung und Parlament zu sehr vermischen [13].
 
[1] Presse vom 13.6.09; NZZ, 30.10.09.
[2] SN, 17.2.09; Lib., 21.7.09 (Darbellay); NLZ und NZZ, 13.6.09; Bund und BZ, 15.6.09 sowie Presse vom 16.-18.6.09 (Schwaller und Sprachenfrage); Bund, 19.8.09 und Lib., 25.8.09 (CVP-FR); BaZ, 29.8.09 und Presse vom 9.9.09 (Fraktion).
[3] Presse vom 1.-11.6.09. Nominationen: Bund, 9.7.09 (Burkhalter); LT, 24.7.09 (Brunschwig Graf und Lüscher); Presse vom 7.8.09 (Broulis); AZ, 11.8.09 (Pelli); Presse vom 29.8.09 (Fraktion).
[4] Siehe dazu Lit. Gross und NZZ, 26.8.09.
[5] Für den linksliberalen Marty hatten sich u.a. Repräsentanten der SP und die Tessiner Grünen ausgesprochen (SN, 26.8.09).
[6] AB NR, 2009, S. 1841 ff.; Presse vom 17.9.-19.9.09.
[7] TA, 21.3.09; NZZ, 27.3.09. Zu Sigg siehe TA, 25.3.09. Zur Ernennung Simonazzis siehe SPJ 2008, S. 34.
[8] Zisyadis: AB NR, 2009, S. 778 f. SVP: Presse vom 1.7., 24.8. und 5.10.09. Die Lancierung der Initiative erfolgte im Januar 2010.
[9] AB NR, 2009, S. 1748 ff. Siehe SPJ 2008, S. 33.
[10] AB NR, 2009, S. 568 (Burkhalter) und 2329 (Lustenberger). Vgl. dazu auch die Antwort des neuen BR Burkhalter auf eine Interpellation Fetz (sp, BS) in AB SR, 2009, S. 1277 sowie NZZ, 30.5.09 und SZ, 30.12.09 (Gerüchte über den Versuch, die Bildung im EVD zu konzentrieren). Siehe SPJ 2008, S. 35.
[11] BR: AB NR, 2009, S. 1472 (Frage Wasserfallen, fdp, BE). Vorstösse: AB NR, 2009, S. 568 f. (Postulat) und 1631 f. (Motion); AB SR, 2009, S. 696 ff.
[12] AB NR, 2009, S. 353 f. Siehe SPJ 2008, S. 35.
[13] AB SR, 2009, S. 187 ff.; NZZ, 17.2.09. Siehe SPJ 2008, S. 35 f.