Année politique Suisse 2009 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
Volksrechte
Im Berichtsjahr kam es zu zwei mit einem fakultativen Referendum verlangten Volksabstimmungen (Personenfreizügigkeit, biometrische Pässe). Das Volk stimmte jeweils dem Parlamentsbeschluss zu, im Fall der Pässe allerdings nur äusserst knapp. Ausserdem entschieden Volk und Stände über zwei Volksinitiativen und nahmen davon eine, die Minarettverbotsinitiative, als insgesamt siebzehnte an. Daneben hiessen Volk und Stände auch vier vom Parlament beschlossene Verfassungsänderungen gut.
Im Jahr 2009 wurden sieben Volksinitiativen eingereicht (2008: 8). Das Volk entschied über zwei Volksbegehren; eines – das Verbot des Baus neuer Minarette – fand Zustimmung. Eine Volksinitiative wurde zurückgezogen („Gegen masslosen Bau umwelt- und landschaftsbelastender Anlagen“). Damit stieg Ende 2009 der Bestand der eingereichten, aber dem Volk noch nicht zum Entscheid vorgelegten Initiativen auf 17 (2008: 13). Neu lanciert wurden im Jahr 2009 acht Volksinitiativen (2008: 4).
Insgesamt kam es somit zu acht Volksabstimmungen (2 Volksinitiativen, 4 obligatorische und 2 fakultative Referenden). Bei 7 von diesen 8 Entscheiden folgten die Stimmberechtigten dem Antrag von Regierung und Parlament (2008: 8 von 10). Beim Minarettverbot entschied das Volk anders als die Behörden.
Zum Jugend- und Ausländerstimmrecht siehe oben, Teil I, 1b (Bürgerrecht und Stimmrecht).
Im August reichte die AUNS ihre Volksinitiative „Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (
Staatsverträge vors Volk!)“ mit 108 579 gültigen Unterschriften ein. Mehr Mitsprache für das Volk in der Aussenpolitik strebte auch eine parlamentarische Initiative Gross (sp, ZH) an. Sie verlangte die Einführung einer „Internationalen Volksmotion“. Mit dieser könnte eine bestimmte Anzahl von Bürgerinnen und Bürger (im Text waren 20 000 erwähnt) das Parlament ersuchen, dem Bundesrat einen bestimmten aussenpolitischen Auftrag zu erteilen
[26].
In der Volksabstimmung vom 27. September waren Volk und Stände damit einverstanden, auf die 2003 in die Verfassung aufgenommene
allgemeine Volksinitiative wieder zu verzichten. Eine Kampagne fand nicht statt; gegen die Streichung ausgesprochen hatten sich nur die Lega und die PdA. Das Resultat fiel mit einem Ja-Stimmenanteil von 67,9% (1 307 237 Ja gegen 618 664) und keinem einzigen ablehnenden Kanton deutlich aus
[27].
Bundesbeschluss über die Streichung der allgemeinen Volksinitiative
Abstimmung vom 27. September 2009
Beteiligung: 40,4%
Ja: 1 307 237 (67,9%) / 20 6/2 Stände
Nein: 618 664 (32,1%) / 0 Stände
Parolen:
– Ja: SVP, SP, FDP (1)*, CVP (2)*, GP (1)*, EVP, BDP, GLP, CSP, EDU (1)*, FPS, SD; SGV, SBV, Travail.Suisse.
– Nein: Lega, PdA.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Der Nationalrat nahm die Diskussion wieder auf über
Volksinitiativen, die ganz oder teilweise im Gegensatz zu Völker- oder Menschenrechtsbestimmungen resp. zu in der Bundesverfassung verankerten Grundrechten stehen und sich deshalb nicht textgetreu umsetzen lassen. Er gab dabei einer parlamentarischen Initiative Vischer (gp, ZH) Folge, welche die Ungültigkeit von Initiativen verlangt, die „materiell gegen den Grundrechtsschutz oder gegen die Verfahrensgarantien des Völkerrechtes“ verstossen. Gleichzeitig überwies er auch ein Postulat seiner SPK, welche vom Bundesrat einen Bericht über den zukünftigen Umgang mit derartigen Volksinitiativen und eine allfällige verfassungsrechtlich abgestützte Ausweitung des Umfangs des „zwingenden Völkerrechts“ fordert. Die SVP hatte beide Vorstösse erfolglos bekämpft, Minderheiten der CVP und der FDP nur die Initiative Vischer. Die in den letzten Jahren häufiger vorgekommene Konkurrenz zwischen Verfassungsbestimmungen und Volksinitiativen motivierten den Nationalrat auch, einer parlamentarischen Initiative Studer (evp, AG) aus dem Jahre 2005 für die
Einführung eines Verfassungsgerichts gegen den Widerstand der SVP Folge zu geben. Als Reaktion darauf erwogen SVP-Spitzenpolitiker die Lancierung einer Volksinitiative, welche Volksinitiativen in jedem Fall, also auch bei Verletzung von zwingendem Völkerrecht, über internationales Recht stellen will
[28].
Bei
Volksinitiativen kommt es vor, dass die Initianten mit einem vom Parlament beschlossenen indirekten Gegenvorschlag zufrieden sind und ihr Begehren eigentlich
zurückziehen möchten. Oft enthält dieser Gegenvorschlag auf Gesetzesstufe die Klausel, dass er nur dann in Kraft treten kann, wenn die Initiative entweder zurückgezogen oder in der Volksabstimmung abgelehnt worden ist. Da damit die offizielle Publikation des Gegenvorschlags und der Beginn der Sammelfrist für ein allfälliges Referendum erst nach dem Rückzug erfolgen, sind die Initianten über dessen Schicksal im Ungewissen und verzichten aus diesem Grund manchmal auf einen Rückzug. Ständerat Lombardi (cvp, TI) schlug deshalb in der Form einer parlamentarischen Initiative die
Einführung des bedingten Rückzugs einer Volksinitiative vor. Die SPK des Ständerats arbeitete eine entsprechende Teilrevision des Gesetzes über die politischen Rechte aus. Da mit der Volksinitiative „Lebendiges Wasser“ und der als indirekten Gegenvorschlag konzipierten Revision des Gewässerschutzgesetzes ein konkreter Anwendungsfall im Parlament hängig war, drängte sie auf eine rasche Behandlung des Geschäfts. Sie beantragte, dass der Rückzug einer Volksinitiative nur dann gelten soll, wenn der Gegenvorschlag auch wirklich in Kraft tritt. Wird das Referendum ergriffen und der Gegenvorschlag vom Volk abgelehnt, dann findet anschliessend eine Abstimmung über die Volksinitiative statt. In der Vernehmlassung hatten sich FDP und SVP skeptisch gezeigt, der Bundesrat hingegen sprach sich für diese Neuerung aus
[29].
Das
Parlament hiess die Einführung des bedingten Rückzugs einer Volksinitiative bereits in der Herbstsession gut. Im Ständerat geschah dies einstimmig. Im Nationalrat stellte die SVP erfolglos einen Nichteintretensantrag, wobei die Begründung allerdings verwirrend war. Gemäss ihrem Sprecher Schibli (svp, ZH) würde diese bedingte Rückzugsmöglichkeit die Rechte des Volkes einschränken, da dieses Anspruch darauf habe, in jedem Fall über eine Initiative abzustimmen. Auch eine Mehrheit der FDP war für Nichteintreten, da die Neuerung die Ausübung der Volksrechte komplizierter gestalten würde. In der Schlussabstimmung verabschiedete der Nationalrat die neuen Bestimmungen mit 106 zu 88 Stimmen; dagegen waren die praktisch geschlossene SVP und eine grosse Mehrheit der FDP. In der kleinen Kammer gab es keine Gegenstimmen
[30].
Der Nationalrat lehnte auf Antrag seiner SPK eine parlamentarische Initiative Chevrier (cvp, VS) für eine
Begrenzung der Zahl der eidgenössischen Volksabstimmungen auf zwölf pro Jahr deutlich ab
[31].
Die SPK des Nationalrats publizierte einen Vorschlag zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative Gross (sp, ZH) für fairere Abstimmungskampagnen, welcher der Rat 2005 Folge gegeben hatte. Eine Subkommission der SPK hatte dabei verschiedene Möglichkeiten untersucht. Die Verhandlungen mit der SBB über die Möglichkeit, in den grossen Bahnhöfen Gratisplakatierflächen anzubieten, brachten einige konkrete Resultate. So wird in Zukunft ein Plakat mit dem Parolenspiegel der nationalen Parteien gratis in grossen SBB-Bahnhöfen ausgehängt werden. Die für die Meinungsbildung als viel wichtiger eingestuften elektronischen Medien waren hingegen zu keinen Konzessionen bereit. Die Radio- und Fernsehanstalt SRG lehnte es ab, den Parteien freiwillig Sendezeit für die Gratisausstrahlung von politischer Werbung einzuräumen. Ihrer Ansicht nach sind die bestehenden redaktionellen politischen Sendegefässe zur Meinungsbildung durchaus ausreichend. Trotzdem verfolgte die SPK-NR diese Idee der Gratiswerbespots für Parteien weiter und arbeitete Grundlagen für eine gesetzliche Verpflichtung der SRG aus. In der im Spätherbst 2007 durchgeführten Vernehmlassung äusserten sich SP und CVP positiv, die FDP skeptisch und die SVP ablehnend; negativ fielen auch die Rückmeldungen der meisten Interessenverbände aus. Die Kritiker bemängelten insbesondere, dass mit diesen kurzen Werbespots der Parteien die Aussagen noch plakativer und die Diskussion noch oberflächlicher würde. Im Mai des Berichtsjahres stellte sich die SPK mit 14 zu 8 Stimmen hinter den Antrag, den Parteien mit Fraktionsstatus und den Initiativ- und Referendumskomitees im Fernsehen und im Radio während den Kampagnen gratis Werbezeit einzuräumen. Damit soll das zum Teil erhebliche Ungleichgewicht bei der bezahlten Abstimmungswerbung für bestimmte Anliegen ausgeglichen werden. Es soll auch vermieden werden, dass bei Themen, bei denen sich weder Parteien noch breit abgestützte Interessenverbände finanziell engagieren wollen, kaum Werbung für einen Parlamentsbeschluss gemacht wird. Dass dies geschehen kann, hatte sich beispielsweise bei der Volksabstimmung über die neue Bundesverfassung im Jahr 1999 gezeigt, als die Befürworter keine Mittel für Inserate oder Plakate einsetzen wollten und damit Kleinstparteien und intransparente kleine Gruppen einen unangemessenen Einfluss nehmen konnten. Formal soll auf Gesetzesstufe (Radio- und Fernsehgesetz resp. Gesetz über die politischen Rechte) der Grundsatz der Gratiswerbung für politische Anliegen eingeführt und die dazu berechtigten Parteien und Gruppierungen bezeichnet werden; die konkreten Ausführungsdetails sollen anschliessend in einer speziellen Verordnung der Bundesversammlung geregelt werden.
Der Bundesrat sah in seiner ausführlichen Stellungnahme Schwachpunkte sowohl beim Grundsatz als auch bei der konkreten Umsetzung der vorgeschlagenen Neuerung. Da diese zudem einen massiven Eingriff in die Programmfreiheit der Radio- und Fernsehveranstalter bedeuten würde, beantragte er Rückweisung.
Im
Nationalrat hatten die Vorschläge der SPK
keine Chance: er entschied sich gegen die Stimmen der SP und der Grünen für Nichteintreten
[32].
Nach der Meinung von Bundesrat und Nationalrat soll die politische Werbung an Autostrassen und Autobahnen auch dann aus Gründen der Verkehrssicherheit verboten bleiben, wenn die
Plakate nicht direkt am Strassenrand, sondern
auf einem
landwirtschaftlichen Grundstück in einiger Entfernung platziert werden. Der Nationalrat lehnte eine von der SVP, der BDP und Minderheiten der FDP und CVP unterstützte Motion Zuppiger (svp, ZH) für eine Aufhebung dieses Verbots mit 88 zu 74 Stimmen ab
[33].
Das
Internet wird als Werbeinstrument bei der Unterschriftensammlung für Referenden und Initiativen sowie bei Volksabstimmungen immer wichtiger. Das Referendum gegen die Einführung der biometrischen Pässe war 2008 weitgehend aufgrund einer Kampagne im Internet zustande gekommen. Im Berichtsjahr fand ein mittels e-mail an rund 400 000 Personen verschickter Werbefilm für eine Zustimmung zur Weiterführung der Personenfreizügigkeit mit der EU grosse Beachtung; die Wirkung auf das Abstimmungsverhalten hielt sich allerdings in engen Grenzen. Sehr umstritten war bei der gleichen Abstimmung eine nur während der Kampagne aufgeschaltete Internet-Seite aus Deutschland. Diese Seite einer fiktiven Agentur gab vor, deutschen und osteuropäischen Sozialhilfeempfängern eine Niederlassungsbewilligung für die Schweiz zu vermitteln und wurde von den Gegnern der Freizügigkeit mit Empörung als Beweis für die negativen Konsequenzen der bilateralen Verträge mit der EU zitiert
[34].
Nach mehrjährigen Versuchen in verschiedenen Gemeinden bei eidgenössischen und kantonalen Volksabstimmungen beschlossen die Genfer Stimmberechtigten, das System der Stimmabgabe über das Internet (
e-voting) definitiv einzuführen. Mehrere Kantone vereinbarten, die im Kanton Zürich erprobte Lösung zu nutzen, um ihren Auslandschweizern die elektronische Stimmabgabe zu ermöglichen. Basel-Stadt schloss einen entsprechenden Vertrag mit Genf ab
[35].
Erneut lehnte der Nationalrat einen Vorstoss für die Einführung des Wahlsystems „
Doppelter Pukelsheim“ bei den Nationalratswahlen ab. Gegen eine entsprechende parlamentarische Initiative Zisyadis (pda, VD) wurde eingewendet, dass dieses System zwar die Proportionalität der Sitzverteilung gemäss nationalen Wähleranteilen verbessern würde, es bei der Verteilung der Parteimandate auf die Kantone aber zu Verzerrungen kommen könnte, welche im Widerspruch zum Wählerwillen des Kantons stünden
[36].
[26] AUNS:
BBl, 2009, S. 6057 ff. Siehe
SPJ 2008, S. 41. Gross:
AB NR, 2009, S. 2288 ff.
[27]
BBl, 2009, S. 8719 ff.;
BaZ, 9.9.09;
NZZ, 10.9. (Gross, sp, ZH) und 19.9.09 (Müller, fdp, AG und Lustenberger, cvp, LU); Presse vom 28.9.09. Siehe
SPJ 2008, S. 41 f.
[28]
AB NR, 2009, S. 290 ff. (Postulat und pa. Iv. Vischer) und 689 ff. (pa. Iv. Studer);
SoZ, 13.12.09;
BaZ und
BüZ, 14.12.09 (SVP). Die Idee der Vorprüfung von Volksinitiativen erhielt anlässlich der parlamentarischen Beratung der Ausschaffungsinitiative der SVP neuen Auftrieb (
TA, 10.12.09;
BüZ, 11.12.09 (Maissen, cvp, GR); vgl. auch oben, Teil I, 1b, Strafrecht). Siehe
SPJ 2000, S. 32 (Verfassungsgericht) und
2008, S. 42.
[29]
BBl, 2009, S. 3591 ff. und 3609 f. (BR). Zur Gewässerschutzinitiative siehe unten, Teil I, 6d (Protection des eaux).
[30]
AB SR, 2009, S. 694 ff., 919 f. und 1003;
AB NR, 2009, S. 1627 ff. und 1827;
BBl, 2009, S. 6655 ff.
[31]
AB NR, 2009, S. 1001 ff.
[32]
BBl, 2009, S. 5833 ff. und 5885 ff. (BR);
AB NR, 2009, S. 1870 ff.;
TA, 12.5.09. Siehe
SPJ 2005, S. 40 und
2008, S. 260.
[33]
AB NR, 2009, S. 1371.
[34] Referendum:
SPJ 2008, S. 20;
Lib., 8.1.09;
Bund, 12.1.09. Freizügigkeitsabstimmung:
TA, 6.2. und 10.2.09; Hirter, Hans / Linder, Wolf,
Vox. Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 8. Februar 2009, Bern 2009, S. 14.
[35] GE:
TA und
TG, 10.2.09. Auslandschweizer:
NZZ, 16.6. (BS) und 5.9.09. Siehe dazu auch
SPJ 2007, S. 39.
[36]
AB NR, 2009, S. 2159 ff. Siehe
SPJ 2008, S. 42 f.
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