Année politique Suisse 2009 : Politique sociale / Assurances sociales / Krankenversicherung
Eine Motion Schwaller (cvp, FR) wollte den
Leistungskatalog der Grundversicherung als Positivkatalog formulieren und eine strenge Überprüfung nach den Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit vornehmen. Der Bundesrat sah einen Teil der Anliegen der Motion bereits als erfüllt an, da ein positiv formulierter Leistungskatalog für die nichtärztlichen Leistungen bereits besteht. Die Problematik des Einsatzes medizinischer Leistungen ausserhalb des Zweckbereiches der obligatorischen Krankenpflegeversicherung lasse sich zudem nicht mit einer Positivliste lösen. Der Bundesrat beantragte daher die Ablehnung der Motion. Der Ständerat teilte die Meinung des Bundesrates aber nicht und nahm die Motion mit 17 zu 13 Stimmen an
[43].
Eine Motion Stähelin (cvp, TG) forderte, dass Personen, welche aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation in der Lage sind, ihre Krankenkassenprämien zu bezahlen, dies aber trotzdem nicht tun, auf einer
Liste erfasst werden, welche nur den Leistungserbringern, Gemeinden und Kantonen zugänglich ist. Die Erfassung auf dieser Liste hat zur Folge, dass seitens der Leistungserbringer nur noch die Leistungen der Notfallversorgung erbracht werden müssen, bis die Person wieder von der Liste gestrichen wird. Der Bundesrat anerkannte in seiner Antwort zwar die Problematik, er erachtete die Massnahme hingegen als nicht geeignet und beantragte daher die Ablehnung der Motion. Im Ständerat wurde ein Ordnungsantrag Fetz (sp, BS) angenommen, welcher forderte, dass die Motion durch die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vorzuberaten sei
[44].
Eine parlamentarische Initiative der SGK des Nationalrates sah eine umfassendere Lösung des Problems der
Nichtbezahlung von fälligen Prämien und Kostenbeteiligungen vor. Die Vorlage der Kommission verlangte im Wesentlichen, dass die Kantone 85% der Forderungen übernehmen, für welche ein Verlustschein ausgestellt wurde. Um künftig zu verhindern, dass diejenigen Versicherten, denen die Prämienverbilligung direkt ausgerichtet wird, diese Gelder für andere Zwecke einsetzen, sollten alle Kantone verpflichtet werden, die Prämienverbilligungen an die Versicherer auszurichten. Im Nationalrat war das Eintreten auf die Vorlage unbestritten und die Fraktionen waren sich einig, dass das Problem der Nichtzahlung von Krankenkassenprämien und der Sistierung von Leistungen gelöst werden muss. Auch der Bundesrat unterstützte die Fassung der Kommission. Ein Minderheitsantrag Triponez (fdp, BE) forderte, dass die Versicherer die im Nachhinein bei den Versicherten eingetriebenen Schulden vollständig für sich behalten können. Dies sollte einen Anreiz für die Versicherer schaffen, die Schulden überhaupt einzutreiben. Der Nationalrat nahm den Minderheitsantrag mit 101 zu 69 Stimmen an. Ein weiterer Minderheitsantrag Bortoluzzi (svp, ZH) war ebenfalls erfolgreich und wurde mit 109 zu 58 Stimmen angenommen. Dieser Antrag schlug vor, dass Kantone Listen erstellen können von Personen, die trotz Mahnung und Betreibung ihre Prämien nicht bezahlen. Als Modell sollte dabei der Kanton Thurgau dienen, der diese Massnahme bereits mit Erfolg praktiziere. In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat die Vorlage mit 165 zu 1 Stimme an
[45].
Auch der
Ständerat trat ohne Gegenantrag auf das Geschäft ein. Er folgte dem Antrag seiner Kommission und hielt an der ursprünglichen Fassung der parlamentarischen Initiative fest, wonach von den nachträglich beim Versicherten eingetriebenen Geldern die Kassen 50% an die Kantone zurückzahlen müssen. In der Gesamtabstimmung hiess der Ständerat die Vorlage einstimmig gut
[46].
Eine Motion Humbel Näf (cvp, AG) forderte den Bundesrat auf, die Voraussetzungen zu schaffen, damit die Pflegeleistungen nach dem Krankenversicherungsgesetz und die
Hilflosenentschädigung zur AHV/IV mit dem gleichen Bedarfsabklärungsinstrument bestimmt werden. Ziel sei die Vereinfachung der Administration, insbesondere für Pflegeinstitutionen wie Spitex und Pflegeheime. Der Bundesrat beantragte zuerst die Ablehnung der Motion mit der Begründung, dass sich die Hilflosenentschädigungen der AHV/IV und die Pflegeleistungen gemäss Krankenversicherungsgesetz in grundsätzlicher Hinsicht von einander unterscheiden. Seit seiner ersten Stellungnahme hatten sich einige Voraussetzungen verändert und er war deshalb bereit, die Motion in Form eines Postulates anzunehmen. Dem folgte der Nationalrat aber nicht, indem er die Motion als solche mit 109 zu 71 Stimmen annahm
[47].
Anlässlich der angekündigten Prämienerhöhungen der Krankenkassen, welche, verglichen mit dem Anstieg der Gesundheitskosten, überproportional zunehmen, fand im Nationalrat eine
dringliche Debatte statt. Es wurden fünf dringliche Interpellationen zum Thema Krankenversicherung und Gesundheitskosten behandelt und diskutiert. Einerseits eine dringliche Interpellation der
CVP-Fraktion, welche Massnahmen forderte in den Bereichen Medikamentenpreise, festgelegte Preise der Migel, Spitallandschaft, Abgeltung von Überkapazitäten bei den Spitälern, korrekte Kodierung von Fällen in der stationären Behandlung, Planung und Entwicklung der Spitzenmedizin sowie bei den Tarifvereinbarungen zwischen den Leistungserbringern und den Krankenversicherern. Etwas allgemeiner formuliert war eine dringliche Interpellation der
BDP, welche vom Bundesrat wissen wollte, welche Massnahmen dieser zur Abschwächung der Kosten- und Prämienentwicklung plant und wie das Kostenwachstum beschränkt werden könne. Die dringliche Interpellation der
SP unterteilte ihre Forderungen in zwei verschiedene Bereiche. Zum einen in dringliche Massnahmen im Bereich der Krankenversicherung, wo es ebenfalls um Medikamentenpreise und eine Rationalisierung des Spitalsystems ging, aber auch um Prämienverbilligungen, einen Paradigmenwechsel im Bereich Managed Care und eine Revision des Risikoausgleichs. Zum anderen forderte sie dringende Reformen bei der Gouvernanz, wie beispielsweise die Verbesserung der Wirksamkeit der Gouvernanz im Gesundheitswesen. Die
FDP verlangte in ihrer dringlichen Interpellation vor allem eine Problemlösung im Bereich der mangelnden Selbstverantwortung der Leistungsbezüger, einen transparenteren Wettbewerb bezüglich Preis und Leistungen der Versicherungsprodukte der Krankenversicherer, eine bessere Transparenz über Qualität und Nutzen der erbrachten Leistungen und eine Wiederaufnahme der Anreize bezüglich der Verschreibung von Generika. Schliesslich appellierte die grüne Fraktion mit ihrer dringlichen Interpellation an die soziale Verträglichkeit des Prämienanstieges und interessierte sich daher besonders für Fragen betreffend die Prämienverbilligung. Aber auch Verwaltungskosten der Krankenkassen wurden angesprochen, ebenso wie die Finanzflüsse und Quersubventionierungen innerhalb der Krankenkassen-Holdings und die Rahmenbedingungen für die Reservebildung der Krankenkassen
[48].
Bei einem Gesundheitsgipfel im Frühjahr forderte Bundesrat Couchepin die Einführung einer
Praxisgebühr von 30 Fr., um unnötige Arztbesuche zu verhindern. Diese finanzielle Hürde sollte die Patienten davon abhalten, wegen Bagatellen die Krankenkasse zu beanspruchen. Die Belastung chronisch Kranker wurde dabei allerdings begrenzt. Der Vorschlag stiess auf sehr viel Kritik: einzig der Krankenkassenverband Santésuisse stand der vorgeschlagenen Praxisgebühr positiv gegenüber. Neben der Praxisgebühr stellte Couchepin wenig später noch weitere Massnahmen vor, um die angekündigten massiven Prämienerhöhungen zu stoppen. Einerseits sollte eine Telefonberatung eingeführt werden, welche alle Versicherer kostenlos erbringen müssen. Andererseits wollte der Bundesrat die Kompetenz erhalten, die Senkung der Arzttarife bei einer überdurchschnittlichen Kostensteigerung beschliessen zu können. Mit Leistungsaufträgen sollten die Kantone zudem dazu gebracht werden, die Kosten bei den Spitalambulatorien zu senken. Für die Verbilligung von Krankenkassenprämien forderte Couchepin zudem den Einsatz von mehr Bundesmitteln
[49].
Trotz heftiger Proteste der Ärzte senkte der Bundesrat auf Mitte Jahr die
Labortarife. Damit sollen jährlich 200 Mio Fr. eingespart werden. Die Ärzteverbindung FMH wehrte sich gegen die Senkung und warnte vor einschneidenden Folgen für die Patienten. Das geltende Tarifmodell war seit 1994 nicht mehr angepasst worden, obwohl heute dank technischem Fortschritt Analysen automatisiert und damit kostengünstiger durchgeführt werden können. Die Schweizer Labortarife waren zudem massiv höher als im umliegenden Ausland. Diese Sparmassnahme sorgte nicht nur bei den Ärzten für sehr viel Widerstand, sondern auch bei Gesundheitspolitikern aus verschiedenen Lagern. Neben den Hausärzten forderten auch die Patienten den Bund auf, die Labortarife nicht zu senken. Ein Ärztestreik in den Kantonen Waadt und Genf gegen die höheren Labortarife war ausserdem gut befolgt worden. Wenig später folgte ein landesweiter Ärzteprotest, bei dem viele Hausärzte ihre Praxen für einige Stunden schlossen und zu Manifestationen in die Kantonshauptstädte zogen
[50].
Weitere Sparvorschläge kamen von den Gesundheitsdirektoren der Kantone. Diese wollten die Einrichtung von effizienten Ärztenetzwerken forcieren. Der Anreiz, ein
Managed Care Modell zu wählen, könnte beispielsweise für gesundheitlich angeschlagene Patienten dadurch erhöht werden, dass sie keinen Selbstbehalt mehr bezahlen müssten
[51].
[43]
AB SR, 2009, S. 948 ff.
[44]
AB SR, 2009, S. 521 f.
[45]
AB NR, 2009, S. 1782 ff.
[46]
AB SR, 2009, S. 1237 ff.
[47]
AB NR, 2009, S. 526 f.
[48]
AB NR, 2009, S. 1155 ff.
[49] Presse vom 22.4. und 7.5.09.
[50]
Bund, 30.1.09;
NZZ, 20.2. und 31.3.09; Presse vom 25.3.09.
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